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Meinung

Kommentar zur Corona-Bekämpfung
Das Virus verändert sich, wir uns noch nicht

Wo muss die Maske getragen werden, wo darf sie weg? Dazu gibt es fast so viele abweichende Regelungen wie Kantone.
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Im Kanton Neuenburg muss ab Montag auch auf Weihnachtsmärkten eine Maske getragen werden. In Bern braucht es in Lokalen mit 2-G-Regel keinen Mund-Nasenschutz. In Basel-Stadt gilt Masken- und Sitzpflicht bei der Konsumation in Restaurants, Bars und Clubs. Im Jura müssen an Veranstaltungen mit mehr als 300 Personen alle eine Maske tragen, selbst wenn nur Geimpfte und Genesene zugelassen sind. Im Tessin sind die Gemeinden verantwortlich, an exponierten Orten im Freien ein Maskenobligatorium auszusprechen. An Obwaldner Schulen gilt derweil neu eine Maskenpflicht ab der 5. Klasse, im Kanton Schwyz schon ab der 1.

Es kann ein echtes Hobby daraus werden, die diversen Masken-Regeln in den Kantonen zu studieren, um damit dereinst in einer Quizsendung zu reüssieren.

Wir entwickeln uns zurück in eine Zeit, in der andere Gesetze, Masse und Münzen galten, wenn man nur einen Fluss überquerte. Was vorher erschien wie ein zurückhaltender Föderalismus, sieht in diesem Herbst aus wie eine biedermeierliche Kleinstaaterei. Das ist allerdings nur die schon für sich genommen verwirrende Lage in unserem Land: Wer eine Auslandreise plant, verbringt Stunden, wenn nicht Tage damit, die regelmässig sich ändernden Regeln in der Reisedestination abzuklären.

Zusammen gehen die Länder in der Pandemiekämpfung nicht. Wenn man heute unsere gemeinsame, zweijährige Geschichte mit dem Erreger bedenkt, diesen fatalen Tanz in Wellen und Varianten, so sieht man eine Reihe von Bäumen, aber keinen Wald. Eine Parade von Pixeln, nicht das Bild.

Immer, wenn das Ende der Pandemie erhofft wurde, war es nur die Schwächung einer Variante, weitere folgten. Warum sollte sich das ändern, wenn der Ansatz der Bekämpfung sich nicht ändert? Das ist die bittere Lehre der neuesten, vermutlich nicht letzten Variante: Auch wenn die Medizin, die Pflege und die Forschung ihre Erfolge erzielen, wird es gegen virale Bedrohungen nicht ausreichen, solange nicht Institutionen und Verfahren entwickelt werden, um dieser neuen Gefahr, dieser neuen Zeit gerecht zu werden.

Was wäre gewesen, hätte die südafrikanische Regierung Omikron geheim gehalten?

Eine Pandemie ist ein Ereignis, das seine Epoche prägt. Und wenn man auf der Höhe der Zeit sein will, muss man Mittel und Wege finden, dieser Herausforderung angemessen zu begegnen. Nach der Schlacht von Solferino wurde das Rote Kreuz, nach dem Ersten Weltkrieg der Völkerbund und nach 1945 die Vereinten Nationen gegründet. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wies den Weg aus dem Kalten Krieg. Auch das pandemische Zeitalter erfordert eine neue Qualität in der internationalen Zusammenarbeit, in der Informationsübermittlung, Transparenz und noch andere Massnahmen, die den Regierenden in vielen, gerade autoritären oder paranoiden Ländern ein Gräuel sind.

Was wäre eigentlich gewesen, wenn sich die südafrikanische Regierung aus Furcht vor wirtschaftlichen Konsequenzen nicht getraut hätte, der Welt etwas über Omikron zu sagen? Diese überraschende Offenheit war wohltuend. Sie war – vor diesem Hintergrund – politisch heldenhaft.

Zu besiegen wäre die Pandemie mit Vertrauen – in Regierungen, Wissenschaft und zueinander.


Wenn wir so ein Virus als Person denken, dann darf es sich, so wie die Dinge derzeit laufen, eingeladen fühlen, zu gedeihen und sich zu vermehren. Seine Bekämpfung wäre nur dann erfolgreich, wenn Instrumente zur Anwendung kämen, die seit Jahrzehnten völlig unterentwickelt sind. Die internationale Kooperation ist eines davon, sie führt ein politisches Schattendasein. Man schwelgt in wirtschaftlicher Globalisierung, aber diese Entwicklung auch diplomatisch und politisch zu begleiten, wurde aus ideologischen Gründen versäumt.

Ein weiterer Aspekt ist die Planung: Eine gerade veröffentlichte Studie der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health zur weltweiten Gesundheitsvorsorge ergab einen krassen Mangel an langfristiger Planung im Hinblick auf diese und andere mögliche Krisen. Doch Planung, Vorsorge, Risikoabschätzung – diese Disziplinen gerieten nach dem Fall der Mauer unter verschärften Sozialismusverdacht.

Aber die Studie identifiziert noch einen umfassenderen, einen kulturellen Grund, der dem Virus die Verbreitung erleichtert: den Mangel an Vertrauen in einer Gesellschaft. Die USA gehören zu den Ländern mit den weltweit mächtigsten Ressourcen, um einer Pandemie zu begegnen. Zugleich wiesen sie aber die meisten Infektionen und Todesfälle auf – weil die Wähler nicht der Regierung, die Regierung nicht der Wissenschaft und die Bürger sich nicht untereinander vertrauen. Was nutzt einer Schulklasse ein Feuermelder, der korrekt funktioniert, dessen Alarmsignal vom Lehrer aber als irrelevantes Gebimmel verhöhnt wird?


Müssen Neid und Misstrauen die sozialen Folgekosten des digitalen Erfolgs sein?

Es ist auffällig, dass reiche und gebildete Gesellschaften, die sich im Vergleich zu ihren Vorfahren komfortabler und friedlicher Umstände erfreuen, so sehr mit einer hasserfüllten, sich zunehmend radikalisierenden Minderheit zu kämpfen haben. Man darf die Hypothese formulieren, dass, wie es schon Frank Schirrmacher in seinem Buch «Ego» vermutete, der digitale Kapitalismus auf die Logik der nichtkooperativen Spieltheorie setzt, dass Geiz, Neid und umfassendes Misstrauen die sozialen Folgekosten des digitalen Erfolgs sind. Diese hochmobile, aber intransparente, diese wirtschaftlich blitzschnelle, aber politisch lahme Ordnung unserer globalen Gegenwart macht es Viren leicht.

Wir bräuchten eine internationale, konzertierte Aktion gegen das Virus, befürchten stattdessen dieser Tage eine militärische Eskalation an zwei Kriegsschauplätzen, der Ukraine und Taiwan. Diese stets improvisierte, stets überfordernde Taktik einer nationalen, oft nur regionalen oder gar kommunalen Bekämpfung eines weltweit aktiven Erregers schützt etwa so gut wie eine morsche, alte Tür.

Mit guten Videos zum richtigen Händewaschen ist es nicht getan: Wir können auf die nächste Variante warten und dann auf die folgende, den Tango aus Lockern und Lockdown weiter tanzen, oder jetzt damit beginnen, wozu das virale Zeitalter uns eh zwingen wird: eine echte Weltinnenpolitik ins Werk zu setzen, den Nationalstaat zu überwinden, Despoten zu sanktionieren, den digitalen Wahnsinn zu regulieren und an der Stärkung von Vertrauen zu arbeiten. Unsere Probleme sind nicht neu, wir kannten sie. Das virale Zeitalter macht ihre Lösung nun zu einer Frage von Leben und Tod.

In einer früheren Version dieses Artikels hiess es, das Rote Kreuz sei nach dem Krimkrieg gegründet worden. Das ist falsch. Das Rote Kreuz wurde nach der Schlacht von Solferino gegründet.