1,5-Grad-Ziel ausser ReichweiteDie globale Erwärmung ist korrigierbar. Entscheidend wird das Tempo sein
Viele Klimaforscher sind überzeugt, dass das Pariser Klimaziel überschritten wird. Die Folgen? Das hängt davon ab, wie schnell wir die Temperatur wieder senken.

- Die Erdoberfläche hat sich erstmals um mehr als 1,5 Grad erwärmt.
- Ob damit das Pariser Klimaziel bereits überschritten ist, wird sich aber erst in zehn Jahren zeigen.
- Der Mensch hat die Möglichkeit, die Erwärmung zu korrigieren. Es braucht dazu aber Jahrzehnte.
Die Erdoberfläche hat sich im vergangenen Jahr mehr als 1,5 Grad erwärmt. Damit ist die globale Durchschnittstemperatur erstmals über den Schwellenwert gestiegen, der im Pariser Klimaabkommen festgelegt ist und möglichst nicht überschritten werden soll.
Die aktuellen Daten des europäischen Klimadienstes Copernicus und von drei weiteren unabhängigen Institutionen belegen zwar noch nicht, dass die Erwärmung in den nächsten Jahren auf diesem Niveau bleibt. «Man muss mindestens einen Durchschnitt über 10 Jahre, besser noch mehr als 20 oder 30 Jahre betrachten», sagt ETH-Forscher Reto Knutti.
Dennoch sind viele Klimaforschende nicht mehr so zurückhaltend. Auch Reto Knutti sagt: «Wir werden 1,5 Grad im nächsten Jahrzehnt wahrscheinlich auch im Durchschnitt überschreiten.» Seine Kollegin, die ETH-Forscherin Sonia Seneviratne, formuliert es zwar noch vorsichtig, aber zuversichtlich klingt das nicht: «Die globalen CO₂-Emissionen haben auch 2024 nochmals zugenommen, es wird immer schwieriger, das Ziel einer Klimastabilisierung auf 1,5 Grad zu behalten.»
In fast allen Klimaszenarien des Weltklimarates IPCC wird die 1,5-Grad-Marke schon in den frühen 2030er-Jahren erreicht, selbst wenn die globalen Treibhausgasemissionen noch in den 2020er-Jahren sinken würden. Die aktuellen Daten zeigen, dass die Szenarien offensichtlich allmählich Realität werden.
Die 192 Vertragsstaaten haben 2015 im Pariser Klimaabkommen zwei Klimaziele festgeschrieben: Das erste ist, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Das zweite, die Staaten sollten sich bemühen, den Temperaturanstieg unter 1,5 Grad zu halten, um die schlimmsten absehbaren Folgen des Klimawandels zu verhindern.
Jahrelang orientierte sich die Politik an der ersten Temperaturgrenze, doch seit der Weltklimarat (IPCC) die Folgen einer 1,5-Grad-Erwärmung aufzeigte, ist diese Schwelle ins Zentrum der Wissenschaft und auch der Politik gerückt.
Eine Erwärmung lässt sich korrigieren
«Das Überschreiten dieses Niveaus ist für die Gesellschaft gefährlich. Jedes Zehntelgrad zusätzliche globale Erwärmung bedeutet mehr Risiken und negative Folgen für die Gesellschaft und die Ökosysteme», sagt Sonia Seneviratne. Die Folgen des Klimawandels sind heute schon sichtbar. Die IPCC-Berichte zeigen: Der Einfluss des Menschen ist noch deutlicher geworden, die Wetterextreme nehmen zu.
Reto Knutti warnt davor, dass nun eine Mentalität in der Gesellschaft aufkommen könnte, es lasse sich ohnehin nichts mehr machen. «Wenn wir die 1,5-Grad-Schwelle überschreiten, bedeutet das nicht, dass es von heute auf morgen viel schlimmer wird», sagt der Klimaforscher. Eine Erwärmung lässt sich auch wieder korrigieren. Dazu müsste man technisch CO₂ aus der Atmosphäre entfernen. Die Fachleute sprechen in diesem Fall von negativen Emissionen.
Die Frage, die sich dabei stellt, ist jedoch: Wie schnell lässt sich eine Korrektur realisieren. «Wenn wir einmal auf 1,7 Grad Erwärmung sind, dann wird es 50 Jahre dauern, bis wir die Temperatur wieder nach unten korrigieren können», sagt Knutti. Das Klimasystem sei träge, die technisch zu entfernenden Emissionen seien gigantisch, und die Erfahrung zeige, dass sich Massnahmen politisch und gesellschaftlich nicht sehr schnell durchsetzen liessen.
Weniger extreme Hitzetage bei Korrektur
Sinkt die Temperatur wieder, so zeigt zum Beispiel eine Studie des europäischen Projekts Provide, wird die Zahl extremer Hitzeereignisse an den meisten Orten im Durchschnitt wieder abnehmen. Das lässt sich zum Beispiel anhand der indischen Stadt Chennai veranschaulichen: Die Stadt ist eine von 140 Orten, für welche die Forschenden Hitzebelastungsrisiken modelliert haben.
Unter der aktuellen Klimapolitik, die nach heutiger Schätzung zu einer Erwärmung von 3 Grad bis zum Jahr 2100 führen wird, würden die Tage mit extremer Hitze praktisch ungebremst zunehmen, schreiben Forscher des Projekts Provide in einem Beitrag für den britischen Thinktank Carbonbrief. Bis Ende des Jahrhunderts sei damit zu rechnen, dass in der Stadt während der Hälfte aller Tage pro Jahr extreme Hitze vorherrsche. Würde die globale Temperatur hingegen nur geringfügig die 1,5-Grad-Grenze überschreiten, gäbe es deutlich weniger extreme Hitzeereignisse.
Es gibt jedoch auch Entwicklungen, bei denen nach einer Überschreitung der Erwärmungsschwelle von 1,5 Grad keine Korrekturen mehr möglich sind: Dazu gehören zum Beispiel Veränderungen der Artenvielfalt, wie es in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag im Fachmagazin «Nature» heisst. Auch der Meeresspiegel werde noch Jahrhunderte bis Jahrtausende weiter ansteigen, selbst wenn die Temperaturen wieder sinken würden. Die Forschenden gehen zudem davon aus, dass der Permafrost in den nördlichen Breiten weiter auftaut, was wiederum zu einer Freisetzung der Treibhausgase CO₂ und Methan führt.
«Jede weitere Tonne CO₂ ist ein unbekanntes Risiko»
«Überschreiten wir die Pariser Klimagrenzen, seien es 1,5 oder 2 Grad, gehen wir auf jeden Fall ein hohes Risiko ein», sagt Reto Knutti. Das heisst: Auch wenn die Möglichkeit besteht, die Temperaturen wieder zu senken, so muss während Jahrzehnten mit dem Schlimmsten gerechnet werden.
Das hat Auswirkungen, wie wir uns in Zukunft an die Folgen des Klimawandels anpassen. Infrastrukturen, die für länger als 50 Jahre gebaut werden, wie zum Beispiel Wasserkraftwerke oder Hochwasserdämme, müssen noch stärker gegen Extremereignisse gewappnet sein, auch wenn eine Überschreitung rückgängig gemacht werden kann.
Für ETH-Klimaforscher Reto Knutti gilt denn auch: «Jede weitere Tonne CO₂, die in den nächsten Jahrzehnten ausgestossen wird und zu einer Überschreitung der Erwärmungsschwellen führt, ist ein unbekanntes Risiko und eine finanzielle Belastung für die nächste Generation.» Das widerspreche den Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung.
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