Grosse Ozean-RechercheDas erschöpfte Meer
Ohne das Meer wäre die Erde nicht bewohnbar. Es hat unsere Umweltsünden geschluckt und die Erhitzung der Atmosphäre gebremst. Nun aber kommt es an seine Grenzen.
Am Morgen des 25. Juli 2023 suchte Zach Fratto auf der Website des National Data Buoy Center nach einer Boje mit dem Namen MNBF1. Fratto ist ein dreiundvierzigjähriger Biologe aus Key Largo, Florida, die Seite, die er anklickte, zeigt 1343 Bojen, die überall auf der Welt die Temperatur des Oberflächenwassers messen. Die Boje MNBF1 liegt in der Manatee Bay, einer Bucht an der Südspitze Floridas.
Es gab einen bestimmten Grund, warum sich Zach Fratto, der äusserlich ein wenig an den Schauspieler Charlie Sheen erinnert, ausgerechnet für diese Boje interessierte: Er war von aufgeregten Medienanfragen geweckt worden. Am Vortag hatte die Boje eine Wassertemperatur von 38,4 Grad Celsius angezeigt – die weltweit heisseste je direkt gemessene Meerestemperatur. «Aber das stimmte nicht», sagt uns Zach Fratto in einem Zoomgespräch. «Wir sind der Sache dann nämlich nachgegangen und fanden einen Eintrag aus dem Jahr 2017. Da war das Wasser in der Manatee Bay sogar noch 0,4 Grad wärmer.»
38,8 Grad. Das ist Badewannentemperatur.
«Ich war nicht überrascht», sagt Zach Fratto, «aber ich war beunruhigt. Dass die Ozeane immer wärmer werden, sehen wir hier seit Jahren. Aber vor fünfzehn Jahren hatten wir vielleicht einen oder zwei Tage im Jahr, an denen das Wasser über 35 Grad warm wurde. Seit zwei Jahren jedoch», er macht eine Pause, schaut direkt in die Kamera und setzt noch einmal an, «seit zwei Jahren kommen solche Tage immer häufiger vor.»
38,4 Grad. 38,8 Grad. Das sind Extremwerte, denn die Boje in der Manatee Bay befindet sich in sehr seichtem Gewässer, wie uns Fratto erklärt. Aber es ist ein Extremwert, der für das grosse Ganze steht. Das verstehen wir, als wir nach dem Gespräch auf die Website Climate Reanalyzer stossen, auf der man in der Rubrik «Daily Sea Surface Temperature» die Temperaturentwicklung an der Oberfläche der Weltmeere verfolgen kann. Während der Recherche für diese Geschichte, die sich über Monate hinzieht, konsultieren wir die Seite immer öfter, irgendwann wird es zum morgendlichen Ritual.
Zu sagen, dass die Weltmeere Fieber hätten, wie es letztes Jahr einige Medien taten, ist allerdings nicht ganz richtig. Fieber kann man senken, den Temperaturanstieg im Meer nicht.
Aber warum erwärmt sich das Meer? Und warum ist das ein Problem?
«Ich bezweifle, dass die grossen Rätsel des Meeres jemals völlig gelöst werden. Ich hege sogar die Hoffnung, dass sie es nicht werden.»
Dieser Satz stammt aus einer Rede der grossen Biologin, Umweltvordenkerin und Meeresliebhaberin Rachel Carson. Sie formulierte hier etwas, das viele kennen, die mit den Ozeanen arbeiten: Die Rätselhaftigkeit der Meere hat etwas Verlockendes, aber sie mahnt zugleich zu Demut. Wir werden dem Meer nie alle Geheimnisse entlocken.
Das meiste ist tatsächlich bis heute ein Rätsel. Allein schon die Frage nach den Anfängen. Die Erde ist der einzige Planet in unserem Sonnensystem, auf dem es dauerhaft flüssiges Wasser gibt. Warum?
Zwei Theorien, die unterschiedlicher nicht sein könnten, gibt es über die Entstehung des Meeres: Stammt das Meer aus dem Inneren der Erde? Oder ist es ausserirdischen Ursprungs?
Hier die erste Theorie: Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren formten sich aus einer heissen Wolke aus Gas und Staubpartikeln Klumpen, die miteinander kollidierten, wodurch sich die Erde bildete. Und möglicherweise war Wasser schon von Beginn an in diesem Material enthalten. Aus den vulkanischen Gasen bildeten sich Regenwolken, die in einer gigantischen Sintflut abregneten: So entstanden die Meere.
Die andere Theorie besagt, dass das Wasser durch Eisasteroiden auf die Erde gebracht wurde.
Es sind wilde Theorien, vielleicht stimmen beide, vielleicht keine. Was wir mit Sicherheit wissen: Im Meer begann vor ungefähr vier Milliarden Jahren alles. Aus toter Materie wurde lebendige. Niemand weiss, wie genau das geschah, nur dass es geschah, und dass es im Meer stattfand.
Es ist das Meer, das überhaupt erst die Voraussetzung für die Entwicklung unseres Lebens schaffte. «Es ist das Meer, das unseren blauen Planeten zu dem gemacht hat, was er ist, und im Meer erkennen wir eine Verletzlichkeit, die auch unsere eigene Verletzlichkeit ist»: So steht es in «Die Chronistin der Meere» des schwedischen Schriftstellers Patrik Svensson. Es ist das Buch, das wir während dieser Recherche immer und immer wieder hervornehmen, weil Svensson auch noch Worte findet, wenn wir sprachlos sind angesichts der Schreckensmeldungen, die wir zusammentragen.
Davon, dass die Verletzlichkeit des Meeres auch unsere eigene ist, handelt diese Geschichte.
Es geht um die Erwärmung der Weltmeere durch den Klimawandel. Und um einige ziemlich beunruhigende Nachrichten. Die vielleicht beunruhigendste: dass sich die Ozeane noch viele Jahrhunderte lang weiter erhitzen werden, selbst wenn wir die Vorgaben des Pariser Klimaabkommens erreichen. Das Pariser Klimaabkommen stammt aus dem Jahr 2015, völkerrechtlich verbindlich setzte sich die Welt damals ein Ziel: die Erderwärmung auf möglichst 1,5 Grad Celsius, sicher aber deutlich unter 2 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu beschränken. Um das zu erreichen, soll bis 2050 nicht mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre ausgestossen werden, als durch natürliche und technische Speicher aufgenommen werden kann – das sogenannte Netto-null-Ziel.
Doch selbst wenn wir das schaffen, wird sich das Meer weiter erwärmen. Warum genau, dazu kommen wir noch. Für den Moment nur dies: Der Meeresspiegel wird weiter ansteigen, und das stellt die Menschheit vor gewaltige Herausforderungen.
Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Wir können den Ozeanen helfen. Und es gibt Menschen, die das schon tun. Ziemlich erfolgreich. Auch davon handelt dieser Text.
Wenn man das Büro von Thomas Frölicher betritt, würde man nicht denken, dass hier einer arbeitet, der die Ozeane so gut kennt wie wenige andere. Beim Blick aus dem Fenster sieht man nicht das Meer, sondern die Alpen. Und das einzige Bild im Raum, das einen Ozean zeigt, sieht man auch in Millionen anderer Büros: Es ist der Standard-Bildschirmhintergrund von Frölichers Mac.
Der Solothurner ist in vielerlei Hinsicht eine Besonderheit im Kreis der internationalen Ozeanforschung: Aufgewachsen in Bellach in der Nähe von Solothurn, fuhr er als Kind mit seinen Eltern zwar ans Mittelmeer in die Ferien, und heute nimmt er als Hobbyschwimmer gelegentlich an Seeüberquerungen teil. Irgendeine romantische Geschichte, die ihn zu diesem Fach geführt hat, könne er aber leider nicht erzählen, sagt er fast entschuldigend, während unter seinem Bürofenster unüberhörbar ein Zug in den Bahnhof Bern einfährt.
Frölichers Zugang: Er rechnet fürs Leben gern und liebt die Natur. Und merkt irgendwann, dass es für einen Mathematik- und Physiknerd wie ihn kaum ein spannenderes Rätsel gibt als das, vor das uns das Meer stellt.
Wir stellen Frölicher also die beiden Fragen, die wir im Lauf der Recherche allen Forschern stellen: Warum erwärmt sich das Meer? Und warum ist das ein Problem?
Frölicher, dessen Forschungsschwerpunkt auf Extremereignissen in den Ozeanen liegt, schaut kurz, als hätten wir gefragt, warum Wasser nass ist, dann öffnet er auf dem Computer eine Präsentation mit einer Reihe komplexer Grafiken. Es geht um Ekmandivergenz, thermohaline Zirkulation und Sauerstoffminimumzonen.
Wir fühlen uns zurückversetzt in den Schulunterricht, im Kopf der mahnende Ton der Lehrerin: «Das ist alles prüfungsrelevant.» Das hier, ahnen wir bald, ist überlebensrelevant.
Beginnen wir mit der ersten Frage: Warum erwärmt sich das Meer?
«Wegen uns Menschen», sagt Thomas Frölicher. «Das ist die kurze Antwort.»
Die längere: Es gibt unnatürliche – also menschengemachte – und natürliche Klimaschwankungen. Derzeit haben wir sogenannte El-Niño-Konditionen, was zu schwächeren Passatwinden führt, die wiederum die Meeresoberfläche weniger durchmischen und zeitgleich weniger Saharastaub über den Ozean bringt. Saharastaub? Ja, der reflektiere die Sonnenstrahlung wieder zurück ins Weltall, erklärt Frölicher. Wenn weniger Staub in der Atmosphäre ist, kann mehr Sonnenstrahlung auf die Oberfläche des Ozeans gelangen und dadurch den Ozean erhitzen. Gleichzeitig führt die reduzierte Durchmischung dazu, dass weniger kaltes Tiefenwasser an die Oberfläche gelangt, was die Erwärmung der Ozeane weiter verstärkt. Das ist die natürliche Klimaschwankung. Wichtiger aber ist die menschengemachte.
Das Meer, so Frölicher, hat uns Menschen über die Jahrhunderte viel gegeben. Es hat uns ernährt, es hat Entdeckungsreisen möglich gemacht, ohne Meer wäre der Welthandel nicht denkbar, und Genpools in der Tiefsee sind für medizinische und pharmazeutische Zwecke interessant. Vor allem aber war das Meer unsere Müllhalde: Plastikabfälle, ausgelaufene Öldampfer, Düngemittel. Der meiste Abfall, den wir an Land produzieren, landet irgendwann im Meer. Aber das ist noch nicht mal das Schlimmste, was wir den Ozeanen – und damit auch uns selbst – antun. Das Meer ist nämlich noch für eine ganz andere Form von Abfall unsere Müllhalde, sozusagen für den schlechtesten aller Abfälle: CO₂. Das Meer ist unsere CO₂-Deponie.
CO₂, also Kohlenstoffdioxid, ist das Gas, das Menschen und Tiere ausatmen, nachdem sie Sauerstoff eingeatmet haben. Bäume und andere Pflanzen wiederum nehmen CO₂ auf und geben Sauerstoff ab. Es ist ein genialer Tausch. Aber weil wir immer mehr CO₂ produzieren – etwa wenn wir Erdöl, Kohle und Erdgas verbrennen – und gleichzeitig Wälder abholzen, ist der Kreislauf aus dem Gleichgewicht geraten.
«Konkret muss man sich das so vorstellen», doziert Professor Frölicher: Je höher der CO₂-Gehalt in der Atmosphäre ist, desto undurchlässiger wird die Lufthülle der Erde für langwellige Strahlung, wodurch die Wärme nicht ins Weltall entweichen kann und stattdessen die Erde aufheizt. Die entscheidende Masseinheit dafür ist ppm, das steht für parts per million und beschreibt den Anteil eines Moleküls im Verhältnis zu seiner Umgebung. Zu Beginn des Industriezeitalters betrug der Wert für CO₂ in der Luft 280. Auf eine Million Moleküle kamen demnach 280 CO₂-Moleküle. Dann kam die Industrialisierung. Am Anfang nahm das CO₂ nur leicht zu, ab Mitte des 20. Jahrhunderts aber immer schneller. Heute sind wir bei 420 ppm. «Und wenn die Ozeane nicht wären», sagt Frölicher, «wären wir bereits bei etwa 500 ppm.»
Klingt erst mal nicht wirklich dramatisch. Aber im Laufe unserer Recherche hören wir unterschiedlichste Forscherinnen immer wieder die gleiche Formulierung benutzen: «Der Ozean», sagen sie, «rettet uns den Arsch.» Weil er das CO₂ mittels eines komplexen chemischen Prozesses aus der Atmosphäre absorbiert. Etwa dreissig Prozent des vom Menschen freigesetzten Kohlendioxids hat er aufgenommen (der Rest bleibt in der Atmosphäre oder wird von der Landbiosphäre aufgenommen).
Und das ist noch nicht alles, was das Meer für unser Klima leistet: Das Meer entzieht der Luft Wärme, über 90 Prozent der überschüssigen Wärme speichert er. «Ohne die grosse Wärmeaufnahmekapazität der Ozeane», sagt Frölicher, «wäre die Erde wohl unbewohnbar.»
Dass das Meer der Atmosphäre so viel Wärme entziehen kann, hängt damit zusammen, dass sich Wasser langsamer erwärmt als Luft. Das Meer kann grosse Mengen Wärme aufnehmen, ohne dabei selbst deutlich wärmer zu werden. Aber dafür speichert Wasser Wärme besser, während Luft rascher abkühlt. Man kennt es von den Abenden am Mittelmeer, wenn die Luft erfrischt, aber das Meer noch warm ist. Das heisst, die Wärme, die vom Meer aufgenommen wird, verschwindet nicht, sie wird lediglich zwischengespeichert und von der sogenannten thermohalinen Zirkulation mit einer Art Förderband durch alle grossen Ozeanbecken transportiert. Und irgendwo sinkt das Oberflächenwasser dann ab und verschwindet in der Tiefsee.
Es ist ein unglaublicher Vorgang. Und ein unglaublich langsamer: Ein Wassertropfen, sagt Frölicher, der ins Meer fällt, braucht mehrere hundert bis tausend Jahre, bis er wieder verdunstet und in die Atmosphäre gelangt. Der eigentliche Punkt dieser arg verkürzt wiedergegebenen Erklärung von Thomas Frölicher ist dieser: Wir lassen unsere Sünden im Meer verschwinden und glauben, sie seien so für immer vergessen. Aber das stimmt nicht. Eines Tages werden sie wieder auftauchen.
Womit wir bei unserer zweiten Frage wären: Warum ist die Erwärmung der Ozeane ein Problem?
Jetzt senkt Frölicher seine Stimme, als weihe er uns in ein Geheimnis ein: «Wenn das Meer wärmer wird, verändern sich einige ziemlich wichtige Eigenschaften des Wassers.» Hier die wichtigsten sechs:
Warmes Wasser dehnt sich aus. Das heisst, je wärmer das Wasser wird, desto höher wird der Meeresspiegel. Seit dem Jahr 1900 ist die mittlere Oberflächentemperatur der Meere um 0,88 Grad Celsius gestiegen, der mittlere Meeresspiegel um 20 Zentimeter. Die Anzahl mariner Hitzewellen hat sich seit 1982 verdoppelt. Das hat Frölicher in einer «Nature»-Studie im Jahr 2018 gezeigt.
Warmes Wasser speichert weniger CO₂ und nimmt weniger Wärme auf. Und je weniger Wärme und CO₂ das Meer der Luft entziehen kann, desto wärmer wird es auf der Erde.
Warmes Wasser verlangsamt die thermohaline Zirkulation. Die Ozeane werden weniger durchmischt, und das CO₂ und die Wärme sinken nicht mehr so gut in die Tiefe, sondern bleiben an der Oberfläche. Dadurch kann das Meer – wie ein vollgesogener Schwamm – weniger CO₂ aufnehmen, denn dieser Austausch mit der Atmosphäre geschieht an der Oberfläche, wo das Wasser auf die Luft trifft.
Warmes Wasser verdunstet. Und dadurch bilden sich Wolken. Die abregnen. Die Zunahme der Unwetter und des Starkregens, die wir dieses Jahr in Europa erleben? Hat ziemlich sicher damit zu tun.
Wärmeres Wasser führt zu Sauerstoffverlust. Steigt die Temperatur des Oberflächenwassers, kann weniger Sauerstoff im Meer gelöst werden. Zudem verlangsamt sich wie erwähnt die Durchmischung des Wassers, weshalb weniger Sauerstoff in die Tiefe transportiert wird. Und je weniger Sauerstoff das Meer enthält, desto weniger Leben ist dort möglich.
Mehr CO₂ im Wasser führt zu Versauerung. Der pH-Wert der Ozeane ist seit der Industrialisierung von ungefähr 8,16 auf 8,05 gesunken. Das klingt eigentlich nach nichts. Aber die pH-Skala ist logarithmisch, das heisst, ein Rückgang um den Wert 0,1 bedeutet, dass das Wasser um 30 Prozent saurer ist. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, kann der pH-Wert bis Ende dieses Jahrhunderts auf 7,8 gesunken sein. Es wäre der Tod vieler Lebewesen im Meer.
Frölicher atmet durch. Wir auch. Und hoffen, dass wir nun alle Hiobsbotschaften durchhaben. Aber es kommt noch eine, das absolute Worst-Case-Szenario, bei dem sogar der nüchterne Frölicher ein Wort wie «Sorgen» in den Mund nimmt: der Zusammenbruch der Atlantischen Umwälzströmung, bekannt unter dem englischen Akronym Amoc.
Blickt man an einem schönen Strandtag aufs Meer, könnte man denken, dass die Welt nirgendwo ruhiger ist. Die Wasseroberfläche schimmert beinahe regungslos im Sonnenlicht, und darunter, so stellt man es sich vor, ist nur stille Dunkelheit. Aber wir wissen natürlich, dass es anders ist. Das Meer ist ständig in Bewegung.
«Es schläft oder erwacht vielleicht nicht, aber es bewegt sich, ist aktiv und so etwas wie ruhend, mit den kraftvollsten und majestätischsten Bewegungen, die die Erde überhaupt vorweisen kann», schreibt unser Retter in der Sprachlosigkeit, Patrik Svensson. Die grossen Meeresströmungen, die sowohl an der Oberfläche als auch in der Tiefe über den Planeten zirkulieren, bezeichnet er als «riesigen rhythmischen Blutkreislauf, im Takt mit der Erdumdrehung».
Die Amoc ist Teil dieses Blutkreislaufes, der sich über den Atlantik, vom Südpolarmeer bis in den hohen Norden erstreckt. Er befördert gigantische Wassermengen um die Welt und bringt den Hauptteil der Wärme in den nördlichen Atlantik. Noch. Denn die Amoc könnte «kippen».
Kipppunkte, davon ist in der Klimaforschung ständig die Rede. Es sind Momente, in denen eine kleine Änderung einen grossen Unterschied macht und ein System unwiderruflich verändert wird.
Frölicher erklärt es uns anhand eines Jenga-Spiels: Man zieht einen Klotz aus dem Turm und legt ihn zuoberst hin. Am Anfang passiert nichts. Man nimmt noch einen Klotz. Stapelt ihn zuoberst hin. Wieder geschieht nichts. Aber die gleiche Bewegung mit der gleichen Energie wird irgendwann den Turm kollabieren lassen. Lange geschieht also nichts, man denkt, es kann ja nichts passieren, und dann kollabiert das ganze System.
In unserem Klimasystem hat man 2008 neun Kipppunkte identifiziert, die sich gegenseitig verstärken oder sogar auslösen können. Der grönländische Eisschild zum Beispiel schrumpft. Vielleicht hat er seinen Kipppunkt bereits überschritten, das hiesse, er würde immer weiter schmelzen, egal was passiert. Dadurch gelangt viel Frischwasser in den Nordatlantik, und dieses Frischwasser, das kein Salz enthält, könnte die Atlantischen Umwälzströmung, zu der auch der Golfstrom gehört, «kippen» lassen …
… und dann?, fragen wir besorgt.
«Wenn die Amoc kippt, wird es kälter in Europa», sagt Frölicher.
Good news!, rufen wir und klatschen um ein Haar begeistert in die Hände. Frölicher schüttelt den Kopf.
«Es wird sehr viel kälter im Norden und sehr viel heisser im Süden.» Und die Konsequenzen wären verheerend: Es gäbe mehr Stürme in Europa und noch weniger Sauerstoff in den Ozeanen, das gesamte Klimasystem der Erde würde beeinflusst werden.
«Die grosse Frage lautet: Wann wird die Amoc kippen?», sagt Frölicher. Und beantwortet die Frage gleich selbst im Tonfall eines Politikers, der Massenpanik verhindern will: «Es besteht mittleres Vertrauen, dass es bis 2100 nicht zu einem Zusammenbruch kommt, aber was natürlich schon interessant ist: Man forscht schon dreissig, vierzig Jahre an dem Thema herum, und man weiss immer noch nicht, wo genau der Kipppunkt ist. Wann die Amoc wirklich zusammenbricht.»
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum Forscherinnen und Forscher einen Zusammenbruch der Amoc für durchaus realistisch halten, unabhängig von der Frage, ob sie pessimistisch oder zuversichtlich gestimmt sind: Sie ist schon mal zusammengebrochen.
Dass man das weiss, verdanken wir interessanterweise ebenfalls einem Berner. Nicht Thomas Frölicher, sondern seinem Vorvorgänger auf dem Lehrstuhl für Klima- und Umweltphysik: Hans Oeschger, gestorben 1998. Oeschger war ein Pionier der Klimaforschung, so wagemutig und neudenkend, dass eine ganze Reihe von kleinen bis sehr grossen Dingen nach ihm benannt worden sind: eine Auszeichnung der Europäischen Gesellschaft für Geographie (Hans-Oeschger-Medaille), das Kompetenzzentrum für Klimaforschung der Universität Bern (Oeschger-Zentrum), ein Kliff in der Westantarktis (Oeschger Bluff). Und sogar ein «Ereignis». Hans Oeschgers für die Klimaforschung wichtigste Entdeckung ist nämlich ein Vorkommnis, das heute als Dansgaard-Oeschger-Ereignis bekannt ist.
Zusammen mit seinem dänischen Kollegen Willi Dansgaard stellte er bei der Untersuchung von Eisbohrkernen aus dem grönländischen Eisschild etwas fest, das die Klimaforschung auf den Kopf stellte. Bis dahin dachte man, dass sich das Klima nur in kleinen, langsamen Schritten verändert, weshalb man davon ausging, dass die Menschheit stets genug Zeit zur Anpassung haben würde, egal was kommt. Aber die beiden konnten feststellen, dass Klimaveränderungen nicht eine Sache von Jahrhunderten sind, sondern von Jahrzehnten.
Einen solchen plötzlichen Fieberschub nennt man Dansgaard-Oeschger-Ereignis. Zuletzt trat ein solches während der Eiszeit vor mehr als 20’000 Jahren auf, als die Temperatur auf Grönland plötzlich anstieg. Das Abschmelzen von Gletschereis führte zu enormen Mengen an Süsswasser im Nordatlantik, die den Salzgehalt veränderten. Das wiederum verändert die Dichte des Wassers und damit seine Fähigkeit, in die Tiefe zu sinken. Und dadurch wiederum kam es zu einer Abschwächung der Amoc. Als die Amoc schliesslich wieder stärker wurde, führte dies zu einer sehr raschen Erwärmung.
Die Forscherinnen und Forscher, die wir treffen, sprechen über Oeschger voller Ehrfurcht, Frölicher reagiert sogar etwas verlegen: «Ich habe immer ein bisschen Respekt, wenn ich daran denke, dass ich einer seiner Nachfolger bin. Das sind Riesenfussspuren, die er hinterlassen hat.»
Man weiss also, dass die Amoc kippen kann, aber man weiss noch immer nicht, wo dieser Kipppunkt genau liegt. «Das ist wahnsinnig frustrierend», sagt Thomas Frölicher. Und nach einer kurzen Pause: «Und ziemlich gefährlich.»
Frölicher ist einer der Hauptautoren des Sonderberichts über den Ozean und die Kryosphäre des Weltklimarats IPCC. Beim Schreiben wurde ihm nochmals viel bewusster, wie verheerend die Folgen sind, die er gerade zu Papier brachte. «Es gab eine Riesendiskussion damals: Wie zeigen wir den Meeresspiegelanstieg im Bericht? Direkt betroffene Länder wie die kleinen Staaten in der Karibik und im Pazifik sagten, man müsse doch zeigen, wie die Welt 2300 aussehen werde. Andere Länder aber sagten: Nein, nein, man wolle das lieber nur bis ins Jahr 2100 darstellen.»
Warum?, fragen wir.
«Weil der Meeresspiegel bis 2100 nur um einen halben bis einen Meter steigen wird. Und nicht um drei bis fünf in einem pessimistischen Szenario bis 2300.»
Welche Länder waren das?
«Die Erdölexportierenden.»
Ausgerechnet jene Länder, die am stärksten für den Klimawandel verantwortlich sind, wollen am wenigsten damit zu tun haben.
Die Privatvorlesung von Professor Frölicher neigt sich dem Ende entgegen. Bevor wir uns von ihm verabschieden, gibt er uns aber noch einen Rat auf den Weg: «Wenn ihr mehr wissen wollt über die Dynamiken des Meeres, müsst ihr nach La Jolla in Kalifornien.»
Das Meer ist an seiner tiefsten Stelle tiefer, als das Land an seiner höchsten Stelle hoch ist, doch während man sich bei den genauen Massen des Mount Everest relativ sicher ist (8848,86 Meter über Meer), herrscht beim Marianengraben, einer 2500 Kilometer langen Tiefseerinne im Pazifik, immer noch Uneinigkeit. Man weiss nicht einmal mit Sicherheit, ob man die tiefste Stelle des Grabens bereits identifiziert hat. Eigentlich gilt das Challengertief als tiefste Stelle, aber es könnte auch das nicht weit davon entfernte Witjastief sein. Sicher ist nur so viel: Das Meer ist an diesen Orten etwa 11’000 Meter tief.
Der allererste Mensch dort unten war ein Schweizer. Seinen Namen kennt man, es ist Jacques Piccard, Vater des Solarflugpioniers Bertrand Piccard und Sohn des Ballonflugpioniers Auguste Piccard, der 1931 als erster Mensch die Stratosphäre erreichte. Am Morgen des 23. Januar 1960 bestieg der damals siebenunddreissigjährige Jacques Piccard das U-Boot Trieste, das er gemeinsam mit seinem Vater konstruiert hatte, und machte sich mit seinem Co-Piloten Don Walsh, einem Offizier der US-Navy, zwei Tagreisen von der Marianeninsel Guam entfernt auf den Weg nach unten.
Nach wenigen Minuten – sie waren gerade 300 Meter weit gekommen – war es vor ihrem kleinen Plexiglasfenster bereits vollkommen dunkel. Um die Batterie zu schonen, liessen sie die Scheinwerfer die meiste Zeit ausgeschaltet. Es war eng in dem kleinen U-Boot, der grosse Piccard musste sich bücken, um überhaupt Platz zu finden.
Nach zwei Stunden hatten sie erst die Hälfte des Wegs zurückgelegt, zwei Stunden in absoluter Dunkelheit und Stille. Nach drei Stunden liessen sie das sogenannte Abyssopelagial – vom altgriechischen Wort ábyssos, das so viel wie «bodenlos» bedeutet – hinter sich, wo Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschen. Nach etwas mehr als vier Stunden – sie hatten bereits das Hadopelagial erreicht, das seinen Namen vom Hades, dem Totenreich der griechischen Mythologie bekommen hat – hörten sie einen lauten Knall und spürten eine heftige Erschütterung. Piccard dachte, das U-Boot sei mit einem Seeungeheuer zusammengestossen.
Die Trieste sank weiter und erreichte nach vier Stunden und siebenundvierzig Minuten den Boden auf fast 11’000 Metern unter Meer. Als Piccard und Walsh die Scheinwerfer einschalteten, sahen sie einen etwa dreissig Zentimeter langen Plattfisch vor dem Fenster vorbeischwimmen, wobei Wissenschaftler später meinten, es könnte auch eine Seegurke gewesen sein.
Alles an dieser Reise zum tiefsten Punkt des Meeres war neu, womit aber wirklich niemand gerechnet hatte: dass es dort unten Leben gibt.
Auf dem Meeresgrund angekommen, entdeckten Piccard und Walsh aber noch etwas anderes: die Ursache für den lauten Knall knapp eine Stunde davor. Wegen des grossen Wasserdrucks hatte eine Luke am Einstiegsschacht Risse bekommen! Patrik Svensson schreibt über diesen Moment, wie Piccard sofort einen Knopf drückte und die Trieste alle Eisenkugeln abwarf, die ihr beim Abstieg geholfen hatten. Durch eine Wolke aus aufgewühltem Sand stieg das U-Boot langsam wieder zur Oberfläche auf.
«Am Grund war es so schön, friedlich und still, da kamen wir nicht auf die Idee, Angst zu haben», sagte Jacques Piccard viele Jahre später. Trotzdem kehrten weder er noch Walsh je dorthin zurück.
Tausende Menschen sind seit der Erstbesteigung 1953 auf dem Mount Everest gewesen. Hunderte Raumfahrerinnen und Raumfahrer seit dem ersten bemannten Flug 1961 im All. Aber auf dem Grund des Challengertiefs? Waren noch nicht mal dreissig.
Vielleicht, so denken wir, als wir von Piccards Reise lesen, haben wir Menschen dort unten einfach nichts verloren. «Einverstanden!», erwidert Edie Widder darauf. Aber auch: «Überhaupt nicht einverstanden!»
Die Amerikanerin Edith «Edie» Widder ist eine Legende der Ozeanforschung. Mit ihren dreiundsiebzig Jahren hat sie das Pensionsalter längst erreicht, aber daran, in den Ruhestand zu treten, denkt sie nicht einmal. Sie war noch ein Kind, als sie vor den Fidschi-Inseln zum ersten Mal mit eigenen Augen ein Korallenriff sah, da wusste sie sofort, dass sie Meeresbiologin werden will. Als sie Jahre später wegen eines missglückten medizinischen Eingriffs vorübergehend erblindete, wurde der Traum nur grösser. Denn jetzt kam noch eine zweite Faszination dazu: die für die Kraft des Lichts. Wie ist in der Tiefe des Meeres Leben möglich, wenn dort doch ewige Dunkelheit herrscht?
Während des Gesprächs mit Edie Widder fragen wir uns, ob wir je einen Menschen so begeistert über seine Arbeit haben reden hören. Wir sind zwar nur über Zoom mit ihr verbunden, aber die Zuneigung, die sie für die Unterwasserwelt – und vor allem für die unerklärlichen Lebewesen, die sich darin aufhalten – empfindet, spüren wir förmlich durch den Bildschirm hindurch.
Mehr noch als eine Legende, merken wir, ist sie eine Inspiration. Wir wollten mit ihr eigentlich über die Unerforschtheit der Ozeane sprechen, aber jetzt ertappen wir uns dabei, wie wir immer noch mehr über Biolumineszenz erfahren wollen. Das ist die Fähigkeit einiger – meist aquatischer – Lebewesen, selbst Licht zu erzeugen. Widder hat der Erforschung dieses Phänomens ihr ganzes Berufsleben gewidmet, seit sie in den Siebzigern vor der Küste Kaliforniens erstmals tiefer als 200 Meter tauchte. «Ich war umgeben von tausend Feuerwerken!», ruft sie selbst jetzt noch freudig aus. Sie könne einfach nicht aufhören, über die leuchtenden Wesen da unten nachzudenken, die uns vor so viele Fragen stellen. Zum Beispiel diese:
«Warum hat der Pelikanaal ein Leuchtorgan am Ende seines extrem langen Schwanzes? Ich kann mir nicht erklären, was er damit macht. Aber ich wüsste es gern. Macht er Yoga? Hält er sich selbst einen Köder vor den Mund?»
Sie lacht. Wir lachen mit. Und sind kurz davor, alles stehen und liegen zu lassen und uns Edie Widder bei der Erforschung dieses Rätsels anzuschliessen. Warum wir sie sprechen wollten, haben wir längst vergessen. Dann ist sie es, die uns daran erinnert, dass wir ja nicht eine Geschichte über Biolumineszenz recherchieren.
«Normalerweise wird eine Umgebung zuerst erforscht und dann ausgebeutet», sagt sie. «Im Ozean haben wir es geschafft, es umgekehrt zu machen. Wir beuten den Ozean aus, bevor wir überhaupt wissen, was in ihm drin ist. Wir kippen enorme Mengen an Müll, Plastik, Chemikalien und Nährstoffen in den Ozean, während wir gleichzeitig jeden einzelnen Fisch aus dem Wasser ziehen.»
Sie denkt kurz nach.
«Wir fischen den Boden des Meeres mit Schleppnetzen ab, die so gross sind, dass sie einen Jumbojet aufhalten könnten. Wir kratzen den Boden auf, um ein paar Fische und Krabben herauszuholen, ohne je dort unten gewesen zu sein, ohne diese Wesen je in ihrer natürlichen Umgebung beobachtet zu haben. Wir zerstören einen Garten Eden, der seit Millionen Jahren Leben ermöglicht – und der unseretwegen vielleicht viele Jahrhunderte lang kein neues Leben mehr hervorbringen wird.»
«Wir sprechen hier von einem Volumen von 300 Millionen Kubikkilometern», sagt Edie Widder weiter, «so gross ist das Meer. Und es ist erschreckend, dass wir in der Lage waren, die Temperatur und die Chemie des Meeres so stark zu verändern. Aber die Natur ist erstaunlich anpassungsfähig, ich bin mir sicher, dass es noch lange Leben auf diesem Planeten geben wird. Die Frage ist nur, ob mit oder ohne uns.»
Was müssten wir tun?, fragen wir.
Als hätte sie auf diese Frage gewartet, holt Edie Widder zum grossen Finale aus: «Ich glaube, eines unserer Probleme im Umgang mit dem Klimawandel besteht darin, dass wir immer nur vom Untergang fantasieren. Wir sollten uns lieber auf unsere Stärken besinnen, anstatt die Todestrommel zu schlagen. Wir sind enorm geübte Entdecker!»
Es heisst, über das Meer wisse man weniger als über das Weltall, werfen wir ein. Warum wird der Meeresboden so wenig erforscht? Ist es zu teuer, dorthin zu gelangen?
«Eindeutig nicht. Wenn wir Milliarden Dollar für die Reise zum Mars ausgeben können, dann ist Geld nicht das Problem. Die Tiefseeforschung war schon immer chronisch unterfinanziert», antwortet Widder. «Wir sollten uns Wissen über die Ozeane aneignen, anstatt Milliardäre zu bewundern, die ohne ersichtlichen Grund ins All fliegen. Es macht einfach keinen Sinn, irgendeinen toten Felsen im All zu erforschen, wenn wir nicht einmal die Anfänge des Lebens auf unserem eigenen Planeten verstehen. Es ist immer noch der einzige Planet, von dem wir bisher wissen, dass er Leben ermöglicht.»
Sogar 11’000 Meter unter dem Meer, wie uns Jacques Piccard gezeigt hat.
Weil wir für eine andere Recherche sowieso in Los Angeles sind, folgen wir dem Rat von Professor Frölicher und setzen uns an einem warmen Novembermorgen in ein Mietauto, um die 120 Meilen Richtung Süden zu fahren, ins Shangri-La der Ozeanforschung, das legendäre Scripps-Institut.
Als wir kurz vor San Diego vom Highway runterfahren und die Strasse immer schmaler und verschlungener wird, während vor uns im Abendlicht der Pazifik in absurden Blautönen schimmert, fragen wir uns, ob wir vielleicht die falsche Adresse eingegeben haben. Das hier kann unmöglich der Weg zum grössten Ozeaninstitut der Welt sein, eher der Weg zum schönsten Strand Kaliforniens.
Wir parken unseren Wagen am Strassenrand und stellen fest, dass beides stimmt. Eine kleine Schautafel informiert uns, dass wir uns tatsächlich an der Scripps Institution of Oceanography der Universität San Diego in La Jolla befinden. Über die Steilküste verteilt stehen zwischen Palmen verschiedene Forschungseinrichtungen, alle mit unverbaubarem Blick auf den Pazifischen Ozean. Eine Strasse führt hoch zum 1963 fertiggestellten Haupthaus, dem Munk Laboratory, einem spektakulär schönen Pfosten- und Balkengebäude, das aus Licht, Luft und einer Spur Sehnsucht zu bestehen scheint und das bestimmt jeder schon mal auf Instagram gesehen und sich dabei überlegt hat, wie es wäre, den Rest seines Lebens dort zu verbringen und auf den Pazifik zu schauen.
Wir müssen an Anna Wåhlin denken, eine Professorin für Ozeanografie an der Universität Göteborg, die uns sagte: «Das Meer macht etwas mit uns Menschen. Wenn wir am Meer sind und die Wellen spüren, das Salz schmecken und den Horizont sehen, werden wir ruhiger. Wir atmen tiefer, unser Puls verlangsamt sich.» Als wir aus dem offenen Fenster eines Studierzimmers im Munk Laboratory auf die gleichmässigen Wellenbewegungen des Ozeans blicken, verstehen wir, was sie meinte.
Im Scripps-Institut, dem schönsten Arbeitsplatz der Welt, stossen wir als Erstes auf Lydi Keppler, eine Postdoktorandin aus Deutschland. Vermutlich ist sie die einzige Stuttgarterin, die jeden Morgen, bevor sie den Laptop aufklappt und sich ihrer Forschung zuwendet, Delfinen beim Spielen im Pazifik zuschaut.
Vereinfacht gesagt beschäftigt sie sich mit der Frage, wie viel CO₂ in verschiedenen Regionen der Weltmeere abgespeichert wird und was die Prozesse dahinter sind. Während Keppler, die zum Zeitpunkt der Publikation dieser Geschichte nicht mehr am Scripps-Institut arbeitet, uns eine Führung durch das Institut gibt und über ihr grösstes Hobby, das Tauchen, ebenso leidenschaftlich spricht wie über den Allgemeinzustand des Meeres, steuern wir langsam auf den Ellen Browning Scripps Memorial Pier zu. Dieser ist das Prunkstück des Instituts, ein 330 Meter langer «Steg», der ins Meer hinausragt, benannt nach einer der Gründer:innen.
Der Pier steht da wie ein Symbol für die Verbindung zwischen Land und Meer, Erde und Wasser, man spürt, dass hier Menschen arbeiten, die sich den Ozean nicht untertan machen, sondern sich ihm annähern, ihn verstehen wollen. Seit 1916, als der Pier erbaut wurde, wird hier so ziemlich alles untersucht, von Meeresströmungen bis Meeresmikrobiologie.
Keppler stellt uns einigen Kolleginnen und Kollegen vor, sie sind alle um die dreissig, stehen am Anfang ihrer Forschungskarrieren. Wir erwähnen, dass wir übermorgen einen Termin mit Lynne Talley haben. «Das ist eine der meistzitierten Forscherinnen der Ozeanografie, sie hat ein absolutes Standardwerk geschrieben!», ruft Keppler.
Wir googeln kurz – «Descriptive Physical Oceanography: An Introduction», 564 Seiten –, drücken dann aber doch nicht auf «bestellen» und wenden uns wieder der vergnügten Runde zu. Lydi Keppler lächelt und sagt: «Körperlich ist sie eine kleine Frau, aber in der Forschung eine Riesin.»
Zwei Tage später hören wir die Riesin schon von weitem, ein ansteckendes, fast brüllendes Lachen begrüsst uns, als wir ihr kleines, vollgestelltes Büro betreten. «Mein Name ist Lynne Talley, ick bin from San Diego. Ick bin ein Marine. Ick study den Zirkulation des Oceans.» Dann prustet sie los, eine der meistzitierten Forscherinnen ihres Fachgebiets, und erzählt uns ausführlich von ihrem grossen Karrierewunsch: Pianistin. Sie habe sogar in Freiburg im Breisgau studiert, daher die paar Brocken Deutsch, aber dann habe es doch nicht gereicht. Die Ozeanografie? Ach, das war nur der Plan B.
Wir setzen zu unserer ersten Frage an: «Professor Talley, wir wollten mit Ihnen …»
Aber sie ist schon woanders: «Wussten Sie eigentlich», fragt sie, während sie Papierstapel von ihrem Schreibtisch räumt, «dass die französischen Seefahrer ihren Wein schon vor Hunderten von Jahren kühlten, indem sie ihn an Seile hängten, ins Wasser liessen und hinter sich herzogen? Die wussten bereits, dass das Meer kälter wird, je tiefer runter man geht. In den 1880er- und 1890er-Jahren waren es dann die Briten, die Deutschen und die nordischen Länder, also die Schweden und Norweger, die …»
Lynne Talley hält uns aus dem Stegreif einen halbstündigen Vortrag über die Frühphase der Ozeanografie mit speziellem Fokus auf die Strömungsdynamik. Sie hat eine Neigung zum Dozieren, ihr Mann, sagt sie selbst, nennt sie «Miss Know-it-all». Was wir mitnehmen, sind zwei Dinge. Erstens dass das Meer uns durch seine Fähigkeit, CO₂ aufzunehmen, «den Arsch gerettet hat» (die Formulierung kommt uns bekannt vor). Und zweitens: Forscherinnen und Forscher haben schon verdammt lange verdammt viel geahnt über die Ozeane, aber erst seit kurzem kann man vieles mit Gewissheit sagen. Der Schlüssel dazu sind die Argonauten.
Eine der berühmtesten griechischen Mythen handelt von Jason und den Argonauten, die auf einem Schiff namens Argo – «Die Schnelle» – das Meer durchqueren, um das Goldene Vlies zu rauben, das Fell eines goldenen Widders.
Und Argo, so heisst auch ein mobiles Beobachtungssystem für den Gesundheitszustand der Weltmeere, mit dem seit etwas mehr als zwanzig Jahren Temperatur, Salzgehalt und Strömungen gemessen werden – und neuerdings auch chemische und biologische Komponenten wie pH-Wert, Sauerstoffgehalt und Chlorophyll-Anteil. Und zwar mithilfe einer Flotte von Roboterinstrumenten, den sogenannten Argo-Bojen, die mit den Meeresströmungen auf tausend Meter Tiefe treiben und alle zehn Tage auf zweitausend Meter tauchen, dann die Sensoren einschalten und während des Aufstiegs an die Wasseroberfläche alle verlangten Messwerte aufzeichnen. Oben schicken sie die Daten über den Erdbeobachtungssatelliten Jason zu einem Argo-Zentrum.
Wie in der griechischen Mythologie: Jason und sein Schiff Argo.
Argo-Bojen sind ein technischer Geniestreich: Sie sind robust wie eine Raumsonde, funktionieren völlig autonom und haben eine Lebensdauer von bis zu sechs Jahren. Das ist enorm, wenn man bedenkt, welche Arbeit sie in dieser Zeit verrichten. Es sind, so erklärt es uns Lynne Talley, eine Art Mini-U-Boote, nur liegen sie nicht waagrecht, sondern stehen senkrecht im Wasser. Ein Exemplar kostet mehrere zehntausend Dollar, zurzeit treiben etwa viertausend davon durch die Weltmeere. Das sind noch immer viel zu wenige, wenn es nach Talley geht.
Aber auch so ist es nicht übertrieben zu sagen, dass die schwimmenden Roboter die Ozeanografie revolutioniert haben. Weil man sich nun nicht mehr auf Schätzungen und Modellierungen verlassen muss, sondern Daten hat. Man kann das Argo-Programm mit der Einführung der Wetterballone in der Meteorologie vergleichen, als man die Messungen der Wetterstationen am Boden endlich mit Informationen aus der Atmosphäre ergänzen konnte, was zu komplett anderen Wettervorhersagen führte.
Vor dem Argo-Programm gab es Messungen von Temperatur, Salzgehalt und Strömungen auch schon, aber nur von Schiffen aus, und sie ergaben, damit man sie vergleichen konnte, nur auf regelmässig befahrenen Routen Sinn. Diese Routen waren wie ein feines Spinnennetz, die gigantischen Löcher dazwischen blieben unerfasst, so formuliert es die FAZ. Argo-Bojen sind Spinnen, die ein engmaschigeres Netz weben. Zudem können sie an Orten tauchen, die für Menschen nicht oder nur unter sehr schweren Bedingungen erreichbar sind, zum Beispiel im Südpolarmeer, von wo man noch immer viel zu wenige Daten hat: Das Südpolarmeer hat fast die Hälfte des von Menschen freigesetzten CO₂ aufgenommen, das in den Ozeanen landete, sowie fast drei Viertel der zusätzlichen Wärme. Lynne Talley zählte zu den Verantwortlichen eines Argo-Projekts im Südpolarmeer.
Nach zwei Stunden stellen wir der Professorin erschöpft unsere erste Frage: Warum müssen wir über die Ozeane denn so viel wissen?
Das verschlägt sogar der redelustigen Talley die Sprache.
«Habt ihr denn gar nicht zugehört? Wart ihr nicht bei Professor Frölicher in der Vorlesung?»
Doch, doch, stammeln wir.
«Der Grund, warum wir forschen», buchstabiert uns Talley, «lautet: Es reicht nicht zu wissen, dass der Meeresspiegel steigt. Wir müssen wissen, um wie viel er steigt. Wenn wir einen Damm bauen wollen, um, sagen wir, euer Venedig zu schützen, müssen wir eben wissen, wie hoch der Damm sein soll, ob zwei Meter reichen oder ob es sieben Meter braucht. Alle wissen, dass das Wasser kommt, aber wir brauchen mehr Daten, um uns richtig darauf vorbereiten zu können.»
In der Ecke von Talleys Büros steht ein gigantischer Käfig. Eine Decke liegt darüber. Lynne Talley folgt unserem Blick und sagt: «Wollt ihr wissen, was das ist?» Sie steht auf und zieht die Decke vom Käfig runter. Zum Vorschein kommt ein präparierter Albatros. Wir weichen etwas zurück. Talley kichert vergnügt – der «Albatross Award» ist die wichtigste Auszeichnung, die man als Ozeanografin erhalten kann. Seit 1959 wird ein präparierter Albatros alle paar Jahre weitergereicht, von einer Preisträgerin zur nächsten, und Talley weiss, dass sie sich bald von ihm trennen und den nächsten Preisträger bestimmen muss. «Aber es gefällt mir einfach so, ihn hier bei mir zu haben.»
Vom Munk Laboratory spazieren wir auf einem engen Pfad hinunter zum Strand, wo sich gerade einige Surfer bereit machen, sich in die Fluten zu stürzen. Vermutlich hochdekorierte Fachleute der Klimatologie, aber in Neoprenanzügen sehen alle gleich aus. Wir schauen aufs Meer, die Wellen kommen in einem regelmässigen Rhythmus, Möwen mit weissen Bäuchen und samtigem Gefieder umkreisen uns kreischend.
Wir setzen uns in den Sand und rekapitulieren, was wir bisher gelernt haben. Die Ozeane haben drei Probleme.
Die Erwärmung.
Die Verschmutzung.
Die Überfischung.
Jedes dieser Probleme ist für sich bedrohlich und kompliziert. Es sind sehr verschiedene Probleme, aber sie haben auch eine Gemeinsamkeit: Wir Menschen haben sie verursacht.
Das Meer muss man sich wie einen guten Freund vorstellen. Ein Freund, der uns auch noch unsere dümmsten Fehler verzeiht, uns grosszügig beschenkt und immer für uns da ist. Dieser Freund hat uns zuverlässig mit Fischen und Meerestieren versorgt. Zugleich hat er unsere Umweltsünden ausgebadet: Während wir immer mehr Treibhausgase in die Atmosphäre pumpten und auf diese Weise einen Wärmerekord nach dem anderen produzierten, wirkte das Meer kontinuierlich der Hitzekatastrophe entgegen. Es schluckte beträchtliche Teile des vom Menschen freigesetzten CO₂. Und es nahm mehr als 90 Prozent der überschüssigen Wärme auf und hat diese in den Tiefen seines Bauches gespeichert.
Das hat lange gut funktioniert, aber nun wird es unserem Freund zu viel: Das Meer erwärmt sich. Und je wärmer es wird, desto weniger CO₂ kann es speichern und desto saurer wird es. Desto lebensfeindlicher. In seinem berühmten Essay «Die Antiquiertheit des Menschen» aus dem Jahr 1979 formulierte der deutsche Umweltvordenker Günther Anders drei Hauptthesen: «Dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind. Dass wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können. Und dass wir glauben, dass wir das, was wir tun können, auch tun dürfen.»
Mit einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit angesichts der Diskrepanz zwischen den nicht zu stoppenden Prozessen, die wir in Gang gesetzt haben, und unserem Unvermögen, auch im Wissen über die katastrophalen Folgen zu handeln, stolpern wir durch unsere sich dem Ende entgegen neigende Recherche.
Die Forscherinnen und Forscher in La Jolla, mit denen wir über unsere Verzweiflung sprechen wollen, schütteln nur milde den Kopf, beugen sich wieder über ihre Berechnungen und Modellierungen. Sie sind auffällig gut gelaunt, ausserdem ansteckend krisenresistent. Sie würden, so scheint es uns, auch am Tag der Apokalypse noch vor Entzücken quietschen, wenn sie eine noch genauere Berechnung der Atlantischen Umwälzströmung hinbekämen.
Allerdings gibt es gerade unter den Jüngeren auch solche, die uns nach ein paar Bier sagen: «Eigentlich weiss ich nicht genau, was wir hier noch tun.» Sie wissen besser und vor allem genauer als wir anderen, was der Menschheit noch bevorsteht: Überschwemmungen, sintflutartige Regenfälle, grassierendes Artensterben.
Man spürt, wie es ihnen schwerfällt, aber der Gedanke ist da, und irgendwann sprechen sie ihn auch aus: Eigentlich sei genug geforscht, genug untersucht, genug modelliert worden, sagen sie dann. Jetzt müsste man etwas unternehmen.
Dass es die wissenschaftliche Forschung im Kampf gegen den Klimawandel nicht mehr braucht, weil wir alles wissen, was wir wissen müssen, ist natürlich Unsinn. Das haben uns die beiden Forscherinnen Lynne Talley und Edie Widder deutlich gezeigt. Aber wahr ist auch, dass es nicht damit getan ist, zu verstehen. Man muss auch handeln.
Die jungen Postdoktorandinnen und Postdoktoranden schweigen, schauen aufs Meer, nehmen noch einen Schluck Bier. Und dann fällt ein Name: Enric Sala.
«Hey, guys!» In Washington D. C. ist es früher Morgen, als uns – wir sind wieder zurück in der Schweiz – der frühere Ozeanforscher Enric Sala so fröhlich begrüsst, als hätte er sich schon seit Stunden auf den Zoomcall gefreut. Dabei ist der Fünfundfünfzigjährige, wie wir bald merken, kein chronischer Gute-Laune-Bär, er denkt noch immer wie ein Wissenschaftler. Auch ihm ist klar, dass die Aussichten düster sind. «Die Atlantische Umwälzströmung wird wahrscheinlich kollabieren», sagt er trocken.
Und er sagt auch all die anderen dystopischen Dinge, die wir schon von vielen gehört haben: dass die Ozeane die durch Treibhausgase verursachte Erwärmung des Planeten nicht mehr lange ohne schwerwiegende Folgen absorbieren können. Und dass es nur einen Weg gibt, das zu ändern: die Treibhausgasemissionen massiv zu reduzieren. Nur sieht es nicht so aus, als ob auch nur ein Land das ernsthaft angehen würde. Weil die Massnahmen, die es dazu bräuchte – Flugverbote etwa oder das Ende der Kohlezeit –, so gigantisch sind, so unrealistisch, dass wir das einfach nie hinkriegen.
Aber Enric Sala sagt noch etwas, das die anderen Forscher nicht sagen: dass es Hoffnung gibt.
Enric Sala ist in Spanien geboren, in Girona, das liegt in Katalonien. Als Kind war er fasziniert von den Dokumentationen des französischen Meeresforschers Jacques-Yves Cousteau, die jeden Sonntagabend im Fernsehen gezeigt wurden. «Ich wünschte mir so sehr, es Cousteau gleichtun zu können: dort rauszugehen und mit den Walen, Delfinen und Robben zu schwimmen», erzählt er uns. In seiner Familie tauchte niemand, aber weil seine Eltern immer im Sommer in einem Restaurant an der Costa Brava arbeiteten, verbrachte er viel Zeit allein am Meer. Doch die Unterwasserwelt, die sich ihm dort erschloss, war nicht die Welt, die er von Cousteau kannte. Da waren keine Korallenriffe. Kaum Tiere. Das Meer war wie ausgestorben.
An seinem Traum änderte das nichts. Ein Taucher auf Cousteaus legendärem Forschungsschiff Calypso, das wollte Sala sein. Mit achtzehn, als alle sich für den Fahrunterricht anmeldeten, schrieb er sich bei einer Tauchschule ein. Dann begann er, Meeresbiologie zu studieren. Eines Tages machte er einen Ausflug zu den Medas-Inseln vor der katalanischen Küste, wo man ein paar Jahre zuvor den Fischfang verboten hatte, und was er dort sah, war ganz wie in Cousteaus Filmen! Er tauchte durch Schwärme von Meerbrassen, Zackenbarschen und Tintenfischen. Sogar Hummer gab es dort. «Mein erster Gedanke war: Was ist das für ein besonderer Ort!», erzählt uns Sala. «Aber dann verstand ich, dass das überhaupt nicht stimmte. Das war kein besonderer Ort. Es war einfach ein Ort, den man vor dem Einfluss des Menschen geschützt hatte.»
Sala dachte noch nicht daran, die Welt zu retten. Er war jung und hatte eine ganz andere Ambition: im Wissenschaftsbetrieb Karriere zu machen. Nach dem Studium in Barcelona und dem Doktorat in Marseille ging er in die USA und wurde im Jahr 2000 Professor am berühmtesten Meeresforschungsinstitut der Welt, wir haben es gerade kennen gelernt, die Scripps Institution of Oceanography in La Jolla. Sala hatte es – nach akademischen Massstäben – geschafft: Er verwaltete grosse Forschungsbudgets, sein Wort hatte in der Community Gewicht, und er hatte ein Büro direkt am Pazifik. Und wenn er über den Pier spazierte, konnte er Delfine beobachten, die pfeifend, klickend und schnatternd auf sich aufmerksam machten.
Salas Forschungsgebiet war der Einfluss des Menschen auf das Meer. Was richtet die Fischerei in den Ozeanen an? Welche Folgen hat die globale Erwärmung auf die Lebewesen im Wasser? In den wichtigsten Fachmagazinen veröffentlichte er zahllose Untersuchungen. Aber als er gerade eine Studie über die Überfischung im Golf von Kalifornien in Mexiko fertigstellte, merkte er, dass er die genau gleichen Dinge schon fünf Jahre zuvor gesagt hatte. «Ich tat nichts anderes, als den Nachruf auf den Ozean zu schreiben», erinnert er sich. «Ich kam mir vor wie ein Arzt, der seinem Patienten ganz genau erklärt, wie er sterben wird, ihm aber keine Behandlung anbietet.»
In diesem Moment beendete Professor Sala seine akademische Karriere. Er wusste, wie schlecht es dem Meer ging. Jetzt wollte er ihm helfen.
Das Problem des Klimawandels ist nicht die Schwierigkeit, seine Ursachen zu ergründen, die Herausforderung liegt darin, die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Wir wissen um das Ausmass der Katastrophe, aber wir sind auch träge und bequem. Regierungen sind nicht imstande, sich gegen Lobbyverbände durchzusetzen. Die Weltgemeinschaft bringt es nicht fertig, sich auf verbindliche, universale Regelungen zu einigen.
Bisher hat man versucht, Menschen durch Schreckensmeldungen aufzuwecken. Mit Bildern von zerstörerischen Überschwemmungen, grotesken Plastikbergen, vertrockneten Seen, verschwindenden Gletschern. Das Besondere an Enric Sala ist, dass er den Menschen nicht die Schrecken des Klimawandels zeigt. Er zeigt ihnen die Schönheit der Meere. Er will uns nicht mit der Apokalypse drohen, er will uns mit dem Paradies locken. Wir sollen unser Leben nicht aus Furcht ändern, sondern aus Freude.
Sala macht zunächst mal etwas Antizyklisches. Er fordert eben nicht Flugverbote oder das Ende der Kohlezeit. Er macht das Gegenteil, er will Mikrobeispiele des Gelingens schaffen. Beweise, die zeigen, dass eine andere Welt möglich ist. Konkret schafft er Schutzgebiete im Meer, sogenannte MPAs, das sind marine protected areas. Wie Nationalparks, bloss unter Wasser. Die MPAs unterliegen spezifischen Bestimmungen, zwei wichtige: Verbot von Trawling, der Grundschleppnetzfischerei, und Verbot von kommerzieller Schifffahrt.
Es ist, wenn man so will, der Clou hinter Salas Idee. Man muss nicht das ganze Meer schützen, um das Meer zu retten. Das ginge auch gar nicht, die Ozeane sind Lebensader für viele Milliarden Menschen: Transportweg, Nahrungsmittelquelle, Arbeitsort. Sala sagt, es genüge, wenn man bestimmte Gebiete schütze, in denen sich das Meer erholen könne. Denn sobald das geschieht, sobald das Meer in diesen kleinen Schutzzonen zur Ruhe kommt, beginnt die Fauna und Flora, um sich zu greifen. Man kann fast zusehen, wie das Gute über das Böse siegt.
Darum der Name Pristine Seas, unberührte Meere, so nennt Sala seine kleinen Schutzzonen. Seit 2008 haben er und sein Team siebenundzwanzig dieser geschützten Reservate geschaffen, zusammen umfassen sie ein Gebiet von 6,6 Millionen Quadratkilometern, das ist eine zweimal so grosse Fläche wie Indien.
Die Idee klingt auf den ersten Blick fast zu gut, um wahr zu sein. Aber sie funktioniert, beteuert Sala, er habe es mit eigenen Augen gesehen: als junger Taucher in den Neunzigern auf den Medas-Inseln vor der katalanischen Küste. In den Nullerjahren in Cabo Pulmo auf der mexikanischen Halbinsel Baja California. In den Zehnerjahren auf den Zentralpolynesischen Sporaden, einer Inselkette im Pazifik. Er hat gesehen, wie leergefischte Unterwassergebiete oder von einem fatalen Hitzeereignis zerstörte Korallenriffe sich wieder erholten, wenn man sie nur in Ruhe liess. Wie sich die Natur selbst rettete, wenn man sie vor der Einflussnahme des Menschen bewahrte.
Meeresschutzgebiete, so Sala, seien wie ein Sparkonto mit hohem Zins. Solange man das Kapital nicht berühre, könne man von den Zinsen leben. «Der einzige Weg, mehr aus dem Meer herauszuholen, besteht darin, mehr Leben im Meer zu haben. Und die einzige Möglichkeit, mehr Meereslebewesen zu haben, besteht darin, einige Orte freizuhalten, damit sie gedeihen können.»
Sala hat all das nicht nur gesehen, es wurde auch wissenschaftlich belegt. Zuletzt in einer Studie von 2022. Konkret konnten dabei drei positive Folgen von Meeresschutzgebieten nachgewiesen werden:
Sie beleben die Artenvielfalt. Meeresschutzgebiete, in denen kein Fischfang erlaubt ist, weisen einen um 21 Prozent höheren Artenreichtum auf, ihre Organismen sind um 28 Prozent grösser, und die Fischbiomasse übersteigt die der nicht geschützten Gebiete um 600 Prozent.
Sie beleben die Fischbestände. Meeresschutzgebiete dienen unter anderem als Brutstätten für Fisch- und Krustentierpopulationen, die sich aus den geschützten Gebieten in Fischergemeinden ausbreiten.
Sie reduzieren die Folgen des Klimawandels. Eine der Vorgaben der Meeresschutzzonen ist ja das Verbot der Grundschleppnetzfischerei. Durch das Ziehen der schweren Netze über den Meeresboden werden gewaltige Massen des in den Bodensedimenten gespeicherten Kohlenstoffs als Kohlendioxid im Meer freigesetzt. 2021 ergab eine Studie Salas, dass Trawling gleich viel Schaden anrichtet wie Fliegen.
Von seinen ehemaligen Kolleginnen in der Forschung erfährt Sala nicht nur Bewunderung, weil er einst einen sicheren Job und viel Prestige aufgab, sondern auch, weil er zwar den Fokus neu gelegt, die hohen Ansprüche an seine Arbeit aber nie abgelegt hat. Das erfahren wir von Thomas Frölicher, dem Ozeanmodellierer aus Bern, der unsere Recherche seit unserem ersten Kontakt begleitet.
Frölicher hält nichts von Übertreibungen und Zuspitzungen. Wir wissen also sofort, dass es etwas zu bedeuten hat, wenn er, auf Sala angesprochen, eine kurze Recherche macht und uns dann zur Antwort gibt: «Das Projekt ist absolut bemerkenswert, und die bisherigen Erfolge sind beeindruckend. Besonders imponiert mir, wie stark das Projekt auf wissenschaftlichen Grundlagen basiert.»
Aber kann das wirklich die Lösung von allem sein?, fragen wir Enric Sala im Zoomcall. In den Monaten unserer Recherche haben wir eine gewisse Skepsis gegen voreiligen Optimismus und überhasteten Aktionismus entwickelt.
Man dürfe von solchen Parks keine Wunder erwarten, gesteht Sala sofort: «Ein Meeresschutzgebiet kann das Wasser nicht kühler machen und auch nicht vor der Erwärmung schützen.» Sala scheint uns die Enttäuschung anzusehen, also legt er, der begnadete Verkäufer, sofort nach: «Aber wir wissen heute, dass vollständig geschützte Gebiete widerstandsfähiger sind.» Er hat beobachtet, wie sich unberührte Riffsysteme, die durch Hitzewellen im Meer weiss geworden waren, innerhalb von fünf Jahren erholt haben. Was Sala eigentlich sagt: Es ist wichtig, was er macht, auch wenn es die Katastrophe nicht verhindern wird.
Etwas anderes erfahren wir nicht von Sala selbst, sondern von einer Person, die ihn gut kennt.
Robert Ballard ist zweiundachtzig, sieht aber, als er uns an einem schwülen Hochsommertag über Zoom anlächelt, zwanzig Jahre jünger aus. Er nimmt einen Schluck aus der Cola-Zero-Dose und schreit in seinem besten Denglisch in den Bildschirm: «Hallo! Guden Morrrgen!»
Ballard ist Amerikaner deutscher Abstammung. Müsste man ihn aus irgendwelchen Gründen in nur einem Satz beschreiben, könnte man sagen: Ballard ist so etwas wie der Indiana Jones der Ozeanforschung, ein Navy-Veteran mit einem Faible für Unterwasserarchäologie.
Er war es, der 1985 das Wrack der Titanic entdeckte, während er eigentlich einen geheimen Auftrag für die amerikanische Regierung durchführte. Für die US-Armee barg er Kriegsschiffe, U-Boote und Flugzeugträger. 1996 wurde ihm die Hubbard-Medaille verliehen, eine Auszeichnung, die nur selten vergeben wird, 1907 zum Beispiel an den Polarforscher Roald Amundsen, 1927 an den Flugpionier Charles Lindbergh, 1970 an die Astronauten Armstrong, Aldrin und Collins für den ersten Flug zum Mond.
Aber wir sind nicht mit Ballard verabredet, um mit ihm über ihn selbst zu sprechen – obwohl das verlockend wäre. Wir sind mit ihm verabredet, weil er seit Jahren ein enger Begleiter von Enric Sala ist.
In Ballards Augen ist Sala eine Art Alexander von Humboldt der Gegenwart, ein Naturforscher, der unseren Umgang mit der Welt prägen wird. Was er an ihm besonders schätzt: dass er sich getraut hat, die Akademie auf dem Höhepunkt seiner Karriere zu verlassen. Es ist etwas, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eigentlich nie tun.
Seit der Gründung von Pristine Seas vor sechzehn Jahren hat Sala den Anteil geschützter Meereszonen in allen Ozeanen quasi im Alleingang von eins auf acht Prozent erhöht. Also natürlich nicht wirklich im Alleingang. Es sind die Staaten, die die Schutzzonen errichten. Aber Sala und sein Team haben sie von der Wichtigkeit überzeugt, etwas zu tun.
Es beginnt wie jede Veränderung: mit einer Reise. In diesem Fall mit einer Reise in einem U-Boot. Sala zeigt Staatsoberhäuptern, Regierungsmitgliedern und anderen politischen Entscheidungsträgerinnen von Ländern, die am Meer liegen, die Schönheit ihrer Unterwasserwelt. Er offeriert ihnen sozusagen einen Sitz in der ersten Reihe. Inzwischen weiss er genau, wie sie dann reagieren. Und doch ist er immer wieder erstaunt.
Was mit den Menschen, die zu ihm ins U-Boot steigen, geschieht, ist das, was mit allen Menschen geschieht, wenn sie sich in die Natur begeben: Sie werden wieder zu Kindern. Sala findet hierfür uns gegenüber die passenden Worte: «Um Kinder glücklich zu machen, muss man sie nur an den Strand, in den Wald oder auf eine Wildblumenwiese mitnehmen. Dann jagen sie Schmetterlingen hinterher und beobachten Hummeln, sie spielen und staunen», es sei das, was Edward Wilson «Biophilie» nannte, ein Gefühl der Demut, aber auch der Zugehörigkeit, das uns überkommt angesichts der Schönheit der Natur. «Diese Liebe und die Neugier gehen im Erwachsenenalter verloren, wenn uns beigebracht wird, was man als Mitglied der Gesellschaft sein soll. Aber wir können das Kind in uns zurückholen, wenn wir in die Natur gehen.»
Enric Sala merkt, dass er sich von seiner Begeisterung ein bisschen hat davontragen lassen. Wir sagen, wir hätten selbst Kinder, wüssten genau, wovon er spricht. Er lächelt und erzählt weiter.
«Manche Menschen, denen wir die Unterwasserwelt zeigen, sind natürlich schon mal getaucht. Die meisten aber nicht. Wenn sie in unser U-Boot steigen, ist es, als würde man sie ins All mitnehmen. Sie sehen eine Welt, die sie sich nie hätten vorstellen können. Das Gehirn erlebt einen Reset und kehrt zu dieser kindlichen Mentalität zurück. Die Menschen, die sich noch eine Stunde zuvor Sorgen um ihre Kabinettssitzung gemacht haben, sind jetzt völlig begeistert: ‹Was ist das? Und das? Ist das ein Tintenfisch?› Ich habe alle von ihnen aus dem Wasser kommen sehen und sagen hören, dass dies die transformativste Erfahrung ihres Lebens gewesen sei.»
Und dann lassen die Politiker – das ist das Erstaunlichste – auf die Worte Taten folgen. Nachdem der damalige kolumbianische Präsident Iván Duque im Jahr 2022 Salas U-Boot entstiegen war, verdoppelte er die Meeresschutzgebiete seines Landes und spannte mit Ecuador, Costa Rica und Panama zusammen, um eine noch umfangreichere Schutzzone zu errichten. Die Seychellen haben in den letzten Jahren 30 Prozent ihres Meeresterritoriums zu MPAs erklärt. Chile? 42 Prozent. Palau? Sogar 80 Prozent. Gabon, die Überseeterritorien des Vereinigten Königreichs, das Inselreich Niue im Südpazifik? Alles Staaten, die das sogenannte 30-bis-30-Ziel bereits umgesetzt haben oder kurz davor sind, es umzusetzen.
Hier wird es nun kurz etwas frustrierend, denn es geht um Politik: Das 30-bis-30-Ziel ist das Ergebnis einer UNO-Konferenz zum Thema Biodiversität, die 2022 in Montreal stattfand. 196 Staaten haben das Abkommen – den «Biodiversitätsplan» – unterzeichnet. Und sich damit verpflichtet, bis 2030 weltweit 30 Prozent der gesamten Landes- und Meeresfläche unter Naturschutz zu stellen.
Eine ziemlich klare Regel, oder? Deren Befolgung aber alles andere als klar ist, denn es gibt sehr viele unterschiedliche Definitionen von «schützen», und die Politik ist gut darin, sie immer zu den eigenen Gunsten auszulegen. Ist gar kein Schiffsverkehr erlaubt oder nur kein kommerzieller? Ist gar kein Fischfang erlaubt oder nur kein industrieller?
Zwei Dinge fallen sofort auf. Erstens: Wer mitmacht, sind die kleinen Länder, die in der Regel schon stark betroffen sind von der Biodiversitätskatastrophe. Zweitens: Die ganz grossen Länder fehlen natürlich. Sala sagt: «Wenn die Kleinen es können, die viel stärker vom Meer abhängig, aber auch viel stärker von den Folgen betroffen sind, dann müsste es für die Grossen doch ein Leichtes sein, nicht?»
Trotzdem kann man nicht anders, als skeptisch zu sein: Acht Prozent der Weltmeere sind bislang also geschützt. Okay. Aber es fehlen auch noch zweiundzwanzig Prozent. Bis ins Jahr 2030. Das ist unmöglich, Enric Sala, oder?
Sala nimmt beide Hände vors Gesicht, seufzt laut. Dann wechselt er den Modus und erklärt uns mit einem aufmunternden Lächeln, als seien wir störrische Regierungschefs, die keine Fischfangquoten einhalten wollen, die Logik des Meeres. Also noch einmal: «Wenn wir mehr Natur zulassen, gibt uns die Natur auch mehr zurück. Wir verlieren nichts, wir gewinnen dazu.»
Wir verlangen ein Beispiel.
Sala holt Luft.
Die durch die Klimaerwärmung angerichtete Verwüstung der Korallenriffe macht Lebensräume kaputt, die ein Viertel aller Meereslebewesen ernähren oder beherbergen, einschliesslich der Fische, die einer Milliarde Menschen auf der ganzen Welt wichtige Proteine und Einkommen liefern. Es ist aus der von Bergen umgebenen Schweiz immer etwas schwer, sich die Zahlen vorzustellen, denn sie sind riesig. Aber sie stimmen. Die von Korallenriffen bereitgestellten Güter und Dienstleistungen in Form von Tourismus, Küstenschutz, Nahrungsmitteln und Fischerei werden auf jährlich 2,7 Billionen Dollar geschätzt.
«Selbst wenn wir total egoistisch wären und die Natur uns komplett egal wäre», sagt Sala, «müssten wir wenigstens einsehen, dass sie für unsere Wirtschaft und auch für unsere Ernährung überlebensnotwendig ist.» Ein Anstieg der durchschnittlichen globalen Temperatur um zwei Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter, so Sala, würde ausreichen, um schätzungsweise 99 Prozent aller Korallenriffe auszulöschen.
Dann erzählt uns Sala noch einmal von den Medas-Inseln an der Costa Brava, über die er seine Doktorarbeit schrieb. Das Reservat dort war nur einen Quadratkilometer gross, aber es sprach sich herum, dass es hier viele Fische gab. Bald zählte man mehr als 100’000 Tauchgänge pro Jahr, mit der Folge, dass die Moostierchen und all die korallenähnlichen Organismen auf dem Meeresboden zerstört wurden.
«Die Leute sagten: Es gibt zu viele Taucher. Ich sagte: Nein, es gibt nicht zu viele Taucher, es gibt zu wenige Meeresschutzgebiete.» Sala lächelt. «Wenn Spanien im August den gesamten Jahresvorrat an Coca-Cola trinkt, was wird Coca-Cola dann sagen: Oh, die Spanier trinken zu viel? Oder werden sie sagen: Lasst uns mehr Flaschen produzieren?»
Das ist Salas grosse Fähigkeit: Er fordert nicht das Unmögliche, ruft nicht zum absoluten Verzicht auf, stattdessen bietet er eine Lösung, die machbar erscheint. Und attraktiv. Es ist ein ebenso überraschendes wie wirksames Gegenmittel zu all den Weltuntergangsszenarien, die die heutigen Klimagespräche dominieren.
«Er argumentiert nie ideologisch, sondern immer marktlogisch», sagt Robert Ballard, der Titanic-Entdecker. «Ich glaube, dass das im Kampf gegen die Klimaerwärmung in Zukunft entscheidend sein wird.»
Genau genommen ist es auch nicht Sala, der so argumentiert, es ist die Ökonomin Kristin Rechberger, seine Partnerin, die ihm beigebracht hat, marktlogisch zu argumentieren, sagt uns Robert Ballard auch noch.
Der Sala-Rechberger-Pitch im verführerischen Originalton:
«Das Medas-Reservat bringt jährlich 16 Millionen Euro an Tourismuseinnahmen durch Tauchen ein. 16 Millionen Euro für einen Quadratkilometer. Das ist viel, viel mehr als die Fischerei einbringt. Ein anderes Beispiel: Das Great Barrier Reef in Australien bietet fast 60’000 Arbeitsplätze. Und bringt jedes Jahr über fünf Milliarden Dollar an Tourismuseinnahmen. Diese Naturreservate sind kein Verzicht, sie sind ein gutes Geschäft.»
Sala macht hier zwei Dinge: Er spricht das Kind im Menschen an. Er will uns wieder staunen lassen. Gleichzeitig spricht er den Erwachsenen im Menschen an. Er zeigt, dass wir damit auch Geld verdienen können.
Es sind, man darf sich keine Illusionen machen, Minischritte. Angesichts der Dimension der Krise kann man auch sagen, es seien zu kleine Schritte.
Aber wenigstens führen sie in die richtige Richtung.
Es war der 7. Dezember 1972, als ein Mitglied der Besatzung der Apollo 17 auf dem Weg zum Mond aus dem Fenster schaute und die Erde sah. Der Astronaut – es ist unklar, welcher es war – nahm seine Kamera, eine 70-Millimeter-Hasselblad, und machte schnell vier Bilder. Als die Fotos entwickelt wurden, konnten alle sehen, was der Astronaut aus 45’000 Kilometer Entfernung gesehen hatte: inmitten des schwarzen Alls eine Kugel.
Man erkennt sandfarbene Wüsten, grüne Wälder, weisse Wolken. Die vorherrschende Farbe aber ist: Blau. Das Blau der Ozeane. Zwar ist Wasser in kleinen Mengen durchsichtig, ab einer gewissen Tiefe bekommt es jedoch einen immer stärkeren Blauschimmer. Es ist das Meer, das der Erde ihre Farbe gibt. Und ihren Namen: der blaue Planet. Eigentlich sollte die Erde Wasser heissen, nicht Erde. Die Erdteile auf diesem Planeten sind lediglich Inseln in einem grossen Meer.
Als Overview-Effekt wird das Phänomen bezeichnet, das die Astronauten erlebten, als sie die Erde vom Weltall aus sahen: ein tiefes Gefühl der Demut angesichts der Erhabenheit, aber auch der Verletzlichkeit der Erde.
Wir sind nur Besucher dieses Planeten. Uns braucht es auf der Erde nicht. Sie ist da, auch ohne uns. Aber wir nicht ohne sie.
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