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Notruf aus der AntarktisDieser Gletscher bestimmt die Zukunft der Menschheit

In der Antarktis beginnt der Thwaites-Gletscher zu schmelzen – er entscheidet darüber, wie und wo wir leben werden.

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1968 schaute die ganze Welt nach oben. Es war das Jahr vor der Mondlandung: Man glaubte, die Zukunft läge im All. Ein Mann aber schaute nach unten. Und er sah, dass die Antarktis und nicht der Mond unser Schicksal bestimmen wird.

John Mercer, ein Geograf aus England, galt in der Wissenschaftscommunity als Exzentriker. Es hiess, er gehe nackt joggen und würde am liebsten auch alle seine wissenschaftlichen Arbeiten nackt durchführen. Was etwas überraschend ist, wenn man sein bevorzugtes Forschungsgebiet bedenkt: die Antarktis.

Auch aus diesem Grund taten viele seine These aus dem Jahre 1968 als Spinnerei ab: Die Westantarktis könnte schon sehr bald schmelzen und einen Anstieg des weltweiten Meeresspiegels von bis zu sechs Metern verursachen. (Was das genau bedeutet, ist schwer vorstellbar, wir werden später im Text versuchen, es zu beschreiben. Aber so viel vorab: Es sind verheerende Folgen.) Niemand glaubte Mercer.

Die Glaziologie – die Wissenschaft von Schnee und Eis – war ein kaum beachtetes Fach, der Klimawandel kein Thema.

Heute wissen wir: John Mercer hatte recht.

Zehn Jahre später, 1978, stellte er die nächste These auf, die damals absurd klang und heute selbstverständlich ist: Der Grund für das Abschmelzen sei der menschengemachte Treibhauseffekt. Auch diese Aussage stiess auf Unverständnis. Einer, der Mercer von Anfang an ernst nahm, war Terry Hughes, ausgebildet eigentlich in Metallurgie und Werkstoffkunde, aber mit einer Schwäche für Eis. Hughes glaubte nicht nur, dass das Eis schmelzen würde, sondern meinte auch zu wissen, wo dieser Schmelzprozess beginnen würde. Und er erkannte dies wie schon Mercer praktisch ohne hochentwickelte Messmethoden. «Hundeschlittenwissenschaft» sagen heutige Glaziologinnen bewundernd dazu.

Hughes arbeitete an der University of Maine, als er 1981 in einem wissenschaftlichen Paper eine Formulierung benutzte, die in die Gletscherforschung eingehen sollte: «The weak underbelly», der schwache Unterleib.

Als «soft underbelly» hatte Winston Churchill einst Italien bezeichnet, als die Alliierten im Zweiten Weltkrieg einen Weg suchten, Nazideutschland anzugreifen. Italien war in Churchills Augen die Schwachstelle der Achsenmächte.

Die Schwachstelle der Antarktis, glaubte Hughes, ist ein ganz bestimmter Gletscher, der wie ein Eiskorken die Westantarktis davon abhält, zu schmelzen und ins Meer zu fliessen. Und er hatte recht.

Heute wissen wir, dass in der Antarktis tatsächlich ein einziger Gletscher den Anstieg des Meeresspiegels in den nächsten Jahrzehnten bestimmen wird. Er wird die Art verändern, wie – und vor allem wo – wir in Zukunft leben.

Der Name dieses Gletschers: Thwaites.

Anmerkung:

Dieser Text beruht auf der Lektüre von Büchern und akademischen Arbeiten, aber mehr noch auf stundenlangen Gesprächen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Nicht alle können wir namentlich erwähnen, so viele sind es. Aber ihre Erfahrungen und Einsichten fliessen in den Text ein.

Mehr als einmal geschah es übrigens, dass uns Leute an jemand anderen verwiesen, obwohl sie uns von Kolleginnen zu genau dieser Frage schon als absolute Experten empfohlen worden waren.

Es mag sein, dass die Absagen aus Zeitknappheit oder Desinteresse erfolgten, doch wir glauben, dass sie eher Ausdruck sind für die Ernsthaftigkeit und Demut der Wissenschaftlerinnen ihrer Arbeit und den erforschten Phänomenen gegenüber. Niemand scheint sich in diesem Forschungszweig besonders wichtig zu nehmen. Und allen ist klar, worum es geht.

Die Geschichte des Thwaites-Gletschers ist die Geschichte der Menschen, die ihn erkunden. Thwaites, dies nur am Rande, spricht man übrigens Englisch aus: «Swäits», aber mit dem stimmlosen «th» vorne wie bei «thanks».

Ein halbes Jahrhundert nach John Mercers Prophezeiungen über das Auseinanderbrechen der Westantarktis stand im Februar des Jahres 2019 eine Frau an der Reling des Eisbrechers Nathaniel B. Palmer und starrte in den Nebel. Sie heisst Anna Wåhlin, ist Professorin an der Universität Göteborg und zählt im Bereich der Ozeanografie zu den weltweit führenden Wissenschaftlerinnen. Es ist ein Forschungsgebiet, bei dem man mehr Zeit auf dem Meer als im Labor verbringt, wie unschwer zu erkennen ist: Wåhlins Gesicht ist von Wind und Sonne gegerbt, und wenn sie von ihren Forschungsreisen ans Ende der Welt erzählt, leuchten ihre Augen.

Wåhlin begann, Meeresbiologie zu studieren, aber fand es todlangweilig, also schaute sie ins Vorlesungsverzeichnis und entdeckte dort: Ozeanografie. «Das klang nach einer Mischung aus Meer, Mathematik und Physik – meine drei Lieblingsthemen.» Viele Jahre lang erforschte sie die Westantarktis und insbesondere den Thwaites-Gletscher, ohne ihn je aus der Nähe gesehen zu haben, doch nun war er plötzlich da, erhob sich vor ihr als riesige, erhabene, zerklüftete Eiswand.

Von den wenigen Orten auf der Welt, die sich der Vereinnahmung durch den Menschen widersetzen, ist die Antarktis der extremste. Nirgendwo ist es kälter – die Temperaturen liegen im Winter bei minus 60 bis minus 70 Grad Celsius –, nirgendwo toben mehr Stürme. Die Antarktis ist der letzte unbewohnte Kontinent. Und der letzte, der entdeckt wurde, vor zweihundert Jahren erst.

Schon im 16. Jahrhundert vermutete man eine riesige Landmasse auf der Südhalbkugel, die man sich als eine Art Gegengewicht zu den Landmassen der nördlichen Hemisphäre vorstellte. Doch es scheiterten alle Anläufe, diesen unbekannten Kontinent, den man «Terra australis incognita» taufte, zu finden. Der britische Entdecker James Cook, dem sonst alles gelang, suchte drei Jahre mit zunehmender Verzweiflung danach.

«Ich glaube fest daran, dass es in der Nähe des Pols ein Stück Land gibt, von wo der Grossteil des Eises herkommt, das sich über das riesige Eismeer ausbreitet», schrieb er in sein Tagebuch. Aber «das Risiko, das man eingeht, wenn man eine Küste in diesen unbekannten und eisigen Meeren erforscht, ist so gross, dass ich kühn sagen kann: Kein Mensch wird sich jemals weiter wagen, als ich es getan habe, und man wird die Länder, die vielleicht im Süden liegen, niemals erforschen.»

Was James Cook nicht wusste: Er war nur etwa hundert Kilometer von der antarktischen Küste entfernt, als er sein Schiff, die Endeavour, wenden liess.

Die Aussicht auf den geheimnisvollen Kontinent entfachte ein Wettrennen, bei dem es neben Entdecker-Ehrgeiz auch um wirtschaftliche Interessen ging (besonders von der Robbenjagd versprach man sich neue Einnahmequellen). Fünfzig Jahre nach Cook, Ende Januar 1820, erblickte Fabian von Bellinghausen, ein deutschbaltischer Offizier der russischen Marine, schliesslich als Erster festes Eis im Südpolarmeer. Wenige Tage später erreichte der britische Seefahrer Edward Bransfield die Spitze der Antarktischen Halbinsel.

Es war der Anfang eines mühseligen und bis heute nicht abgeschlossenen Entdeckungsprozesses, bei dem jede neue Erkenntnis mit unendlich viel Aufwand dem unwirtlichen Kontinent abgerungen werden muss.

Aber während die damaligen Entdecker einen Kontinent von unbekanntem Ausmass suchten, vermessen heutige Forscherinnen wie Anna Wåhlin eine drohende Katastrophe von unbekanntem Ausmass.

Es hat sich herumgesprochen, dass das Klima immer wärmer wird. Und dass die Folgen dramatisch sind. Eine Übersichtsstudie aus dem Jahr 2018 fand nachweisbare Belege für 467 verschiedene Beispiele, wie das menschliche Leben beeinträchtigt wird – durch Hitzewellen, Niederschläge, Dürren, Überschwemmungen, Brände, Stürme und anderes. Eine der dramatischsten Veränderungen: das Abschmelzen der Polkappen und der daraus resultierende Meeresspiegelanstieg. Bei diesem Problem handelt es sich um einen sogenannten climate tipping point, einen Klima-Kipppunkt. Es ist ein geflügeltes Wort in der Klimawissenschaft, aber was bedeutet es? So haben wir es uns erklären lassen:

Stellen Sie sich vor, Sie rollen einen Ball einen Hügel hinauf. Wenn Sie dem Ball einen Stoss versetzen, rollt er kurz ein wenig nach oben, danach wird er wieder in Ihre Hände zurückrollen. Sobald Sie den Ball aber auf den Gipfel stossen, wird er auf der anderen Seite hinunterrollen und dabei unaufhaltsam schneller werden. Die Spitze des Hügels ist der Kipppunkt.

Die meisten Systeme auf der Erde verhalten sich so. Gibt es einen äusseren Impuls, verändern sie sich leicht – und kehren dann wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurück, wie der Ball, der Ihnen wieder in die Hände rollt. Ist der äussere Impuls aber anhaltend stark oder immer wiederkehrend, überschreitet das System irgendwann den Kipppunkt und verselbstständigt sich.

Das Überschreiten des Kipppunkts ist unumkehrbar. Das System wird sich nie in seinen vorherigen Zustand zurückversetzen können. Das Teuflische daran: Es ist die gleiche, scheinbar harmlose Bewegung, mit der wir den Ball den Hügel hinaufstiessen, die nun plötzlich das Unabänderliche auslöst.

Das Abschmelzen der Polkappen ist ein Problem. Aber warum ist es ein Kipppunktproblem? Alle Forscherinnen und Forscher, denen wir diese Frage stellen, antworten: «Dazu muss ich etwas ausholen.»

Und dann geben sie uns einen Crashkurs in Eiskunde.

Es gibt das Eisschelf, und es gibt den Eisschild. Als Eisschild bezeichnet man Festlandeis, das eine sehr grosse Fläche bedeckt. Wie in der Antarktis. Dort ist das Eis bis zu 4900 Meter dick. Es ist das, was man «ewiges Eis» nennt. Wobei man mit dem Begriff vorsichtig sein sollte. Der Eisschild ist nicht statisch, er verhält sich eher wie Honig. Das Eis will sich glätten, es fliesst zu den Rändern hin. Und weil der Thwaites-Gletscher im Landesinnern dicker ist, drückt das Gewicht von dort aus nach vorne. Immer mehr Eis bewegt sich sachte Richtung Meer und bildet im Ozean eine Art schwimmende Eisplatte.

Diese Eisplatten nennt man Eisschelf. Die Dimensionen eines solchen Eisschelfs sind schwer vorstellbar: Wenn wir an einen Eisberg denken, haben wir jenen Giganten vor Augen, der die Titanic zum Sinken brachte. Aber das war bloss ein klitzekleiner Teil eines Eisschelfs, der abgebrochen war und auf den Ozean hinaustrieb. Das antarktische Eisschelf ist bis zu tausend Meter dick.

Diesem Eisschelf, schwimmend vor der Küste der Antarktis, kommt eine elementar wichtige Funktion zu: Es wirkt wie ein Bremsklotz, der verhindert, dass das nachdrängende Festlandeis – der gesamte Eisschild – ins Meer fliesst.

Jetzt kommt das Kipppunktproblem: Jahrtausendelang entsprach der Eisverlust in der Antarktis weitgehend der durch Schneefall hinzugewonnenen Eismenge, sodass die Grösse des Eisschilds seit der letzten Eiszeit nur wenig abgenommen hat. Aber das ändert sich gerade. Aufgrund der globalen Erwärmung, verursacht durch Treibhausgasemissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe, hat sich das Eisschelf vor dem Thwaites-Gletscher zuletzt immer schneller aufgelöst. Und es wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren, das ist die Prognose, zerbersten.

Damit verschwindet der Bremsklotz, und der Thwaites-Gletscher wird – wie der Ball am Hügel – unaufhaltsam von seinem Landsockel weg ins Meer gleiten.

Ob der Kipppunkt bereits erreicht ist, darüber debattiert die Wissenschaft gerade. Über die Folgen hingegen ist man sich einig. Der Meeresspiegel wird ansteigen.

Und aus diesem Grund reiste Professorin Wåhlin im Jahr 2019 ins Südpolarmeer. Ihr Forschungsgebiet ist so komplex wie Atomphysik, aber lässt sich eigentlich in diese Frage fassen: Wie schnell schmilzt der Thwaites-Gletscher?

«Wenn Sie fünf Forscher:innen diese Frage stellen», sagt Anna Wåhlin lächelnd, «bekommen Sie fünf verschiedene Antworten. Und das liegt daran, dass die richtige Antwort lautet: Wir wissen es noch nicht genau.» Der Mensch neigt dazu, sein aktuelles Wissen für der Weisheit letzten Schluss zu halten, tatsächlich wissen wir über das meiste sehr wenig. Für die Antarktis gilt das im Besonderen.

Nach dem Crashkurs in Eiskunde folgt nun eine Lektion in Gletscherschmelze – sie erfordert, wie wir bald merken, noch etwas mehr Geduld und Konzentration.

Alpengletscher schmelzen von oben. Je wärmer die Luft wird, desto schneller schwinden sie dahin. Wie Glace an der Sonne. Die Gletscher in der Westantarktis schmelzen nicht von oben, denn dort herrschen eisige Minustemperaturen. Die Gletscher in der Westantarktis schmelzen von unten. Sie werden unterspült von warmem Wasser, schmelzen ein wenig und gleiten dann ins Meer. Wobei «warm» in diesem Fall heisst: knapp über dem Gefrierpunkt.

Der Grund dafür, dass das Wasser unter dem Thwaites-Gletscher eine derart verheerende Wirkung hat, liegt an zwei Besonderheiten. Erstens befinden sich weite Teile des westantarktischen Eises unter dem Meeresspiegel. Deshalb spricht man hier genau genommen auch nicht nur von einem Eisschild, wie wir weiter oben behauptet haben. Man spricht von einem marinen Eisschild. Schmilzt dieses Eis komplett ab, bleibt als Landfläche ausser ein paar Inseln nichts zurück.

Die zweite Besonderheit besteht darin, dass das westantarktische Festland retrograd geneigt ist. Retrograd heisst, dass der Untergrund, auf dem der Gletscher liegt, zum Landesinnern hin abfällt (normal ist eine prograde Neigung). Er liegt gewissermassen in einer riesigen, untermeerischen Schüssel. Die Eisschicht wird also dicker, je weiter man sich von der Küste entfernt. An seinem tiefsten Punkt reicht das Eis etwa 1500 Meter unter den Meeresspiegel.

Diese einzigartige Kombination aus marinem Eisschild und retrograder Neigung ist es, was den Thwaites-Gletscher gefährdet. Denn nun geschieht Folgendes: «Warmes» Wasser aus der Tiefe des Ozeans dringt zum westantarktischen Festland vor und unterspült den Eisschild. Das Eis schmilzt, verliert die Haftung am Boden und gleitet ins Meer. Und während sich das Wasser aufgrund der retrograden Neigung immer tiefer unter den Gletscher frisst und das Eis vom Landesinneren her drückt, gleitet der Gletscher immer weiter ab. Die vordere Gletscherwand kollabiert, und immer mehr Eis stürzt ins Meer – der Gletscher «kalbt».

Weil der Gletscher zum Landesinnern hin dicker wird, wird auch die Front, die dem Wasser ausgesetzt ist und irgendwann abbricht, immer grösser. Man muss sich das vorstellen wie beim Anschneiden eines Stücks Brie: Wenn man das Messer am spitzen Ende des Käses ansetzt, sind die Scheiben erst mal schmal. Aber mit jeder Scheibe, die man abschneidet, wird die Vorderseite breiter.

Kurze Wiederholung: Es ist nicht, wie man zuerst denken könnte, die Erwärmung der Luft, die die westantarktischen Gletscher gefährdet. Es ist die Erwärmung des Wassers. Und das ist verhängnisvoll, denn selbst wenn wir den Klimawandel augenblicklich aufhalten könnten, würde es tausend Jahre dauern, bis das Wasser in den unteren Schichten wieder «Normaltemperatur» hätte.

Um herauszufinden, wie weit der Thwaites-Gletscher bereits von «warmem» Wasser unterspült ist, hatte Anna Wåhlin auf ihrer Exkursion mit dem Eisbrecher Nathaniel B. Palmer den vier Millionen Dollar teuren Unterwasserroboter Rán dabei. Benannt ist er nach der Meeresgöttin der nordischen Mythologie; Rán, halb Mensch, halb Fisch, ist die Herrscherin über das Meer. Sie besitzt ein magisches Netz, so dicht geknüpft, dass ihm niemand entgehen kann. Wåhlin schickte Rán tief unter das Eisschelf in der Hoffnung, der Unterwasserroboter erstelle ihr ein 3D-Bild von der Unterseite des Gletschers.

Das Fazit ihrer Reise?

Rán fand tief unter dem Gletscher Spuren eines untermeerischen Hügels. Dieser stabilisierte einst – genau wie heute wieder – die Gletscherfront. Bis er es nicht mehr tat und sich der Gletscher immer schneller zurückzuziehen begann. Wåhlin und ihre Kolleginnen schliessen daraus, dass sich der vordere Teil des Gletschers irgendwann in den vergangenen zweihundert Jahren plötzlich innerhalb von weniger als sechs Monaten vom untermeerischen Hügel ablöste und sich dann mit einer Geschwindigkeit von 2,1 Kilometern pro Jahr zurückzog – etwa doppelt so schnell wie heute.

Und was heisst das?, fragen wir atemlos.

«Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass das, was vor zweihundert Jahren geschah, wieder geschehen könnte», antwortet Wåhlin und macht eine Pause. Sie ist eine besonnene Forscherin, Alarmismus ist ihr fremd.

«Das würde bedeuten, dass der Thwaites-Gletscher sehr viel schneller auseinanderbrechen wird, als er es zurzeit tut.»

Kann dieser Prozess gestoppt werden?, fragen wir.

«Nein. Wir können das nicht stoppen. Es wird erst enden, wenn alles Eis geschmolzen ist. Was wir tun können, ist, noch mehr zu forschen, damit wir vorbereitet sind auf das, was kommen wird.»

Wir schweigen betreten. Die Aussicht, dass wir einfach nur zusehen, wie das gesamte Eis der Westantarktis auseinanderbricht und die Küstenregionen in aller Welt überschwemmt werden, ist für das menschliche Vorstellungsvermögen so schwer fassbar wie der Urknall.

«Ich denke, das sind eigentlich gute Nachrichten», sagt aber Anna Wåhlin. «Wir haben jetzt historische Vergleichsdaten, an denen wir unsere Berechnungen ausrichten können. Das heisst, dass wir bessere Vorhersagen treffen können. Wenn ihr mehr dazu wissen wollt, müsst ihr mit meiner Kollegin Julia Wellner sprechen.»

Wir machen uns eine Notiz, dass wir den Namen unbedingt googeln müssen, und wollen uns schon verabschieden, als Wåhlin noch einmal ausholt.

«Das Meer macht etwas mit uns Menschen», sagt sie. «Wenn wir am Meer sind und die Wellen spüren, das Salz schmecken und den Horizont sehen, werden wir ruhiger. Wir atmen tiefer, unser Puls verlangsamt sich. Und zugleich wissen wir fast nichts über das, was sich in den Tiefen der Meere abspielt und wie die Wechselwirkungen zwischen Ozean und Klima sind.»

John Mercer und Terry Hughes, die Wissenschaftler aus der Anfangszeit der Thwaites-Forschung (und dieses Textes), kämpften lange darum, ernst genommen zu werden. Ende der Achtzigerjahre wuchs im Zuge der Ökobewegung langsam das Interesse an ihrer Vorhersage über das Abschmelzen der Polkappen. In den Neunzigern war Mercers Paper ein Klassiker unter Glaziologen.

Dass sie aber wirklich recht hatten, weiss man mit Sicherheit erst seit 2014. Damals gelang zwei Forschungsgruppen unabhängig voneinander der Beweis, dass der Thwaites-Gletscher tatsächlich am Kollabieren ist.

Sechsundvierzig Jahre waren da seit Mercers Prophezeiung vergangen.

Es war ein Wendepunkt. Bis dahin hatten sich Klimawissenschaftlerinnen um die Antarktis keine unmittelbaren Sorgen gemacht. Man wusste natürlich, dass die Eisschmelze irgendwann auch am Südpol zum Problem werden könnte, aber rechnete mit Hunderten, eigentlich Tausenden von Jahren, bis es soweit sein würde. Die Antarktis ist immerhin der kälteste Ort auf der Erde, und abgesehen von einigen Regionen der nach Norden ragenden Antarktischen Halbinsel war sie über die letzten Jahrzehnte auch nicht überdurchschnittlich wärmer geworden – warum also sollte sie dann abschmelzen?

Ganz anders ihr Gegenpart auf der Nordhalbkugel, die Arktis.

Die beiden Pole der Erde unterscheiden sich erstaunlich stark voneinander. Der Südpol, also die Antarktis, ist ein Kontinent umgeben von einem Ozean, und darüber liegt kilometerdickes Eis. Der Nordpol, also die Arktis, ist ein Ozean umgeben von Land und bedeckt mit einer dünnen Eisschicht, die sich jedes Jahr neu aus Meerwasser bildet.

Die Arktis erwärmt sich fast viermal schneller als der Rest der Welt. In vier Jahrzehnten hat der Arktische Ozean, also das Wasser rund um den Nordpol, beinahe die Hälfte seiner Eisfläche verloren. Lange dachte man: Wenn von einer Polarregion eine unmittelbare Bedrohung ausgeht, dann von der Arktis.

Das Jahr 2014 änderte alles. Der Nasa-Wissenschaftler Thomas Wagner, der mit Satelliten die bahnbrechende Forschung jener Zeit begleitet hatte, formulierte es mit den dramatischen Worten: «Es geschieht wirklich.»

Seither lautet die Frage nicht mehr, ob die Westantarktis schmilzt. Sondern wann.

«How much, how fast?» – Alle Wissenschaftler:innen, mit denen wir über den Thwaites-Gletscher sprechen, sagen irgendwann diesen Satz. Wie viel, wie schnell? Es ist auch die Leitfrage der grössten und teuersten Forschungsexpedition, die je in die Antarktis unternommen wurde. Zweihundert Mitarbeitende, sechzig Millionen Dollar, neun verschiedene Projekte: Das ist die ITGC, die International Thwaites Glacier Collaboration.

Anna Wåhlin ist ein kleiner, aber wichtiger Teil davon.

Ein anderer ist Ted Scambos.

Scambos lächelt spitzbübisch, als er sich während eines Glaziologiekongresses im Sommer 2022 in Davos zu uns an den Tisch setzt. Das einzige, was den Forscher von der University of Colorado noch mehr beschäftigt als das Abschmelzen der Westantarktis, ist das NHL-Eishockeyteam der Colorado Avalanche. Und das steht gerade kurz vor dem ersten Gewinn des Stanley-Cups seit einundzwanzig Jahren.

Scambos, ein Endfünfziger mit wachen Augen und grauem Haar, ist einer der Köpfe hinter dem Thwaites-Forschungsprojekt und hat massgeblich dazu beigetragen, dass Grossbritannien und die USA viel Geld dafür bereitstellten.

Doch was heisst schon viel?

«Wir werden in den nächsten Jahrzehnten hunderte Milliarden ausgeben, um unsere Städte vor dem ansteigenden Wasser zu schützen», sagt Scambos. «Aber die Antarktis besser zu verstehen ist uns nur ein paar Millionen wert?»

Er schüttelt den Kopf, kann es wirklich nicht begreifen, dann sagt er: «Lassen Sie es mich so erklären: Ich unterstütze den Traum von Elon Musk, zum Mars zu gelangen. Aber die Idee, dass dort Milliarden Menschen leben können, ist einfach Unsinn. Das wird nie passieren. Warum geben wir dann dafür Geld aus, aber nicht für die Erforschung der Antarktis? Wo wir doch wissen, dass die Zukunft der Erde von der Antarktis abhängt und nicht vom Mars!»

Früher dachte auch Scambos anders. Seine Doktorarbeit handelte von Meteoritenüberresten vom Mars, die man auf der Erde gefunden hatte. Doch nach drei Jahren bei der Nasa wurde ihm etwas klar: «Es gibt viele unentdeckte Planeten, aber die werde ich nie betreten», sagt er uns. «Zugleich gibt es diesen Kontinent auf der Südhalbkugel, über den kaum jemand etwas weiss, den ich aber untersuchen und sogar bereisen kann.» So wurde Ted Scambos Glaziologe.

Den Wunsch, nicht nur zu forschen, sondern auch zu entdecken, erkennt er heute bei vielen Glaziologen. Man schreibt nicht nur Paper, man erlebt Abenteuer. «Es beglückt dein Herz, ich kann es nicht anders sagen.»

In drei Jahrzehnten als Forscher war Scambos zweiundzwanzigmal in der Antarktis, im Januar 2020 zum ersten Mal auf dem Thwaites-Gletscher.

Auf Satellitenaufnahmen sieht die Antarktis beinahe niedlich aus, weil es ohne bekannte Vergleichsgrössen schwerfällt, die Verhältnisse richtig einzuordnen. Und wenn man Weltkarten betrachtet, ist die Antarktis nur ein weisser Strich am unteren Bildrand. Doch die Antarktis ist riesig. Fast doppelt so gross wie Australien.

Es gibt, erzählt uns Ted Scambos, einen einfachen Trick, wie man sich die Antarktis vor Augen führen kann: Ballen Sie die linke Hand zur Faust, und strecken Sie den Daumen weg, als wollten Sie Autostopp machen. Dann halten Sie die Hand so, dass Sie die Innenseite sehen. Sie betrachten nun die drei Regionen, die den antarktischen Kontinent bilden.

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Ihr Daumen ist die Antarktische Halbinsel. Sie ist sehr gebirgig und etwa 1200 Kilometer lang. Ihre Spitze ragt über den südlichen Polarkreis hinaus und liegt nahe der Südspitze von Südamerika. Es ist der am weitesten vom Südpol entfernte Punkt der Antarktis.

Die Finger, die sich in den Handballen krallen, bilden die Ostantarktis. Sie allein ist schon grösser als Australien und macht den weitaus grössten Teil des antarktischen Festlandes aus. Hier liegt das Eis weitestgehend auf felsigem und gebirgigem Untergrund.

Der freiliegende Teil des Handballens schliesslich ist die Westantarktis, getrennt von der Ostantarktis durch das vom Eispanzer fast komplett überdeckte Transantarktische Gebirge mit seinen bis zu 5000 Meter hohen Erhebungen. Die Westantarktis ist kleiner als die Ostantarktis, aber immer noch gut sechsmal grösser als Deutschland. Am westlichen Ende der Westantarktis befindet sich der Thwaites-Gletscher, um den es in diesem Text geht, der breiteste Gletscher der Welt. Ein Eismonster so gross wie Grossbritannien. Er ist nur schwer zu erreichen, sogar der Wissenschaftler, nach dem er benannt ist, war selbst nie da: Fredrik Thwaites (1883–1961), ein amerikanischer Gletscher-Geologe der University of Wisconsin-Madison.

Erst fünfundsechzig Jahre ist es her, dass erstmals ein Mensch einen Fuss auf diesen Gletscher setzte. Seither sind nicht mehr als einige Hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazugekommen. Zum Vergleich: In die übrige Antarktis reisen jährlich 10’000 Forscherinnen, dazu etwa 50’000 Touristen.

Zwischenfrage: Wem gehört eigentlich die Antarktis? Die kurze Antwort lautet: niemandem.

Die Lage ist etwas komplizierter.

Sieben Länder erheben in der Antarktis Besitzansprüche. Argentinien und Chile fordern Gebiete im Westen mit dem Argument, diese gehörten zum gleichen Festlandsockel wie ihre Länder. Frankreich, Grossbritannien und Norwegen beanspruchen für sich gigantische Gebiete in der ganzen Antarktis, weil ihre Landsleute Teile der Antarktis im Laufe des 19. Jahrhunderts entdeckten. Neuseeland und Australien fordern ihren Anteil mit Verweis auf Forschungsstationen und durchgeführte Expeditionen. Die USA und Russland hegen keine Besitzansprüche, erkennen aber auch keine Ansprüche anderer Staaten an. Dazu kommen Belgien, Japan und Südafrika, die ebenfalls keine territorialen Ansprüche in der Antarktis haben, aber mitreden dürfen, weil sie dort schon lange Forschung betreiben.

Lange war die Lage gelinde gesagt verworren. Umso faszinierender die Lösung dieses Knotens:

Um Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen, ratifizierten alle diese Staaten im Jahr 1959 den Antarktis-Vertrag. Ein aus heutiger Sicht unfassbar visionäres Abkommen, mit dem beschlossen wurde, dass die Antarktis nicht zur kommerziellen, sondern ausschliesslich zur wissenschaftlichen Nutzung bestimmt sein soll.

Atomwaffentests, die Entsorgung von radioaktivem Abfall, militärische Aktionen: alles verboten.

1991 wurde der Vertrag um eine Ökoklausel erweitert. Seither ist die Antarktis ein dem Frieden und der Forschung gewidmetes Naturreservat. Die Zahl der Vertragsstaaten ist inzwischen auf 55 angewachsen, darunter sind 29 sogenannte Konsultativstaaten. Diese Staaten führen in der Antarktis in grossem Umfang Forschung durch und sind deshalb auf den regelmässig stattfindenden Konsultativtagungen stimmberechtigt. Und das ist zentral. Denn auf diesen Konferenzen werden Grundsätze und Ziele des Vertrags jeweils nach dem Einstimmigkeitsprinzip überarbeitet und ergänzt.

Die Antarktis ist heute der letzte Kontinent der Erde, auf dem noch kein Bergbau und keine Erdölbohrungen stattgefunden haben. Die Antarktis ist, wenn man so will, der letzte friedliche Ort der Welt. Eine utopische Gegend, wo alle Menschen am gleichen Ziel arbeiten: der Rettung der Erde.

Nicht ganz.

Denn die Umweltklausel läuft 2048 aus.

Danach kann, wenn sich alle Konsultativstaaten darauf einigen, zum Beispiel das Schürfverbot aufgehoben werden. Schon jetzt wehrt sich China, unterstützt von Russland, gegen neue Meeresschutzgebiete rund um die Antarktis.

Dafür dass die Antarktis der einzige Kontinent auf der Welt mit null Einwohnern ist – abgesehen von einigen hundert Wissenschaftlerinnen, die auch im Winter dort ausharren, und einer kleiner chilenischen Siedlung –, ist es erstaunlich, wie viele internationale Flughäfen es gibt: um die zwanzig. Dazu kommen über achtzig Forschungsstationen. Das akademische Interesse an diesem unwirtlichen Ort ist enorm. Auf King George Island, ganz im Norden der Antarktischen Halbinsel, liegen die Stationen dicht an dicht. Hier grenzt Südkorea an Argentinien, Ungarns Basis ist gleich bei der russischen. Polen und Ecuador sind Nachbarn.

Es ist nicht falsch zu sagen, dass die Welt hier unten enger zusammengerückt ist. Richtig ist aber auch, dass nicht alle nur wegen des Klimawandels da sind. Denn in vielen Regionen der Antarktis ist die Geologie hinreichend bekannt, um Annahmen über das Rohstoffpotenzial zu treffen. Man weiss, dass es zum Beispiel im Transantarktischen Gebirge Kohle gibt und in den ostantarktischen Prinz-Charles-Bergen Eisenerz. Zudem vermutet man, dass auch Metalle wie Nickel, Kupfer und Platin zu finden sind. Vor allem aber: Erdöl und Erdgas. Einer der aggressivsten Player hier unten ist China. In jüngster Zeit liess das Land vier Forschungsstationen errichten, eine fünfte wird folgen. Und wegen China wurde diesen Sommer beim Treffen aller am Antarktis-Vertrag beteiligten Nationen erstmals ein Abschlussdokument nicht einstimmig verabschiedet.

Der letzte unbewohnte, unbesetzte, friedliche Ort der Welt droht zum Schauplatz eines brutalen Kampfs um Rohstoffe zu werden.

Im Dorf, in dem der Glaziologe Martin Truffer aufgewachsen ist, weiss man, was es heisst, von einem Gletscher bedroht zu sein. Aber nicht so, wie Sie an diesem Punkt der Geschichte vielleicht denken. In Gasenried im Walliser Mattertal fürchtete man sich nicht wie beim Thwaites-Gletscher vor einem Rückgang des Eises. Man fürchtete sich vor seiner Ausbreitung.

Gasenried liegt in der trockensten Region der Schweiz, seit Jahrhunderten ist man dort für die Landwirtschaft auf Wasser vom Riedgletscher angewiesen, das man über Suonen – das sind historische Wasserleitungen – vom Riedbach abzweigt. Doch während der Kleinen Eiszeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts stiess der Gletscher so weit vor, dass er die Suonen beschädigte und kein Wasser mehr floss.

Dr. Martin Truffer in seinem Büro an der University of Alaska Fairbanks.

Seither hat der Gletscher zwar mehr als eineinhalb Kilometer seiner Länge eingebüsst und alle Suonen wieder freigegeben – der grösste Teil des Rückgangs geschah in den letzten drei Jahrzehnten –, doch als wir Martin Truffer an einem warmen Augustnachmittag in Gasenried besuchen, führt er uns dennoch als Erstes zur Schalbetten-Kapelle aus dem 17. Jahrhundert. Dort betete man um göttlichen Schutz vor dem Riedgletscher.

Dann macht sich Truffer mit uns auf den Weg zum Gletscher. Oder zu dem, was davon übrig ist. Er schleicht den steilen Hang hoch mit einer ökonomischen Ruhe und Kraft, wie man sie wohl nur in den Bergen lernt.

Oder im Eis.

Martin Truffer, dreiundfünfzig Jahre alt, winkt ab, wenn man ihn so bezeichnet, aber es stimmt: Er ist einer der renommiertesten Glaziologen der Welt. Er forscht in der Arktis und auf Grönland und war schon zehnmal in der Antarktis. Nur noch selten ist er in der Schweiz, er lebt mit seiner Familie in Fairbanks im US-Bundesstaat Alaska, wo er als Uniprofessor arbeitet. Ende 2019 betrat er als erster und bisher einziger Schweizer den Thwaites-Gletscher.

Davon will er erzählen, als wir ihn im Aufstieg zum Riedgletscher keuchend um eine Pause bitten.

Er sagt: «Mit jedem Abschnitt wird die Reise komplizierter. Und die Flugzeuge werden kleiner.»

Die erste von drei Etappen zum Thwaites-Gletscher beginnt in Christchurch, Neuseeland, mit einer C-17 der US-Luftwaffe, einem der grössten Lastflugzeuge der Welt, mit dem die Amerikaner letztes Jahr Menschen aus Kabul evakuierten.

Nach etwa fünf Stunden erreicht man die McMurdo-Station ganz im Westen der Westantarktis. Es ist die grösste Logistikbasis auf dem Kontinent, sie sieht aus, als wäre auf dem Mond ein amerikanischer Parkplatz mit ein paar Lagerhallen aufgebaut worden. Die Stimmung, so erfahren wir, erinnert aber eher an eine deutsche Kneipe: etwas ruppig, aber eigentlich nett gemeint.

Wer in der Antarktis forscht, hat in der Regel eine ganze Equipe dabei, ein sogenanntes Betriebsteam: Köchin, Funker, Ärztin. Und dann braucht es noch jemanden, der alles kann. Eine Art Multi-Ingenieur, der bei minus 40 Grad nicht die Nerven verliert, falls die Elektroheizung aussteigt oder die Spannriemen reissen, mit denen die Kisten während der Traverse auf den Schlitten gehalten werden.

Der Multi-Ingenieur von Martin Truffer heisst Dale Pomraning. Als wir mit ihm über Zoom sprechen, steht er gerade in seiner vollgepackten Daniel-Düsentrieb-Werkstatt in Alaska und schraubt an etwas herum, von dem wir auch nach dem dritten Nachfragen nicht verstehen, was es ist. Zwischendurch verschwindet er ein paar Minuten aus dem Bild, weil er etwas im Lager holen muss. Er ist der Typ Mensch, der einem, wenn man nach dem Weg zum Bahnhof fragt, erklärt, wie die Eisenbahn erfunden wurde. «Ich bin immer etwas durcheinander», gesteht er uns, «mich sollte man wirklich nicht auf Expeditionen mitnehmen.»

Martin Truffer sagt: «Wenn im Eis der Stromgenerator ausfällt, bist du verloren ohne Dale.»

In McMurdo müssen Forscher wie Martin Truffer und das Betriebsteam zwei Dinge erledigen. Erstens müssen sie ein von den Amerikanern vorgeschriebenes Antarktis-Überlebensprogramm absolvieren: Wie baue ich im Schneesturm ein Zelt auf? (Schwierig.) Wie rette ich jemanden aus einer Gletscherspalte? (Superschwierig.) Wie finde ich zur Basis zurück, wenn ich mich mit dem Schneemobil verfahren habe? (Unmöglich.) Und zweitens: warten. Weil Starts und Landungen in der Antarktis auf Sicht erfolgen, also ohne Navigationsinstrumente und Flugüberwachungsgeräte, braucht man gutes Wetter. Truffer und sein Team harren im Jahr 2019 vier Wochen tatenlos aus, bis es endlich losgehen kann.

Als sich die Stürme gelegt haben, besteigen sie eine C-130 Hercules. Das ist ein ziemlich altes Flugzeug. Montiert man ihm Ski am Fahrgestell, kann es fast überall in der Antarktis aufsetzen. Mit Truffer an Bord fliegt die Hercules in Richtung Osten los.

«Du siehst nur weiss», sagt Truffer knapp. «Ewig lang.»

Andere, mit denen wir sprechen, sind redseliger. Der Amerikaner Ted Scambos formuliert es so: «In der Antarktis ist alles grösser, als man denkt. Die Eisfelder, die Spalten, die Berge am Horizont – alles ist grösser und weiter weg, als es scheint. Alles ist riesig. Von oben ist die Eisdecke glatt und makellos, wunderschön und perfekt weiss. Kleine Wirbel von Schneedünen bedecken die Oberfläche. Aber wenn man sich dem Rand der Eisdecke nähert, entsteht ein Gefühl von enormer Intensität. Man sieht Risse in der Oberfläche, manchmal gleichmässig wie ein Waschbrett, manchmal ein komplettes Chaos aus Spitzen und Graten, die das blassblaue kristalline Herz des Eises darunter enthüllen.»

Scambos beschreibt eine verdrehte, zerrissene Landschaft, deren Ausmass immer grösser wird, je tiefer das Flugzeug fliegt. Aus den Spalten und Rissen, die von oben wie Linien aussehen, würden beim Näherkommen Schluchten, in denen Hochhäuser verschwinden könnten. Unter dem Eis, so Scambos, lauere eine unbändige Kraft, die mühelos Tausende von Tonnen hebe: «Man hat das Gefühl, die Landschaft sei in ständiger Bewegung.»

Die Reise in der Hercules dauert sechs Stunden und führt Truffer und sein Team zu einer letzten Zwischenstation: einem kargen Camp auf 2000 Metern über Meer, das auf der Grenze zweier westantarktischer Eisströme liegt. Auf der einen Seite fliesst das Eis ins Rossmeer, auf der anderen Seite ins Weddellmeer. Das Camp besteht aus Containern und ist der letzte Aussenposten der Zivilisation, bevor man auf dem Thwaites-Gletscher sich selbst überlassen ist.

Für diese abschliessende Etappe kommt eine Twin Otter zum Einsatz. Das ist eine kleine Propellermaschine, die für sehr kurze Start- und Landebahnen optimiert ist. Der Flug dauert noch einmal zwei Stunden. Dann – nach einer Netto-Flugzeit von etwa dreizehn Stunden seit der Abreise in Neuseeland – landet man auf dem Thwaites-Gletscher. Im Nichts.

Um herauszufinden, wie schnell der Gletscher schmilzt, reicht es nicht, ein paar Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an einen abgelegenen Ort zu fliegen. Sie benötigen tonnenweise Spezialausrüstung und Zehntausende Liter Treibstoff, aber auch Zelte, Campingausrüstung, Lebensmittel. Ted Scambos sagt uns, dass man während einer Antarktisexpedition drei- oder viermal mehr isst als normal. Und trotzdem noch Gewicht verliert, weil der Körper so viel Energie verbraucht, um warm zu bleiben.

Als wir einen Logistiker, der seit dreissig Jahren Expeditionen in die Antarktis begleitet, fragen, was die grösste Herausforderung sei, antwortet er: «Sie haben dort keinen Baumarkt.»

Was er damit meint: Wenn uns zu Hause etwas kaputtgeht, können wir es einfach neu kaufen. Und wenn es Sonntag ist, gehen wir halt am Montag. In der Antarktis kann man das nicht. Bei der Vorbereitung ist daher die entscheidende Frage: Was, woran ich noch nicht gedacht habe, könnte passieren?

In der Antarktis sind die einfachsten Dinge kompliziert. Wasser machen zum Beispiel. Bei uns kommt es aus der Leitung. In der Antarktis muss man für einen Liter Wasser sieben Liter Schnee schaufeln und schmelzen.

Oder die Kleidung. Bei minus 40 Grad Celsius besteht die – von innen nach aussen – aus: normaler Unterwäsche, Thermounterwäsche, Fleecehose und -jacke und zuletzt einem gefütterten Overall, Tempex genannt. Sehr wichtig: Halsschutz, Gesichtsmaske, Mütze. Ein paar dünnere Handschuhe und drüber ein paar sehr dicke. An den Füssen: Wollsocken und klobige Stiefel mit dicken, manchmal beheizbaren Sohlen. Allein das Anziehen ist eine Herausforderung. Wenn man zu langsam ist, fängt man an zu schwitzen, bevor man fertig ist. Draussen frieren einem dann die Wimpern und der Schweiss auf dem Gesicht ein.

Weil das Flugzeug nicht alles Material transportieren kann, fahren häufig ein paar Pistenbullys voraus, die tonnenschwere Schlitten ziehen, darauf minimal ausgerüstete Wohncontainer. Solche Expeditionen heissen Traversen, sie können mehrere Tausend Kilometer durch einige der unwirtlichsten und stürmischsten Gegenden der Erde führen. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 10 km/h. Allein um eine mittelgrosse Traverse am Laufen zu halten, schleppt man sechs Tonnen Ersatzteile mit.

Die zweitgrösste Gefahr auf einer Traverse sind Gletscherspalten. Man hat einen Radar (der oft ausfällt) und informiert sich auf Satellitenbildern (die irgendwie immer anders aussehen als die Landschaft vor einem). Die grösste Gefahr ist das Wetter. Wenn man in der Antarktis in eine sogenannte Drift gerät, einen Schneesturm, sieht man nichts mehr. Alles ist weiss. Man streckt die Hand aus – und sieht nicht einmal mehr die. Whiteout. Bei einer britischen Expedition, erzählt man uns, sei es einmal passiert, dass jemand zum Pinkeln rausging, nur drei bis vier Meter vom Pistenbully weg – und nie mehr zurückfand.

Kennt man diese Geschichten, versteht man, warum die Amerikanerinnen in der McMurdo-Station so darauf beharren, dass auch die erfahrensten Antarktisreisenden zum x-ten Mal das ganze Überlebensprogramm absolvieren und wirklich keine einzige der vielen Belehrungen und Lektionen auslassen.

Erst recht, wenn die Weiterreise so abenteuerlich ausfällt wie die von Martin Truffer zum Thwaites-Gletscher. Die Gegend, in der er Forschung betreiben will, ist nämlich von so vielen Spalten durchsetzt, dass eine Traverse mit Pistenbullys zu gefährlich wäre. Stattdessen fliegt wenige Tage vor ihm eine modifizierte DC-3 dorthin, eine Propellermaschine aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die zu den robustesten Flugzeugen der Welt zählt, und hinterlässt ein paar Tonnen Material.

Am 13. Dezember 2019 landen dann Truffer und sein Team. Sie befinden sich jetzt auf dem Eisschelf des Thwaites-Gletschers. Hier ist vor ihnen noch nie ein Mensch gewesen.

Als Erstes errichten sie Zelte. Schmelzen Schnee zu Wasser. Stellen Generatoren auf. Verlegen Kabel. «Es braucht viel, bis man hier nur schon überleben kann», sagt er.

Und dann beginnt die eigentliche Arbeit, Jahre nach den ersten Planungssitzungen und mehr als einen Monat nach dem Abschied von seiner Familie in Fairbanks. Aber viel Zeit bleibt nicht. In fünf Wochen ist es zum Arbeiten und vor allem Wegfliegen schon wieder zu dunkel und zu kalt.

Fünf Wochen, um so viel wie möglich über einen unbekannten Ort in Erfahrung zu bringen.

Mit einem Heisswasserbohrer wollen sie 400 Meter tiefe Löcher ins Eis schmelzen, um ans untere Ende des Eisschelfs vorzudringen und dort die Temperatur des Meerwassers zu messen. Sie hoffen, so herauszufinden, warum es das Eis so aggressiv angreift.

Nie zuvor hat das jemand auf einem so grossen und so dynamischen Gletscher getan. Die Expedition darf nicht schiefgehen. Von ihr hängt ab, wie die Wissenschaft die unmittelbare Gefahr einordnet, die vom Thwaites-Gletscher ausgeht: Wann zerbirst das Eisschelf? Wie lange hält der Bremsklotz? Darauf sucht Martin Truffer eine Antwort.

Er arbeitet viel, aber auf jeder Antarktisexpedition kommt irgendwann der Moment, in dem man innehält und die Eiswüste auf sich wirken lässt.

Ein Ingenieur sagt uns: «Wir sitzen beisammen. Der Generator ist ausgeschaltet. Niemand sagt etwas. Wenn es dann noch windstill ist, hört man gar nichts. Es ist erschreckend. Bewegt sich jemand, ist es so laut, dass alle zusammenzucken und sich umdrehen.»

Eine Logistikerin berichtet, die lange Zeit auf engstem Raum werfe einen auf sich selbst zurück. «Manche greifen zum Alkohol, andere verstummen. Viele verlieben sich. Die Antarktis ist ein Heiratsmarkt. Aber darüber sprechen wir nicht. Wir sagen: ‹What happens in Antarctica, stays in Antarctica.›»

Eine Forscherin mit viel Antarktiserfahrung erzählt: «Der intensivste Moment ist eigentlich die Rückkehr. Wochenlang sah man Weiss, hörte ausser dem Wind keinen Ton, war nur von wenigen Menschen umgeben. Ist man dann wieder zu Hause, sehnt man sich nach der Ruhe, dem langsameren Leben, der Einfachheit der Antarktis.»

Und Dale Pomraning, Truffers Ingenieur, sagt sanft: «Es ist Nacht. Ich liege im Zelt, endlich ist es windstill. Und wenn es windstill ist, ist es ganz leise. Es gibt keine Geräusche. Dann rede ich mit dem Eis. Aber es antwortet nicht.»

Doch zurück nach Gasenried, wo sich Martin Truffer mit uns im Schlepptau wieder auf den Weg zum Riedgletscher macht, nachdem wir zu Atem gekommen sind. Wir lassen die Baumgrenze hinter uns, wo er früher mit seinen Geschwistern über das Eis geklettert ist. Jetzt liegt hier Geröll.

Kennen Sie climate anxiety, Herr Truffer?, keuchen wir hinter ihm. Die Angst vor dem Ende, vor dem Weltuntergang?

«Die Menschen werden aussterben», antwortet er gelassen und ohne sich umzudrehen. «Aber die Erde – die wirds überleben.»

Warum haben Sie keine Angst?, fragen wir.

«Das ist wohl eine Charakterfrage», sagt er. «Soll ich den ganzen Tag auf Untergangsstimmung machen? So kann man nicht leben. Ich bin da vielleicht ein wenig schicksalsergebener als andere Leute … Ich sorge mich schon, wie es in der Welt läuft, wir Menschen machen riesige Dummheiten. Wir sind die erste Generation seit langem, die ihren Kindern eine schlechtere Welt hinterlässt. Wenn ich schaue, wie mein Vater aufgewachsen ist: Bis 1950 gab es in unserem Dorf keine Strasse, bis 1960 kein warmes Wasser. Lange wurde alles besser, aber das ändert sich gerade.»

Während unserer Recherche lernen wir, dass es zwei Arten von Glaziologinnen gibt: Die einen haben sich zuerst für Gletscher interessiert und dann fürs Klima. Bei den anderen ist es umgekehrt.

Martin Truffer zählt zu ersteren, was ihn in den Augen von Skeptikern vielleicht zu einem etwas glaubwürdigeren Zeugen macht.

Er sagt: «Alaska, Grönland, Antarktis – überall, wo ich in den letzten dreissig Jahren hinkam, sah ich Entwicklungen, von denen wir noch im Studium lernten, dass sie nicht möglich sind. Oder frühestens in tausend Jahren. Dinge, die nie passiert sind, passieren jetzt.»

Viel später, als wir uns nach dem Abstieg vom Berg in die Dorfbeiz setzen, erzählt uns Martin Truffer von einem Bericht des Weltklimarats aus den frühen Neunzigerjahren, der ihm kürzlich wieder in die Finger gekommen ist. «Im Rückblick betrachtet ist es absolut lächerlich, wie amateurhaft die Prognosen damals waren. Man war sich so sicher, dass noch lange nichts geschehen würde … Man hatte keine Ahnung.»

Gibt es eigentlich Forschende, die nicht an den menschengemachten Klimawandel glauben?, fragen wir.

«Ich habe kürzlich in einer Studie gelesen», antwortet er, «dass 60 Prozent der Menschen an den menschengemachten Klimawandel glauben. Bei Wissenschaftlern seien es hingegen 99 Prozent. Wenn ich meine Kolleginnen und Kollegen anschaue, also die Menschen, die wirklich am Thema forschen, sind es 100 Prozent.»

Eine Sache haben wir bisher ausgeklammert: die Frage, warum sich das Wasser, das den Thwaites-Gletscher angreift, eigentlich erwärmt.

Vereinfacht gesagt hat es mit der Erderwärmung zu tun. Aber einfach, das werden Sie in der Zwischenzeit gemerkt haben, ist hier überhaupt nichts.

Die Frau, die uns in das Rätsel der Meereserwärmung einführt, ist die Ozeanografin Julia Wellner von der University of Houston. Jene Frau, die wir – vielleicht erinnern Sie sich – am Anfang des Textes gegoogelt haben. «Ich habe mehr oder weniger mein ganzes Berufsleben damit verbracht, darüber nachzudenken, warum das Wasser vor dem Thwaites-Gletscher wärmer wird», sagt sie uns zur Begrüssung. Sie ist eine Antarktis-Veteranin. Dreizehnmal war sie dort, davon viermal auf dem gebrechlichen Gletscher.

«Es ist wirklich schwer zu begreifen, wie gross der Thwaites-Gletscher ist, weil man ihn mit nichts menschlich Gemachtem vergleichen kann, was man zuvor gesehen hat», sagt sie. «Vom Meer kommend erhebt er sich vor dir wie eine endlose Wand. Er ist so sauber und klar. Und er ist so weiss. In Norwegen oder in den Alpen sind die Gletscher ja oft schmutzig …»

Wir reissen die Professorin aus ihren Schwärmereien: Frau Wellner, die Antarktis schmilzt aufgrund der veränderten Atmosphäre, aber …

«Halt, Stop!», unterbricht sie uns. «Man kann nicht sagen, die Antarktis schmelze wegen der Erderwärmung.» Was man sagen könne, so Wellner, sei Folgendes:

Der Rückzug des Thwaites-Gletschers scheint mit einem grösseren Gletscherrückzug in der Region zu korrelieren. Der auf regionale Erwärmungen im Meerwasser zurückzuführen ist. Die auf grössere Veränderungen im Wind- und Sturmmuster in der südlichen Hemisphäre zurückzuführen sind. Die wiederum von der menschengemachten Klimaveränderung ausgelöst wurden.

«Alles klar, Jungs?» Julia Wellner zwinkert.

Und erklärt uns die Kette noch einmal langsamer und in umgekehrter Reihenfolge.

Wenn das Sonnenlicht die Erdoberfläche erreicht, absorbieren die Weltmeere einen Grossteil dieser Energie und speichern sie als Wärme. Wasser hat eine viel höhere Wärmekapazität als Luft, weshalb die Ozeane grosse Mengen an Wärmeenergie absorbieren können, ohne dass die Temperatur stark ansteigt. 

Bisher haben die Ozeane mehr als neunzig Prozent der zusätzlichen Wärme aufgenommen, die wegen des menschengemachten Klimawandels entstanden ist. Das puffert die Erderwärmung ab. Doch das Wasser wird ebenfalls wärmer und dehnt sich aus, was zum Anstieg des Meeresspiegels beiträgt.

Aber was Wellner am meisten interessiert: Die Wärme des Oberflächenwassers der Ozeane liefert die Energie für Stürme und verändert die Meeresströmungen, weil viele Strömungen durch Temperaturunterschiede angetrieben werden. Und all diese Dinge wirken nun auf das Südpolarmeer rund um den antarktischen Kontinent.

Es klingt etwas absurd, aber um dieses Phänomen zu verstehen, muss man Millionen Jahre zurückblicken: Auf zwei für die Entstehung der Antarktis besonders prägende Ereignisse.

Die Antarktis war nämlich nicht immer ein vereister Kontinent. Als die antarktische Landmasse zusammen mit dem heutigen Südamerika, Afrika, Indien und Australien noch den Superkontinent Gondwana bildete, prägten Flüsse, Seen und Wälder die Region – so nimmt man es heute an. Vor etwa 180 Millionen Jahren setzten dann Zerfallserscheinungen ein, angetrieben von Vulkanausbrüchen, Rissen in der Erdkruste und Driftbewegungen.

Der erste für die Antarktis entscheidende Spreizungsprozess vollzog sich vor etwa 35 Millionen Jahren: Zwischen der Antarktischen Halbinsel und Südamerika öffnete sich die Drake-Passage, eine Meeresstrasse, die heute 800 Kilometer breit ist und den Pazifik mit dem Atlantik verbindet. Eine zweite Meeresstrasse bildete sich einige Millionen Jahre später im Osten, als sich von der Antarktis noch die letzten heute zu Australien gehörenden Landteile lösten. Diese Passage machte den Weg frei für kaltes Tiefenwasser aus dem Südlichen Ozean, das nun ungestört hindurchströmen konnte.

So konnte der sogenannte antarktische Zirkumpolarstrom – Fachleute reden vom ACC – entstehen, eine ringförmige, kalte Meeresströmung, die um die Antarktis fliesst.

Der Kontinent war dadurch klimatisch vom Rest der Welt isoliert, und so begann die Vereisung. Zuerst in den Hochlagen der Antarktis, dann immer weiter nach unten wandernd. Aus Gebirgsgletschern wurden Eiskappen, und daraus entstand der grosse Eisschild. Seither haben auch längere Wärmeperioden der Antarktis nichts anhaben können. Über elf Millionen Jahre ist sie stets komplett vereist geblieben – sogar in Klimaphasen, als es auf der Erde mehr als fünf Grad wärmer war als heute.

Der Grund: Wegen des Zirkumpolarstroms erreichte kein warmes Wasser aus dem Norden die Küsten des Südpols.

Bis vor kurzem.

Denn der Zirkumpolarstrom hat sich verändert. Er ist schneller geworden. Und wärmer. Höchstwahrscheinlich weil vermehrt wärmeres Wasser aus dem Norden eindringt – das ist Teil der Kette, von der Wellner vorhin sprach.

In weiten Teilen der Antarktis ist das noch kein grösseres Problem, weil das warme Wasser des Zirkumpolarstroms dort vom Kontinentalschelf blockiert wird (das ist der seichte, küstennahe Meeresboden). Oder weil sich der Eisschild über dem Meeresspiegel befindet. Aber an einer Stelle hat das wärmere, schnellere Wasser ein Schlupfloch gefunden: beim Thwaites-Gletscher.

Julia Wellner strahlt. Es befriedigt sie, wenn die Forschung Antworten findet. Auch wenn sie Unheil verkünden.

Der Grund, warum etliche hochdekorierte Forscherinnen und Forscher ausgestattet mit sechzig Millionen Dollar und den neuesten Gerätschaften seit Jahren an einem abgelegenen Gletscher herumwerkeln, ist offensichtlich: Das Sterben des Thwaites-Gletschers wird das Leben von uns Menschen auf diesem Planeten für immer verändern.

Wenn der Gletscher auseinanderbricht und ins Meer rutscht, ist das an sich schon eine Katastrophe. Denn der Meeresspiegel wird dadurch um 60 Zentimeter ansteigen. 60 Zentimeter klingt nach nichts. Man versteht es besser, wenn man es im Verhältnis betrachtet.

Im 18. Jahrhundert ist der Meeresspiegel um 2 Zentimeter gestiegen.

Im 19. Jahrhundert um 6 Zentimeter.

Im 20. Jahrhundert – also seit der Mensch in grossem Stil fossile Energie verbrennt – um 19 Zentimeter.

Bis Ende des 21. Jahrhunderts rechnet man nun mit einem Meter.

Aber das seien genau genommen Peanuts im Vergleich zu dem, was danach folgt. Sagt Anders Levermann. Der neunundvierzig Jahre alte Physikprofessor erforscht an der Universität Potsdam den Klimawandel, aber auch die Klimawandelfolgen.

Was danach kommt: Der Thwaites-Gletscher wird den Weg frei machen für das Eis der Westantarktis.

Rutscht die Westantarktis ins Meer, bedeutet das einen Meeresspiegelanstieg von über drei Metern. Die Konsequenzen, auch wenn das dauert: Sturmfluten, Überschwemmungen – und Völkerwanderungen. Fast jeder zweite Mensch lebt weniger als 150 Kilometer vom Meer entfernt. Zehn Prozent der Menschheit lebt weniger als zehn Meter über dem durchschnittlichen Meeresspiegel. New York, London, Tokio, Istanbul sind dann überschwemmt. Venedig? Schon vorher.

Bisher stieg der Meeresspiegel wegen der Schmelze des grönländischen Eises und der Gebirgsgletscher und weil sich das Wasser ausdehnt, wenn es sich erwärmt. In Zukunft wird die Antarktis der grösste Treiber sein. Neunzig Prozent des weltweiten Eisvolumens befindet sich hier. Wenn wir also das Gletschersterben in der Schweiz beweinen, müssen wir uns immer bewusst sein: Das ist bedauernswert und lokal mitunter problematisch, auf den Meeresspiegel aber hat es so gut wie keinen Einfluss mehr. Dasselbe gilt für die Schmelze von freischwimmendem Eis, beispielsweise in der Arktis.

Die Szenarien sind nur schwer fassbar: Kurzfristig, eventuell noch dieses Jahrhundert, wird der Thwaites-Gletscher kollabieren (was, nur zur Wiederholung, 0,6 Meter Meeresspiegelanstieg bedeutet). Mittelfristig – manche Studien sagen in fünfhundert, andere in tausend Jahren – die Westantarktis (3,5 Meter). Und langfristig die Ostantarktis (rund 55 Meter, bis vielleicht in zehntausend Jahren). Würde also die gesamte Antarktis abschmelzen, stiege der Meeresspiegel um 60 Meter. Eine unglaubliche Zahl.

«So, wie wir uns heute an die Griechen der Antike erinnern, die uns die Demokratie gegeben haben, wird man in zweitausend Jahren von uns sprechen als jene, mit denen der Meeresspiegelanstieg anfing», sagt Anders Levermann mit viel Wärme und Ruhe in der Stimme, als wolle er einem Kind die Angst vor dem Einschlafen nehmen. Falls wir tatsächlich den Thwaites-Gletscher destabilisiert haben, wird es immer weitergehen. Die Westantarktis wird immer weiter Eis verlieren, bis nichts mehr da ist, und der Meeresspiegel wird immer weiter steigen. Über mehrere Hundert Jahre. Es ist ein unaufhaltsamer Prozess. Weil der Kipppunkt überschritten wurde.

Aber woher weiss Levermann das so sicher, wenn man nicht mal genau sagen kann, wann der Thwaites-Gletscher schmilzt?

«Das höre ich ständig: ‹Wie könnt ihr sagen, was in zweitausend Jahren ist, wenn ihr nicht mal wisst, was in achtzig Jahren passiert?› Ich erkläre das gerne so: Wenn ich einen Eiswürfel auf den Tisch lege, können wir uns darüber streiten, wie schnell er schmilzt. Aber wir werden uns nicht darüber streiten, ob er schmilzt.»

Tausend Jahre sind eine lange Zeit. Den allermeisten von uns ist es – seien wir ehrlich – egal, wie unsere Welt in tausend Jahren aussieht. Aber der Punkt, den Levermann macht, ist ein anderer. Jetzt gerade passiere etwas, das die Welt unaufhaltsam verändere. Wir bekommen das aber gar nicht mit, weil die Auswirkung davon mit einer Verzögerung eintritt.

Klimamodelle basieren auf komplexen Rechnungen. Ein Resultat davon ist diese Faustregel: Pro Grad Celsius Erwärmung steigt der Meeresspiegel auf lange Sicht um 2,5 Meter. Es ist ein Prozess: Die Luft kann sich schnell erwärmen, beim Wasser dauert es länger. Und bis das Wasser im Südpolarmeer das antarktische Eis schmilzt, vergeht noch mehr Zeit. Aber: Es geschieht.

2,5 Meter pro Grad Celsius also. Es ist eine Art Klimakennzahl, an der sich Entscheiderinnen in Politik und Wirtschaft orientieren können. Diskutiert wird sie im Bericht des Weltklimarats, dem IPCC-Report, von dem Anders Levermann lange einer der Hauptautoren war. Seit 1990 veröffentlicht der Klimarat alle fünf bis sieben Jahre diesen sogenannten Sachstandsbericht. Er ist gewissermassen der Goldstandard der Klimawissenschaft.

Es besteht ein weitreichender Konsens darüber, dass bei einer Begrenzung der globalen Erwärmung auf höchstens zwei Grad Celsius eine gefährliche Störung des Klimasystems durch den Menschen gerade noch vermieden werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es das Pariser Klimaabkommen. Levermanns Simulation zeigt, was das heisst: dass wir mit fünf Metern Meeresspiegelanstieg rechnen müssen. Und das heisst eben, dass Hamburg unter Wasser ist. Schanghai, Kalkutta, New York, Florida.

Noch der Klimabericht aus dem Jahr 2014 prognostizierte einen Meerespiegelanstieg von 0,5 bis 1 Meter bis ins Jahr 2100. Doch in diesen Berechnungen fehlte etwas, das nun im jüngsten Bericht als bedrohliche exponentielle Kurve auftaucht: ein Szenario unter Berücksichtigung des Thwaites-Gletschers.

Denn wenn die Westantarktis zu schmelzen beginnt, muss man davon ausgehen, dass der Anstieg um 1,1 Meter bereits im Jahr 2100 erreicht ist. Was heisst das dann für das Jahr 2300?

Die Autorinnen und Autoren des Klimaberichts sind besonnene Menschen. Hysterie und Weltuntergangsgeilheit sind ihnen so fern wie uns kurze Texte. Aber wenn es um den Thwaites-Gletscher geht, sprechen zum ersten Mal selbst die Konservativsten von Zahlen, die apokalyptisch klingen. Am Glaziologiekongress in Davos hören wir Helene Hewitt, eine der Hauptautorinnen des jüngsten Klimaberichts, sagen, dass der Meeresspiegel bis 2300 im schlimmsten Fall bis zu 16 Meter ansteigen könnte.

Es sind verstörende Zahlen. Sie sagen: Es passiert. Und es gibt nichts, was es verhindern könnte.

«Sie brauchen aber vor dem Meeresspiegelanstieg keine Angst zu haben», sagt Anders Levermann und lächelt wieder. «Man stirbt nicht zwingend daran. Man kann sich schützen. Aber wir zahlen einen Preis: Wir müssen unser Land aufgeben.» Die USA werden zehn Prozent ihrer Landfläche verlieren. In Grossbritannien müssten bei zwei Grad Erwärmung 10 Prozent der Bevölkerung ihren Wohnort aufgeben. In Ägypten 27 Prozent. In Vietnam 57 Prozent.

Aus dem Meeresspiegelanstieg resultiert aber nicht nur ein Verlust von Lebensraum, sondern auch ein Verlust von Kultur. Weltweit gelten knapp 900 Orte als Weltkulturerbe der Unesco. Wenn die Durchschnittstemperatur so bleibt, wie sie jetzt ist – also ein Grad mehr im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter –, dann werden früher oder später mindestens 40 davon im Wasser stehen. Wenn die Durchschnittstemperatur um drei Grad zunimmt, sind es schon 136.

Von den 25 grössten Städten der Welt liegen nur Delhi, Mexiko-Stadt, Peking, Moskau und Kinshasa nicht in Küstennähe. Wir werden ganze Städte verlieren, die wir über Jahrhunderte aufgebaut haben, sagt Levermann.

Wann das geschieht, ist unsicher, dass es geschieht, nicht.

Auch hier hilft das Bild vom Eiswürfel auf dem Tisch: Niemand kann sagen, wann genau er schmilzt, aber jedes Kind versteht, dass er irgendwann geschmolzen sein wird.

Dazu etwas Grundsätzliches: Wenn wir vom Anstieg des Meeresspiegels sprechen, meinen wir den «Global Mean Sea Level Rise». Das ist der Mittelwert, mit dem die Wissenschaft arbeitet. Doch tatsächlich verändert sich der Meeresspiegel nicht so regelmässig, wie wenn man die Badewanne mit Wasser füllt. Es gibt grosse regionale Unterschiede. Und auch die Auswirkungen sind unterschiedlich. Arme Länder sind stärker betroffen, weil ihnen die Mittel für einen wirksamen Küstenschutz fehlen. In Bangladesch leben etwa 20 Millionen Menschen in Gebieten, die weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel liegen. Und auch wenn das Meer noch nicht über den Damm kommt, heisst das nicht, dass eine Siedlung in Sicherheit ist. Ein steigender Meeresspiegel bedeutet eine Zunahme von Extremwetterereignissen. Es gibt mehr Stürme, Tornados, Überschwemmungen.

Und Folgen sehen wir bereits heute: Die Megaflut im Sommer dieses Jahres in Pakistan (mehr als 33 Millionen Menschen waren betroffen) hat man vielleicht noch knapp in Erinnerung. Aber allein diesen Herbst, so zitiert der Journalist Jonas Schaible den Flut-News-Dienst «FloodList», gab es Überflutungen nach Starkregen und Stürmen in Kambodscha, Vietnam, Nigeria (mehr als 1,4 Millionen Betroffene), Tschad (mehr als eine Million Betroffene), Kamerun, Mali, Niger (mehr als 200’000 Betroffene), Guinea, Kolumbien, Nicaragua, Honduras, Guatemala, Costa Rica, El Salvador, Panama, Venezuela (Dutzende Tote), in Indonesien, Trinidad, Ghana, Indien, Italien, Kroatien, Spanien, Thailand, Australien, Japan, auf den Philippinen, auf Kuba und Puerto Rico (ganze Insel ohne Strom) – «und wahrscheinlich fehlen immer noch Länder», schreibt Schaible.

Rund um die Welt beschäftigen sich Leute deshalb mit der Frage: Wie müssen Städte gebaut sein, damit dort auch in Zukunft Leben möglich ist?

Man könnte denken, dass die Arbeit der Glaziologinnen auf dem Thwaites-Gletscher für solche Planungen irrelevant ist. Man weiss, dass das Wasser kommt, also bereitet man sich jetzt darauf vor. Doch so leicht ist es nicht. Eine ganze Stadt umzubauen ist ein Milliardenprojekt. Dass es der Politik häufig schwerfällt, schon nur über die aktuelle Legislaturperiode hinauszudenken, macht die Sache nicht einfacher. Um wirklich bereit zu sein, müssen Entscheidungsträger darum zwei Dinge so exakt wie möglich wissen: Wie hoch steigt das Wasser in den nächsten Jahrzehnten? Und was ist das Schlimmste, das in den nächsten Jahrhunderten geschehen kann? Das eine ist eine kurzfristige Prognose. Das andere das Worst-Case-Szenario.

Darum ist es so wichtig, was die International Thwaites Glacier Collaboration herausfindet. Und darum sind die sechzig Millionen Dollar, die man in das Forschungsprojekt investiert, so verstörend. Weil es gemessen an der Bedeutsamkeit der Aufgabe lächerlich wenig Geld ist.

Es ist minus 20 Grad Celsius, wir tragen Thermohosen und Daunenjacken und schauen dem Glaziologen Olaf Eisen dabei zu, wie er eine gigantische Styroporkiste öffnet und einen tiefgefrorenen Kaiserpinguin hervorholt.

«Den haben wir bei der letzten Expedition gefunden», ruft er erfreut.

Wir befinden uns im Eislabor des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, einer europaweit einzigartigen Einrichtung zur Untersuchung von Eis. Weil im Eis Informationen über das Klima früherer Zeiten gespeichert sind, lange bevor der Mensch darauf einwirken konnte, bohrt man mit aufwendigen Methoden kilometertiefe Löcher in den antarktischen Eisschild. Dann entnimmt man Proben, sogenannte Eiskerne, und transportiert sie nach Bremerhaven ins Labor, wo sie analysiert und aufbewahrt werden.

Manchmal kommt auch ein Kaiserpinguin mit.

«Hier erkennen Sie einen Vulkanausbruch», sagt Olaf Eisen und deutet auf eine schwarze Schicht im ansonsten kristallklaren Eiskern. Ergriffen halten wir einen 15’000 Jahre alten Block in den Händen.

Olaf Eisen, fünfzig Jahre alt, war der erste Wissenschaftler, mit dem wir über den Thwaites-Gletscher gesprochen haben. Mit nachvollziehbaren Erklärungen und viel Geduld begleitete er unsere mehrmonatige Recherche. Meistens per Zoom, doch zum Schluss wollten wir ihn an seiner Wirkstätte in Bremerhaven treffen. Nach dem Besuch im Eislabor setzen wir uns in ein Restaurant in der Fussgängerzone von Bremerhaven, einer typischen norddeutschen Stadt. Eisen will mit uns nach einem langen Arbeitstag noch etwas essen.

Wir fragen, wie man die Klima-Dringlichkeit vermitteln soll.

«Alarmismus hat seine Berechtigung, aber Weltuntergangsnarrative bringen nichts», antwortet er. «Ganz krass gesagt: Nur Leid bringt etwas. Dürre in Frankreich. Sydney unter Wasser. Sturzflut in Deutschland. Lawinen auf Spitzbergen.»

Und wie schlimm steht es denn nun um den Meeresspiegelanstieg?

«Hm», murmelt Eisen und nimmt einen Schluck Bier. «Es gab diesen Artikel im Fachmagazin ‹Nature›, in dem die Frage gestellt wurde, ob wir uns in einem sogenannten planetarischen Notfall befinden, und falls ja, ob man das mathematisch belegen kann.»

Ausgangspunkt, so erklärt er, war die Formel, die auch Versicherungen benutzen, um Risiken einzuschätzen:

Risiko ist gleich Schaden mal Eintrittswahrscheinlichkeit. Und Gefahr ist gleich Risiko mal Reaktionszeit geteilt durch verbleibende Interventionszeit.

Wir schauen ihn ahnungslos an.

«Wenn unsere Reaktionszeit länger ist als die Zeit, die wir noch haben, um die Katastrophe abzuwenden, haben wir die Kontrolle verloren.» Er nimmt noch einen Schluck Bier. «Und in der Frage des steigenden Meeresspiegels muss man klar sagen, dass das nicht mehr kontrollierbar ist.»

Eisen erzählt uns von einem Vortrag, den er kürzlich in Spitzbergen hielt. Am Ende fragte jemand im Publikum: «Können wir dieses CO2 nicht wieder der Atmosphäre entziehen?» Das habe ihn sprachlos gemacht.

«Diese Leute, die immer noch glauben, man könne das technisch lösen. Wir haben kein Verfahren, das grossflächig funktioniert, um das Zeug aus der Atmosphäre zu holen.»

Eisen hat sich ein wenig in Rage geredet. Er atmet kurz durch und setzt noch einmal an:

«Wenn man bedenkt, welchen Aufwand man betrieben hat, um die Energie in den letzten hundertfünfzig Jahren aus dem Boden zu holen. Wir bräuchten nochmals hundertfünfzig Jahre, um sie wieder dorthin zu befördern. Aber diese Zeit haben wir nicht.»

«Solutionism», Machbarkeitsdenken, nennt man die technologische Lösungsideologie, wie sie im Silicon Valley gepredigt wird. Elon Musk glaubte, dass Elektroautos Verbrenner ablösen würden – und machte es einfach vor. Er wollte auf den Mars – und wird vielleicht auch das einfach tun. Aber das Abschmelzen der Westantarktis ist unabänderlich. Es gibt keine Methode, keinen Milliardär und schon gar keine App, die das stoppen wird.

Corona hat auch die Projekte der International Thwaites Glacier Collaboration durcheinandergewirbelt, Olaf Eisens erste Forschungsreise dorthin ist für nächstes Jahr geplant. Er wird von der Gründungslinie – das ist die Zone, wo der Eisschild ins Eisschelf übergeht – tausend Kilometer landeinwärts traversieren und mit seismischen Messungen den Untergrund erforschen. Ziel ist es, bessere Voraussagen über die Fliessgeschwindigkeit des Gletschers zu treffen.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten reist er in die Antarktis. Wir fragen ihn, wie es seine Familie aufnimmt, wenn er mehrere Monate weg ist.

«Ist ein bisschen schwierig», sagt er. «Die Kinder vermissen mich. Nicht alle Partnerschaften überstehen das, manche finden sich neu.»

Die Geschichte vom Heiratsmarkt Antarktis?, fragen wir halb im Witz.

«Ja», sagt Olaf Eisen trocken. «Es kommen auch gute Nachrichten von dort unten.»

Nach einem langen Gespräch erhebt er sich vom Tisch und will gehen. Wir bedanken uns, dass er sich so viel Zeit genommen hat. Dann dreht er sich unvermittelt noch einmal um:

«Nicht, dass ich nicht gerne mit euch reden würde, aber wenn man die Sachen wieder rekapituliert, dann wird man immer gleich so …»

«… deprimiert?», fragen wir.

«Nein, mein Gefühl ist eher fatalistisch: Entweder wir fahren die Welt gegen die Wand, und das wars, oder es gibt nur einen Totalschaden, aber wir können noch aussteigen.»

«Können Sie das im Arbeitsalltag auch mal ausblenden?»

«Naja, vielleicht denken wir ausnahmsweise ein paar Stunden nicht dran. Aber es vergeht kein Tag, an dem meine Partnerin und ich nicht darüber reden. Das ist schon hart.»

Auf der Heimreise mit der Deutschen Bahn haben wir wegen Verspätungen und Stellwerkstörungen viel Zeit zum Nachdenken. Monatelang haben wir uns mit dem Rückzug des Thwaites-Gletschers in der Antarktis beschäftigt, und nach jedem Gespräch, mit jeder neuen Zahl, mit jeder Einsicht fühlten wir uns hoffnungsloser, weil all die Berechnungen und Modelle in der Summe sagen: Egal was wir tun, es wird geschehen. Und das, was vor uns liegt, wird auf jeden Fall schlimmer sein als das, was wir kennen. Was wir in den Gesprächen aber auch lernten:

Genau diese Art des Denkens lähmt unsere Fähigkeit, etwas zu tun, und lässt uns in eine Untergangsgeilheit abrutschen, die man in dem Satz fassen kann: Wenn wir nur aufhören zu hoffen, kommt das, was wir befürchten, bestimmt.

Tatsächlich aber gibt es Hoffnung. Denn je besser wir den Thwaites-Gletscher verstehen, desto genauer können wir den Meeresspiegelanstieg vorhersehen, und desto besser können wir uns davor schützen. Der Thwaites-Gletscher ist nicht der Untergang der Menschheit, er ist ein Weckruf, dass wir unser Leben verändern müssen. Jetzt.

Einige Tage später mailt uns Olaf Eisen eine Folie, die er in seinen Vorträgen zeigt. Der Gedanke darauf stammt von Anthony Leiserowitz, einem Forscher an der Yale University, der versuchte, den Klimawandel in fünf Sätzen zu erklären:

It’s real. It’s us. Experts agree. It’s bad. There’s hope.

Es ist wahr. Wir sind verantwortlich. Die Fachleute sind sich einig. Es ist schlimm. Es gibt Hoffnung.

Die Hoffnung, erklärt Eisen, bestehe darin, dass wir jetzt reagieren können, damit nicht noch mehr Menschen sterben.

Gerade als wir die Recherche abgeschlossen hatten und meinten, ein Bild von der Zukunft der Welt zu haben, lasen wir diese Nachricht: Der Denman-Gletscher in der Ostantarktis droht ebenfalls zu kollabieren.

Bis vor kurzem war man davon ausgegangen, dass die Ostantarktis, anders als der Westen, noch Tausende Jahre stabil sein würde. Nun deuten einige Studien darauf hin, dass auch dieser Teil des Kontinents von warmem Wasser unterspült wird.

Das Eisvolumen des Denman-Gletschers entspricht einem Meeresspiegelanstieg von anderthalb Metern.

Was wir gerade erleben, ist so schon einmal geschehen: Vor über 14’000 Jahren, am Ende der letzten Eiszeit, sind ebenfalls grosse Eismassen in Nordamerika, Skandinavien und teilweise der Antarktis abgeschmolzen und haben einen Anstieg des Meeresspiegels um rund achtzehn Meter verursacht. Die Forschung hat dem Ereignis in ihrer unnachahmlich poetischen Art den Namen «Schmelzwasserpuls 1A» verpasst.

In einer Sache unterscheidet sich der damalige Meeresspiegelanstieg aber signifikant vom heutigen: Er war nicht menschengemacht.

In den Siebzigerjahren formulierte John Mercer seine visionäre These: Der menschengemachte Klimawandel werde sich auf die Antarktis und damit auf den Anstieg des Meeresspiegels auswirken.

Nüchtern benannte er auch die tiefer liegenden Gründe: Der Verlust der Westantarktis und der massiv steigende Meeresspiegel sind, so schrieb er, der Preis, den wir dafür zahlen werden, uns genug Zeit zu erkaufen, um von fossilen Brennstoffen zu alternativen Energiequellen überzugehen. 

Hören Sie die Geschichte des Thwaites-Gletschers auch im dreiteiligen Podcast:

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