Corona-Pandemie in GrossbritannienPirola weckt neue Covid-Ängste
Früher als geplant wird von diesem Montag an wieder millionenfach gegen Covid geimpft. Grund dafür ist eine neue Variante, die Forschern und Politikern nicht geheuer ist.
Beunruhigt von einer neuen Covid-Variante, über deren Gefahrenpotenzial britische Forscher derzeit noch rätseln, hat die Regierung in London eine eigentlich für den Spätherbst geplante weitere Impfrunde kurzerhand um vier Wochen vorverlegt. Statt erst im Oktober sollen Bewohnern von Pflegeheimen und anderen gefährdeten Mitbürgern bereits von heute Montag an neue Anti-Covid-Impfungen angeboten werden. Vom darauffolgenden Montag an haben alle Personen Anspruch auf einen Booster, die 65 Jahre oder älter sind.
Die neue Nervosität hat unter anderem damit zu tun, dass das Vereinigte Königreich zu Beginn der Pandemie wegen zögerlicher Regierungsaktionen besonders viele Opfer zu beklagen hatte. Sorge bereitet auch die anhaltende Krise im britischen Gesundheitswesen – und die Tatsache, dass die Regierung wichtige landesweite Tests und Auswertungen zur jeweiligen Covid-Verbreitung aus Kostengründen eingestellt hat.
Unter diesen Umständen steuere man jetzt, zu Beginn einer neuen Covid-Welle, «auf eine sehr ungewisse Zeit» zu, meint etwa Professor Lawrence Young, ein prominenter Virologe der Universität Warwick. Die Sorge konzentriert sich auf die neue Variante BA.2.86, die erstmals im August in England aufgetaucht sein soll und sich nun offenbar überall ausbreitet.
Ungewöhnlich hohe Zahl an Mutationen
Die Variante, der man den Spitznamen Pirola verliehen hat, zeichnet sich aus durch eine ungewöhnlich hohe Zahl an Mutationen, mit deren Hilfe das Virus gegebenenfalls bestehende Immunität umgehen könnte. Ob es dazu wirklich in der Lage wäre, ist freilich noch nicht klar.
Und die Zahl neuer Spitaleinweisungen ist bisher gering. Andererseits hat es böse Erinnerungen aufleben lassen, dass Ende August in einem Pflegeheim in Norfolk auf einen Schlag 33 der 38 Heimbewohner an Covid erkrankten, 22 davon sowie die Hälfte des Personals an BA.2.86.
Zweifellos sei die neue Variante «die auffälligste Art von Covid, die die Welt seit dem Erscheinen von Omikron zu Gesicht bekommen hat», urteilt François Balloux, der Direktor des Genforschungsinstituts am University College London. Ausschliessen könne man jedenfalls nicht, dass BA.2.86 die Wirkung bestehender Impfstoffe beeinträchtigen könnte, warnt Balloux' Kollege Rowland Kao von der Universität Edinburgh. Schon jetzt raten einzelne Experten wieder zum Maskentragen – und, auf den Herbst hin, zu mehr sozialer Distanz.
«Unsere Immunität ist generell geschwunden. Manche Leute haben seit einem Jahr keine Impfung mehr gehabt.»
Vor allem drängen aber die meisten Forscher darauf, dass die Regierung jetzt nicht nur Mitbürgern ab 65 Jahren eine Impfung mit dem aktuellsten Impfstoff anbietet, sondern, wie im Herbst vorigen Jahres, wenigstens allen Personen ab 50 Jahren. Oder sogar gleich allen Erwachsenen, also einem so grossen Personenkreis wie möglich, argumentiert Lawrence Young: «Immerhin ist unsere Immunität generell geschwunden. Manche Leute haben seit einem Jahr oder so keine Impfung mehr gehabt.»
Sunak gerät unter Druck
Auch der Covid-Ausschuss des britischen Unterhauses hat am Wochenende damit begonnen, Regierungschef Rishi Sunak zu einem breiteren Impfangebot zu drängen, nachdem die Regierung nun schon mal die Impftermine vorverlegt hatte wegen BA.2.86.
Ein separater Streit hat sich entzündet an der Frage, ob Covid-Impfungen künftig auch privat gegen Bezahlung erhältlich sein sollen, statt wie bisher nur – für die vorgesehenen Jahrgänge und Personenkreise – übers Gesundheitswesen. Manche Politiker und einzelne Forscher halten das für eine gute Idee.
Professor Young hingegen sieht bei einem derartigen Verfahren «echte Probleme», nicht zuletzt wegen der erforderlichen Fairness beim Zugang zum Impfschutz. Viele Leute, meint Young, würden sich Covid-Impfungen, die über 100 Pfund, umgerechnet 111 Franken, pro Schuss kosten dürften, schlicht nicht leisten können. Sie hätten das Nachsehen in diesem Fall.
Gefahr einer neuen Pandemie wächst
Unterdessen machen sich auch Behördenchefs und Minister in London wenig Illusionen über fortwährende pandemische Gefahren, selbst wenn Pirola nicht die schlimmsten Folgen haben sollte. Für Jenny Harris, die Leiterin der britischen Gesundheitsbehörde, besteht kein Zweifel daran, dass die Wahrscheinlichkeit einer neuartigen, bedrohlichen Pandemie «schon wegen Klimawandel, Urbanisierung der Welt und globaler Migration» stetig wächst.
Anfang August hatte Vize-Premier Oliver Dowden bei einer Auflistung der 89 grössten Gefahren der Zukunft für Grossbritannien eine katastrophale neue Pandemie noch unbekannten Charakters sogar schon als die Gefahr Nummer 1 bezeichnet. Die Chancen betrügen zwischen 5 und 25 Prozent, hiess es in Dowdens Analyse, dass man eine solche Krise bereits in den nächsten fünf Jahren erleben werde – und dass dabei im schlimmsten Fall allein auf den Britischen Inseln mit über 800'000 Toten zu rechnen sei.
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