Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Corona-Politik in Grossbritannien
«Unsere Regierung will Covid ja gar nicht bekämpfen»

Boris Johnson und die Tories sind aktuell anderweitig beschäftigt: Über die rekordhohen Corona-Zahlen verliert die britische Regierung derzeit kein Wort. 
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Es ist das Thema im Vereinigten Königreich, über das niemand redet – nachdem zwei Jahre lang von wenig anderem die Rede war. Die Regierung schweigt sich aus. Die wissenschaftlichen Berater des Kabinetts, die allwöchentlich Fernsehpressekonferenzen abhielten, lassen sich nicht mehr blicken. Man muss schon mit der Lupe nach Neuigkeiten forschen, wenn man etwas erfahren will. 

Nur einmal diesen Monat hat Covid wieder für Schlagzeilen gesorgt und die Leute aufschauen lassen. Das war, als vor kurzem die Gesamtzahl der Covid-Toten auf den Britischen Inseln die 200’000 überschritt. Das erinnerte noch einmal daran, was Grossbritannien seit März 2020 durchlitten hat. 

Und es gab Covid-Experten Gelegenheit, die Nation vor der fortwährenden Gefahr, die die Pandemie darstellt, zu warnen. Immerhin wurde fast ein Viertel dieser Todesfälle in den letzten zwölf Monaten verzeichnet – trotz aller Impfungen und trotz der ministeriellen Beteuerung, man habe einen effizienten «Schutzwall» errichtet für die Bevölkerung. 

Schon die ersten zwei Covid-Wellen der Pandemie, die 150’000 Leben kosteten, hätten Grossbritannien ja schlimmer getroffen als andere Länder, «die früh in der Pandemie andere Massnahmen ergriffen», meint im kritischen Rückblick die Forschungsleiterin am University College London, Professorin Christina Pagel. Wenn Premierminister Boris Johnson jetzt verkünde, er habe Covid «im Grossen und Ganzen gut hinbekommen», dann nehme das ja wohl niemand ernst. 

«Und 50’000 Tote hat es allein seit letztem Sommer gegeben», fügt Pagel an. «Es gab mal eine Zeit, in der es uns ungeheuerlich vorgekommen wäre, von 50’000 Toten pro Jahr auszugehen. Aber jetzt haben wir offenbar akzeptiert, dass das nun mal so ist.»

Neuer Höchststand der Infektionszahlen

Dabei liegen die Infektionszahlen noch immer hoch in diesem Sommer, während gleichzeitig neue, noch schwer abschätzbare Varianten auf der Szene erschienen sind. Dem Nationalen Amt für Statistik zufolge sollen in der dritten Juliwoche noch immer 3,2 Millionen Personen in Grossbritannien Covid gehabt haben. In England war zu diesem Zeitpunkt offenbar jeder 20., in Schottland und Wales jeder 19. infiziert. Im Augenblick scheint man den Höhepunkt der Neuinfektionen überschritten zu haben. Aber für September, wenn die Schulen wieder beginnen, wird ein drastischer neuer Sprung, vielleicht aufs Doppelte des jetzigen Standes, erwartet.

Zugleich hat die Zahl der Spital-Einlieferungen seit Anfang Juni stetig zugenommen, auch wenn nicht jeder Patient wegen Covid eingeliefert worden ist. 

Britische Virologen und Gesundheitschefs sehen jedenfalls «eine holprige Strecke» für die kommenden Monate und eine erneute schwere Belastung des Gesundheitswesens, des National Health Service (NHS), voraus – zumal es an Personal fehlt, Ärzte und Pfleger jetzt erneut wegen eigener Erkrankung ausfallen und die bereits gigantische Warteliste für Patienten im Vereinigten Königreich weiter beängstigend wächst. 

Dass man es mit einer angeblich «milden» Welle zu tun habe, sei «schlicht nicht wahr».

Über zwei Millionen Menschen auf der Insel leiden auch bereits an «Langzeit-Covid», zwei Fünftel davon seit mehr als einem Jahr. Statt dass Impfungen und frühere Infektionen zu allgemeiner Immunität geführt hätten, wie es die Regierung einmal prophezeite, sehe man sich nunmehr «einer Infektionswelle nach der anderen sowie einer rasch wachsenden Belastung durch langfristige Erkrankungen» gegenüber, warnt der Immunologe Danny Altman vom Imperial College London. 

Dass man es bei der gegenwärtigen Omikron-Welle mit einer angeblich «milden» Welle zu tun habe und sich diese Phase der Pandemie als eine Art «wohltätiger, natürlicher Booster für unsere Covid-Immunität» erweisen würde, erklärt Professor Altman, sei «schlicht nicht wahr». Es sei «der reinste Mythos, dass wir uns nun in einer komfortablen evolutionären Beziehung mit einem erkältungsähnlichen, freundlichen Virus befinden». 

Das Gesundheitspersonal applaudierte für sie: Am 8. Dezember 2020 erhielt Margaret Keenan (90) als erste Person in Grossbritannien die Pfizer/Biontech-Impfung. 

Weder sei das Virus «freundlich» noch sei es «erkältungsähnlich», meint Altman. Ihm komme es eher so vor, als ob man bei Covid-19 mit den immer neuen Wellen und unerwarteten Entwicklungen «wie in einem Horrorfilm auf einer Art Achterbahn» gefangen sei, «die sich nicht abschalten lässt». Unterdessen fragen sich besorgte Briten, wann denn wohl ihre Regierung wieder etwas zur Lage an der Covid-Front zu sagen haben werde. Bisher ist nur bekannt, dass es «irgendwann im Herbst» zu einer neuen Impfaktion für die ältere Generation und für besonders gefährdete Personen aller Altersstufen kommen soll.

Keine Massnahmen in Planung

 Ansonsten aber sind keine neuen Massnahmen geplant. Seit Boris Johnson im Frühjahr den «Tag der Freiheit» verkündete und alle Restriktionen aufhob, hat sich die Regierung praktisch aus der öffentlichen Diskussion ausgeschaltet. So gut wie alle Tests sind seither abgeschafft worden. Seit April muss man sich nicht einmal mehr isolieren, wenn man Covid hat. 

Ein paar «Ratschläge» der Regierung zum Abstandhalten in geschlossenen Räumen gibt es zwar noch. Aber an die fühlten sich zuletzt nicht mal mehr die dicht gedrängt sitzenden Abgeordneten im Unterhaus gebunden. Kein Wunder, klagen die Experten, dass die Masse der Bevölkerung keine Notwendigkeit zu besonderer Vorsicht mehr sieht. Masken sind, selbst in Bussen und Bahnen, eine Rarität geworden.

«Freedom Day»: Am 19. Juli 2021 – früher als in vielen anderen europäischen Ländern – fielen in England fast alle Corona-Massnahmen. Viele feierten den Tag mit einem Besuch im Nachtclub. 

In den letzten Tagen haben manche Verkehrs- und Fährbetriebe, wie zuvor schon viele Kliniken im Lande, zwar erklärt, dass sie wieder Maskentragen erwarten. Aber gesetzliche Vorschriften dazu gibt es keine. Und ohne ministerielle Appelle fühlt sich niemand sonderlich alarmiert. Dazu kommt, dass die Tory-Regierung, die nach einer neuen Führung sucht, vollauf mit sich selbst beschäftigt ist zurzeit. Den Namen des gegenwärtigen Gesundheitsministers kennt, inmitten der Personaltumulte bei den Konservativen, kaum jemand. 

«Die Regierung will das Virus nicht bekämpfen.»

Neue Massnahmen, hat ein Regierungssprecher zuletzt bekräftigt, seien aber auch gar nicht nötig, weil «unser weltweit führendes Impfprogramm» es der Nation möglich gemacht habe, sich von allen Restriktionen zu befreien. Warnungen unabhängiger Forscher vor dem, was der Herbst bringen könnte, verhallen in diesem Sommer entsprechend ungehört. 

Am bittersten ist das für all diejenigen, die mit Immunschwäche oder anderen ernsten Gesundheitsproblemen kämpfen auf der Insel. Sie fühlen sich im Stich gelassen von einer Regierung, die darauf besteht, dass man jetzt einfach «mit Covid leben» muss. 

Mit ihrer radikalen Abschaffung aller Schutzmassnahmen und ihrem beharrlichen Schweigen, klagt etwa die Behindertenaktivistin Frances Ryan, verfolge die britische Regierung in Wirklichkeit gar nicht den Plan, Covid einzudämmen, sondern beabsichtige im Gegenteil, es nur immer weiter zu verbreiten: «Das Problem bei der Bekämpfung des Virus hier in Grossbritannien ist, dass unsere Regierung es gar nicht bekämpfen will.»