Gastbeitrag zum Amtsantritt der Präsidentin Claudia SheinbaumMexiko hofft weiter. Was bleibt dem Land anderes übrig?
Erstmals in der Geschichte wird Mexiko von einer Frau regiert. Am 1. Oktober tritt Claudia Sheinbaum ihr Amt an. Sie muss schier unlösbare Aufgaben bewältigen.
Am 1. Oktober 2024 wird Claudia Sheinbaum Pardo als Präsidentin von Mexiko vereidigt. Ein historisches Ereignis: Sie ist die erste Frau, die das grösste spanischsprachige Land der Welt regieren wird. Sheinbaum war als Kandidatin der regierenden linken Morena-Partei angetreten und hatte die Wahl am 2. Juni deutlich gewonnen. Die neue Präsidentin ist politisch im Umfeld von Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) gross geworden und war bis Juni 2023 die Gouverneurin von Mexiko-Stadt. Während ihrer Wahlkampagne hat sie angedeutet, die Bewegung von AMLO weiterführen zu wollen.
Die Erfolge von AMLO sind im wirtschaftlichen Bereich zu finden: Die Erhöhung des Mindestlohns und Sozialprogramme haben etwa 5 Millionen Mexikanerinnen und Mexikanern geholfen, der Armut zu entkommen. Diese Massnahmen haben der finanziellen Situation des Landes nicht geschadet, sondern den mexikanischen Peso gestärkt, den Konsum angekurbelt und die Lage der Mittelschicht verbessert. Auch der Tourismus ist weiterhin ein wichtiger Motor für die mexikanische Wirtschaft.
Mehr Morde denn je
Die Fortschritte enden hier – die Herausforderungen sind immens. Die Amtszeit von AMLO verzeichnete mit 196’638 Morden die höchste Gewaltkriminalität in der jüngeren Geschichte Mexikos. Zudem bleiben über 90 Prozent der Verbrechen ungestraft. Auch im Gesundheitssektor sind die Ergebnisse erschreckend: Während der Pandemie starben in Mexiko mehr als 800’000 Menschen. Die Volkskrankenversicherung («seguro popular»), die existierte, um die Bedürftigsten medizinisch zu versorgen, schaffte er ab. Davon betroffen sind rund 30 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner.
Die Regierung von AMLO hat staatliche Kontrollorgane entweder abgebaut oder geschwächt. Vor wenigen Tagen wurde eine Verfassungsänderung in der Justiz gebilligt, die die Judikative unter den Einfluss der Exekutive stellt – ein schwerer Schlag für die noch fragile mexikanische Demokratie. In Mexiko ist der Journalismus eine Hochrisikotätigkeit. Der Staat versagte beim Schutz der Pressefreiheit, wurden doch während der Amtszeit von AMLO mehr als 40 Journalisten ermordet.
Trotz der Popularität von AMLO haben rund 23 Millionen Personen nicht für Morena gestimmt. Die grosse Mehrheit der Mittelschicht sowie der Intellektuellen zieht eine negative Bilanz von López Obradors Regierungszeit. Sogar Bewegungen, die AMLO anfangs zugewandt waren, wie die Zapatisten oder die Familien von entführten und ermordeten Studenten, haben sich von ihm distanziert. Popularität ist kein Synonym für eine gute Regierung, umso weniger, als López Obrador die Sozialprogramme als Wahlkampfinstrument eingesetzt hat.
In welche Zukunft Mexiko mit der neuen Präsidentin schreiten wird, ist ungewiss. Claudia Sheinbaum ist eine Umweltwissenschaftlerin jüdischer Herkunft, die in den Vereinigten Staaten promovierte und Mitglied einer unabhängigen mexikanischen Linksbewegung war. Ihre Familie hat den Holocaust und die Verfolgung durch die Nazis erlebt.
Absehbar ist, dass sie unter den Druck der USA gerät, weil deren Regierung angesichts der Fentanyl-Krise mehr denn je ein Interesse an der Bekämpfung des internationalen Drogenhandels hat. Die Passivität ihres Vorgängers wird sich Sheinbaum nicht leisten können. Sie selbst ist während ihrer Zeit als Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt erstaunlich blass geblieben. Ihren deutlichen Sieg im Kampf um die Präsidentschaft verdankt sie nicht zuletzt der Schwäche der Opposition. Doch allein die Tatsache, dass Claudia Sheinbaum Pardo die erste weibliche Präsidentin Mexikos sein wird, ist für Mexiko keine Selbstverständlichkeit.
Héctor Portillo war von 2018 bis 2022 mexikanischer Konsul in Bern.
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