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Chemikalien in Lebensmitteln
Pestizidrückstände im Essen sind risikofrei? Stimmt nicht, sagt ein Insider

Person in einer veganen Firmenkantine serviert sich ein pflanzliches Gericht aus verschiedenen warmen Speisen und Salaten.
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In Kürze:
  • Experte Jürg Zarn kritisiert unzureichende toxikologische Methoden bei Pestizidbewertung.
  • Langfristige gesundheitliche Risiken durch Pestizide seien durch die gegenwärtigen Prüfmethoden nicht eindeutig nachweisbar.
  • Rund 90 Prozent der Pestizidstoffe zeigen laut einer aktuellen Studie fragwürdige Bewertungspraxis.
  • Chemische Industrie und Behörden sehen keine Dringlichkeit zur Praxisänderung.

Wie gefährlich sind Pestizidrückstände in unseren Lebensmitteln? Gar nicht, schreibt der Bund auf seiner Website. Pflanzenschutzmittel könnten nur «bewilligt werden, wenn ihre Anwendung keine unannehmbaren Nebenwirkungen auf Mensch, Tier und Umwelt hat». Und Scienceindustries, der Verband der chemischen Industrie, versichert in einem Faktenblatt: «Pflanzenschutzmittel gehören zu den am besten untersuchten Chemikalien weltweit. Das liegt an den strengen Prüfverfahren, die sie für die Zulassung durchlaufen müssen.»

Doch so streng sind die Prüfverfahren offenbar nicht. Sie sind zwar unbestritten aufwendig, kostenintensiv und benötigen zahlreiche Tierversuche. Pro Wirksubstanz zahlt eine Herstellerfirma rund zehn Millionen Franken für toxikologische Tests, darunter Versuche mit jeweils circa 2000 Tieren.

Ein wichtiger Schritt bei der Zulassung sind dabei Tests an Ratten und Mäusen, die den Einfluss auf die Gesundheit klären sollen. Diese toxikologische Überprüfung sei aber nicht geeignet, mögliche Krebs- und Fortpflanzungsrisiken beim Menschen zweifelsfrei aufzudecken, kritisiert Jürg Zarn, Leiter des Fachbereichs Toxikologie Pflanzenschutzmittel beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV).

Öffentliche Gesundheit möglicherweise gefährdet

«Die toxikologischen Methoden der Bewertungen von Pestiziden sind nach wissenschaftlichen Kriterien ungenügend und gefährden damit möglicherweise die öffentliche Gesundheit», sagt der Toxikologe. Die Schweiz führt diese Überprüfungen nicht selbst durch und ist dennoch direkt von den unklaren Risiken betroffen.

Dabei geht es nicht primär um unmittelbare Giftigkeit von Substanzen, sondern eher um langfristige Folgen, die sich durch die verbreitete Verwendung der betreffenden Chemikalien mit der Zeit summieren könnten. So steigt beispielsweise seit Jahren insbesondere die Brust- und Darmkrebsrate bei Jungen an – als mögliche Ursache werden Chemikalien in der Umwelt diskutiert. Das Gleiche gilt für die zunehmend schlechte Spermienqualität bei jungen Männern.

Zarn kritisiert dabei insbesondere eine jahrzehntealte Praxis, die dazu führt, dass möglicherweise problematische Resultate aus Tierversuchen verschleiert statt überprüft werden. Betroffen ist die grosse Mehrheit der in der Schweiz zugelassenen Pestizide. Das belegt eine neue Studie, die die Risikobewertungen der Weltgesundheitsorganisation WHO von 2004 bis 2021 analysiert hat.

Demnach sind fast 90 Prozent von 178 untersuchten Wirksubstanzen von der zweifelhaften Praxis betroffen. Es geht dabei unter anderem um Tiertests zur fetalen Entwicklung, zur Krebsentstehung oder zu Mehrgenerationeneffekten. Die Studie wurde vergangenen Dezember im Fachblatt «Regulatory Toxicology and Pharmacology» veröffentlicht und sorgt in Fachkreisen für Diskussionen. 

Analysiert wurden Risikobewertungen des UNO-Expertengremiums namens JMPR (Joint FAO/WHO Meeting on Pesticide Residues), das weltweit berücksichtigte Grenzwerte für Chemikalien in Lebensmitteln festlegt. Werden diese Werte nicht überschritten, sollten die Rückstände eigentlich ohne Gesundheitsrisiko mit der Nahrung aufgenommen werden können.

Jürg Zarn war langjähriges Mitglied der Fachgruppe JMPR und ist Hauptautor der brisanten Studie. «Auch die Schweiz ist direkt von der zweifelhaften Praxis betroffen», sagt er. Dies, weil die EU diese Praxis auch anwendet und die Schweiz deren Zulassungen von Pestizidwirkstoffen übernimmt. Zarn arbeitet seit drei Jahrzehnten in der toxikologischen Bewertung von Pflanzenschutzmitteln. Das BLV betont, dass er seine Aussagen im Rahmen seiner Tätigkeit als Toxikologe und nicht als BLV-Experte mache.  

Konkret geht es darum, dass Herstellerfirmen und beurteilende Behörden auf Vergleichsdaten (Kontrollgruppen) früherer Tierversuche zurückgreifen, wenn bei einer Prüfung die Resultate auf ein erhöhtes Risiko für Krebs oder Fehlbildungen bei Föten deuten. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang vom Einbezug sogenannter historischer Kontrollen. Dadurch steigt in der Regel die Nachweisschwelle, um ein erhöhtes Risiko erkennen zu können.

«Effekte einfach weggerechnet»

«Statt bei auffälligen Resultaten genauer hinzuschauen, werden die Effekte dadurch einfach weggerechnet», sagt Zarn. Selbst wenn in einem Versuch zehn Prozent der Tiere an Krebs erkranken, ist dies aus statistischer Sicht oft kein eindeutiger Effekt. Obwohl bei den Prüfverfahren jeweils mehrere Hundert Versuchstiere zum Einsatz kommen, reicht die Zahl oft nicht für einen klaren Nachweis. «Ein Grund dafür liegt auch darin, dass die genetische Zusammensetzung der Tiere so ist, dass kaum eindeutige Ergebnisse zu erwarten sind.» Das sei alles völlig legal und seit Jahren gängig. 

Eine andere, für Aussenstehende schwer nachvollziehbare Praxis: Die Firmen dürfen die Rohdaten ihrer Versuche im PDF-Format einreichen – ein Format, das es den Fachleuten der Behörden unnötig erschwert, eigene Analysen durchzuführen. Sie verlassen sich dann auf die Interpretation durch die Gesuchsteller. «Es geht um 4000 bis 5000 Seiten mit Zahlenkolonnen, die für uns nicht verwertbar sind», so Zarn. Er hat lange darauf vertraut, dass die Industrie am besten weiss, wie die Daten richtig erhoben und interpretiert werden. Heute ist er sich da nicht mehr sicher: «Es dauert viele Jahre, bis man die Mängel bei der Pestizidzulassung durchschaut.»

Ein Experte für die Aussagekraft von Tierversuchen ist Hanno Würbel. «Ich finde diese Art der Verwendung historischer Kontrollen bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln höchst fragwürdig», sagt der Professor für Tierschutz an der Vetsuisse-Fakultät Bern, der nicht an der Studie beteiligt war. «Sie führt mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einer unter Umständen massiven Unterschätzung toxischer Effekte.» 

Kleines Mädchen mit gestreiftem Shirt hält Kürbis im Supermarkt vor Regal mit frischem Bio-Gemüse.

Der Grund: Bei Tierexperimenten variieren die Ergebnisse grundsätzlich stark, selbst wenn man sie unter den gleichen Bedingungen wiederholt. Das gilt auch für die Kontrollgruppen, erst recht, wenn die entsprechenden Tests mehrere Jahre zurückliegen. «Es gibt zahlreiche Einflüsse, die die Resultate verfälschen – viele kennen wir nicht genau und können sie deshalb auch nicht kontrollieren», so Würbel. Zu den möglichen Faktoren gehören zum Beispiel Alter, Geschlecht oder genetische Ausstattung der Tiere, aber auch äussere Einflüsse bei der Haltung wie Gerüche, Geräusche, Vibrationen, das soziale Gefüge im Käfig oder die Kontaktpersonen.

Auch Lothar Aicher vom Swiss Centre for Applied Human Toxicology (SCAHT) pflichtet Jürg Zarn bei: «Die Kritikpunkte sind berechtigt», sagt er. Tatsächlich erarbeitet zumindest die zuständige EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA derzeit Empfehlungen für die Verwendung von historischen Kontrollen. Toxikologe Aicher ist allerdings überzeugt, dass die gegenwärtige Praxis durchaus ihre Berechtigung hat. «Richtig angewandt, können historische Kontrollen helfen, neue Studienergebnisse besser einzuordnen und ein umfassenderes Bild der möglichen Risiken und Vorteile von Chemikalien zu erhalten – ohne dass dafür zusätzliche Tierversuche gemacht werden müssen», sagt er. «Das ist auch aus ethischer Sicht ein Vorteil.» 

«Firmen müssen kaum Konsequenzen fürchten»

Toxikologe Zarn ist anderer Ansicht. Für ihn ist klar: Es wären Tests mit mehr Tieren nötig. «Ich bin sehr für das Tierwohl», sagt er. «Aber wenn schon Tierversuche, dann so, dass sie eine Aussage ermöglichen – sonst haben die Tiere umsonst gelitten.» Daneben müssten Tests mit unklaren Ergebnissen im Zweifelsfall wiederholt und Wirkmechanismen besser untersucht werden, um das Risiko abzuschätzen.

Dazu müssten die Anforderungen an das Prüfverfahren erhöht werden, denn die Erfahrung zeigt: «Firmen müssen kaum Konsequenzen fürchten, wenn die Risiken für Krebs oder für Fehlbildung bei Ungeborenen durch einen Wirkstoff nicht erkannt werden», so Zarn. «Es braucht meistens viele Jahre, bis ein Zusammenhang zwischen der Erhöhung bestimmter Krebszahlen und der Nutzung eines Wirkstoffs deutlich wird – und noch länger, bis dieser erhärtet werden kann.»

Bei Scienceindustries sieht man trotz Kritik keine Dringlichkeit. Die vorgeschriebenen Prüfungen für Pflanzenschutzmittel in Europa seien umfangreich und würden den Zulassungsbehörden gründliche Beurteilung ermöglichen. «Unsere Erfahrung ist, dass die europäischen Behörden diese statistischen Verfahren sehr kritisch prüfen», schreibt der Verband in einer Stellungnahme. Historische Kontrolldaten könnten dabei die statistische Aussagekraft von Analysen erhöhen.

Auch das BLV nimmt Stellung und gibt sich überzeugt, dass die Risikobewertungen der EU-Behörde auf dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand basierten. Man stehe im Austausch und werde «in Abstimmung mit der EU Massnahmen ergreifen, wenn sich zeigt, dass Handlungsbedarf besteht».