Urteil zu InvalidenversicherungBundesgericht stützt mit knappem Entscheid umstrittene IV-Praxis
Geringverdiener mit stark reduzierter Leistungsfähigkeit haben weiter schlechte Chancen auf eine IV-Rente. Zwei der fünf Bundesrichter kritisieren jedoch das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen.
Der Fall des 58-jährigen Anlageführers, der am Mittwoch vor dem Bundesgericht in Luzern behandelt wurde, ist exemplarisch für die Praxis der IV. Der Mann kann aufgrund seiner körperlichen und psychischen Einschränkungen nur noch Hilfsarbeiten verrichten: «einfach strukturierte, sehr leichte und wechselbelastende Tätigkeiten», wie es im IV-Entscheid heisst. Dafür soll der Mann aufgerechnet auf ein Vollzeitpensum jährlich 67’766 Franken verdienen können, was nach Ansicht seines Anwalts kaum realistisch ist. Denn das sind nur gerade 2 Prozent weniger als in seinem früheren Beruf als Anlageführer. Unter Berücksichtigung einer 40-prozentigen Arbeitsunfähigkeit ergibt das für den auf einem Auge blinden Mann mit Schäden am Bewegungsapparat einen Invaliditätsgrad von 47 Prozent, was lediglich zu einer Viertelsrente berechtigt.
Behindertenverbände erhofften sich nun vom Bundesgericht ein Grundsatzurteil und eine Korrektur der IV-Praxis. Diese ist seit Jahren umstritten. Das Problem liegt in den Annahmen der IV für das Einkommen, welches die gesundheitlich beeinträchtigte Person noch erzielen kann. Dieses theoretische Invalideneinkommen ist häufig unrealistisch hoch, insbesondere für leichte Hilfsarbeiten. Viele Versicherte erhalten keine Rente, weil die IV unterstellt, sie könnten trotz starker gesundheitlicher Einschränkungen eine gut bezahlte Arbeit finden.
Kein Grund für Praxisänderung
Das Bundesgericht kam jedoch nach vierstündiger öffentlicher Beratung zum Schluss, dass es die geltende Rechtspraxis nicht ändern will. Das fünfköpfige Gremium lehnte mit drei zu zwei Stimmen die Beschwerde ab, mit der der 58-Jährige eine halbe statt der ihm seit November 2018 gewährten Viertelsrente verlangte. Dazu hätte bei der Berechnung des Invalidenlohns nicht wie üblich der statistische Medianlohn verwendet werden dürfen. Der Anwalt verlangte, dass das Bundesgericht sich auf das unterste Viertel der Löhne stützt, die das Bundesamt für Statistik (BFS) in seiner Erhebung für die jeweiligen Berufsgruppen beizieht.
Es gebe keinen Grund, von der über 20-jährigen Praxis abzurücken, argumentierte Bundesrichter Marcel Maillard. Die neuen Studien, auf welche die Beschwerdepartei verweise, brächten keine wirklich neuen Erkenntnisse. Zudem sei seit Anfang 2022 eine IV-Reform in Kraft. Da der vorliegende Fall noch nach altem Recht beurteilt werde, könnten in dieser Übergangsphase nicht die Spielregeln geändert werden. Maillard verwies zudem darauf, dass die IV einen sogenannten Leidensabzug von maximal 25 Prozent auf dem Invalideneinkommen machen könne, um spezifische Nachteile des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen.
Dem widersprach Gerichtspräsident Martin Wirthlin. Der Leidensabzug habe seine Korrekturfunktion längstens verloren. Ihm seien kaum Fälle bekannt, in denen die IV diesen Abzug voll gewähre. Auch beim Beschwerdeführer setzte die IV diesen bei 10 Prozent fest, obwohl für den Mann nur gering belastende Arbeit möglich ist, er über lediglich eine Grundschulbildung im Kosovo und keine Berufsbildung verfügt.
Anwalt prüft Beschwerde in Strassburg
Dass beim Leidensabzug in der heutigen Praxis das fortgeschrittene Alter nicht berücksichtigt werde, verstosse gegen Bundesrecht, sagte Wirthlin. Er beantragte deshalb, die Beschwerde teilweise gutzuheissen und den Leidensabzug auf 15 Prozent festzulegen, womit der Mann rechnerisch Anspruch auf eine halbe IV-Rente gehabt hätte. Unterstützt wurde Wirthlin von einem Richterkollegen. Maillard sowie die beiden anderen Bundesrichterinnen lehnten jedoch den höheren Leidensabzug ab. Die Höhe des Abzugs sei ein Ermessensentscheid. Das Bundesgericht dürfe die Vorinstanz nur korrigieren, wenn diese den Abzug rechtsmissbräuchlich oder willkürlich festgelegt habe.
Für viele Behinderte sei das Invalideneinkommen auf dem realen Arbeitsmarkt unerreichbar, ergänzte hingegen Wirthlin. Insbesondere das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) müsse nun «mit Energie» die Anwendung der BSV-Lohntabellen überprüfen, sagte er. Die Mehrheit des Gerichts stützte hingegen das Vorgehen des Bundesrates und des BSV, welches zwar eine Überprüfung der Praxis in Aussicht stellte, sich dafür allerdings bis fünf Jahre Zeit lassen will.
Der Anwalt zeigte sich vom Urteil enttäuscht und prüft einen Weiterzug an den europäischen Gerichtshof nach Strassburg. Als Lichtblick sieht der Anwalt die Kritik an der heutigen IV-Praxis, die von Wirthlin und einem weiteren Richter geäussert wurde. Zudem hofft er, dass das Bundesgericht bei der künftigen Beurteilung eines Falls unter dem seit 2022 geltenden Recht doch eine Korrektur der Berechnung des Invalidenlohns verlangen wird.
(Urteil 8C_256/2021 vom 9.3.2022)
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