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Kritik an fragwürdiger Rentenformel
Bundesrat soll IV-Praxis rasch ändern

Arbeiten in einer Wäscherei eignen sich für gesundheitlich beeinträchtigte Menschen. Dafür werden aber keine hohen Löhne bezahlt.
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Wer gesundheitlich stark angeschlagen ist, kann seine angestammte Arbeit häufig nicht mehr ausüben. Trotzdem bekommen viele der Betroffenen keine Invalidenrente, weil die Invalidenversicherung (IV) eine umstrittene Berechnungsmethode anwendet. Für die IV entscheidend ist der Invaliditätsgrad, der für eine Rente mindestens 40 Prozent und für eine Umschulung mindestens 20 Prozent betragen muss.

Viele Arbeitnehmende mit gesundheitlichen Einschränkungen fallen unter diese Grenzen, weil zur Berechnung des IV-Grades das frühere Einkommen mit einem fiktiven Invalideneinkommen verglichen wird, das die Betroffenen laut IV trotz Behinderung erzielen könnten. Für das tiefste Kompetenzniveau geht die IV bei Männern von 5417 Franken Monatslohn aus, bei Frauen von 4371 Franken. Damit fällt für Gering- und Normalverdiener die errechnete Lohneinbusse gegenüber dem früheren Job zu gering aus, als dass sie eine Rente erhielten. Stossend an der Sache ist, dass das fiktive Einkommen auf dem realen Arbeitsmarkt insbesondere für einfache Hilfsarbeiten kaum bezahlt wird.

Die Berechnung des IV-Grads wurde bereits in mehreren Gutachten als fragwürdig taxiert. So kommt Thomas Gächter, Professor an der Universität Zürich, in einer im Februar 2021 präsentieren Studie zum Schluss, die IV stütze sich auf «beinahe fiktive Lohnniveaus». Dabei handelt es sich um statistische Medianlöhne, die unter anderem deshalb so hoch sind, weil die Löhne der Baubranche enthalten sind, die für körperlich schwere Hilfsarbeiten relativ gut bezahlt. Der Bundesrat liess sich aber bisher trotz breiter Kritik nicht zu einer Praxisänderung bewegen. Auf Anfragen im Nationalrat machte Sozialminister Alain Berset im Dezember klar, dass sich die zuständigen Bundesämter Zeit lassen bei der Evaluation der Berechnungspraxis. Erste Resultate würden erst 2025 vorliegen.

«Nicht nachvollziehbar»

Das stösst bei führenden Sozialversicherungsexperten und -expertinnen auf Unverständnis. 14 Gelehrte, darunter Thomas Gächter, Michael E. Meier, Ueli Kieser, Kurt Pärli und Anne-Sylvie Dupont, fordern den Bundesrat in einem Brief auf, die Überprüfung «zeitnaher» anzugehen. Eine Änderung der IV-Praxis sei dringend, und Lösungsvorschläge lägen vor. Einer stammt von einer Arbeitsgruppe der emeritierten Professorin Gabriela Riemer-Kafka. Die Arbeitsgruppe verweist auf ein Matching-Tool, mit dem die statistischen Löhne so korrigiert werden können, dass sie dem Potenzial von Menschen mit körperlichen Behinderungen entsprechen.

Die Publikation von Riemer-Kafka liegt dem zuständigen Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) vor. Doch der fürs BSV zuständige Berset liess den Nationalrat im Dezember wissen, dass der Lösungsvorschlag der Arbeitsgruppe nicht breit anwendbar sei, unter anderem weil er sich nicht auf Menschen mit psychischen Erkrankungen beziehe. Diese Einwände halten die Expertinnen und Experten für «nicht nachvollziehbar», wie sie im Brief festhalten. Das Matching-Tool, das von der Schweizer Paraplegiker-Forschung entwickelt wurde, lasse sich problemlos auf Menschen mit kognitiven und psychischen Einschränkungen anpassen.

Auch die Sozialkommission des Nationalrates hat im letzten August einstimmig eine Praxisänderung gefordert. Und selbst die SVP kritisierte im April 2021 in der Konsultation zur Verordnung der IV-Reform, dass die IV Löhne verwende, die bei gesundheitlichen Einschränkungen 10 bis 15 Prozent zu hoch seien. Das Bundesgericht hielt bereits 2015 in einem Urteil fest, dass die IV-Praxis nur in einer Übergangszeit anwendbar sei, bis eine präzisere Methode vorliege.

Möglicherweise wird das Bundesgericht noch in diesem Jahr seine Kritik verdeutlichen und eine Korrektur verlangen. Es schob die Behandlung einer Beschwerde im November auf, nachdem die Publikation von Riemer-Kafka erschienen war. Dass der Bundesrat an der kritisierten IV-Praxis festhält, dürfte vor allem an den Mehrkosten von bis zu 300 Millionen Franken liegen, die eine Änderung mit sich bringt. Denn mit einer angepassten Berechnungsmethode erhielten mehr Menschen eine IV-Rente.