Helvetisches Kulturgut Phänomen Bräteln – warum der Schweizer Brauch spezieller ist, als wir meinen
Eine Wurst am Stecken ins Feuer halten, das kennt in der Schweiz jedes Kind. Andernorts ist der Brauch unbekannt – und bei uns erst rund 100 Jahre alt. Überraschendes zum Nationalhobby.

Eine Handvoll Schweizer Traditionen beurteilt die Unesco als so wertvoll und charakteristisch, sodass sie sie in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit eingetragen hat. Dazu gehören zum Beispiel die Alpsaison, die Basler Fasnacht, der Umgang mit der Lawinengefahr und die Kunst des Trockenmauernbauens.
Es fehlt in diesem Inventar ein Kulturgut, das den Schweizer Brauchtumskatalog hervorragend ergänzen würde: das Bräteln. Feuer machen, Wurst an den zugespitzten Stecken, brutzeln. Für Menschen, die in der Schweiz aufgewachsen sind, eine selbstverständliche und vertraute Sache. Für die meisten anderen nicht. Bräteln in der Natur ist ein sehr helvetischer Volkssport.
Gemeint ist damit nicht eine Kochart, sondern ein Erlebnis. Bräteln, das ist eine Feuerstelle im Wald oder ein mit Steinen umfriedetes offenes Feuer, dazu ein Sackmesser, mit dem man Stecken schnitzt. Das sind Cervelatkrebse und Schlangenbrot, Rauchgeruch in den Haaren. Es ist eine Erfahrung, die in der Schweiz über Generationen hinweg jedes Kind gemacht hat, in der Familie oder auf Schulreise.
Schokobananen und Marshmallows
Bei unseren deutschsprachigen Nachbarn hat das einfache Kochen über offenem Feuer mehr Pfadfindercharakter, es ist weniger universell und mit wohligen Erinnerungen verbunden. Eine Schweizer Freundin erzählt, sie wolle ihrem deutschen Partner demnächst zeigen, wie man brätelt, dieser Brauch sei ihm unbekannt. Eine deutsche Kollegin erinnert sich, wie sie staunte, als die Schweizer Kindergärtnerin ihrer Söhne auf Ausflügen mit dünnen Holzscheiten und zerknülltem Zeitungspapier mühelos ein Feuer entfachte.
In den Nachbarländern wird in der heissen Glut wenn, dann eher Schlangenbrot zubereitet oder Süsses wie Schokobananen oder Marshmallows. Aber Würste übers Feuer halten? Das gibts so verbreitet vielleicht nur in der Schweiz. Man tut es beim Rasten während einer Wanderung, auf der Schulreise oder im Waldkindergarten, beim Picknick am See.
Wie die Neandertaler
Dabei ist Bräteln ja, wenn man es sich überlegt, eine seltsame Angelegenheit: Der moderne Mensch verlässt seine Wohnung mit Kühlschrank und Induktionsherd und begibt sich in den Wald, wo er über dem offenen Feuer ein Stück Fleisch gart, das er sodann mit blossen Händen verzehrt. Ungefähr so, wie es die Neandertaler vor 400’000 Jahren taten. Was ist der Reiz daran? Und seit wann bräteln die Schweizerinnen und Schweizer?
Ziemlich sicher ist das Wurstpicknick im Grünen als Gesellschaftsphänomen ungefähr in der Zwischenkriegszeit entstanden. Das sagt die Kulturwissenschafterin Franziska Schürch. Sie hat sich vor einiger Zeit mit dem Cervelat als Symbol der Schweizer Volkskultur auseinandergesetzt. «Vorher ging die breite Masse weder wandern noch ass sie Cervelats», sagt sie. Der Alpinismus entwickelte sich zwar bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert, doch dort verpflegte man sich eher mit funktionaler Nahrung und Konserven.
Ab der Jahrhundertwende und verstärkt in der Zwischenkriegszeit entstanden neue Freizeitbeschäftigungen in der freien Natur: Pfadfindergruppen, Naturfreunde-Sektionen, Campeure entdeckten das wilde Zelten. Arbeiterfamilien hatten erstmals Freizeit, die sie gestalten konnten.

Und mit dem Cervelat, dem «Proletenfilet», entstand der perfekte Imbiss für breite Bevölkerungsschichten, wie Schürch in ihrer Arbeit darlegt. Eine Wurst mit diesem Namen gab es zwar schon länger, aber das feine Brät des Cervelats konnte nur dank des Fleischwolfs, einer Technik des 19. Jahrhunderts, hergestellt werden, und erst die Industrialisierung machte die massenhafte Produktion möglich. «Bemerkenswert ist, wie klassenübergreifend beliebt der Cervelat war», sagt Franziska Schürch. «Die oberen Schichten assen ihn gerne, und für die Arbeiterinnen und Arbeiter war er erschwinglich.»
Sie hat bei ihren Recherchen Aufnahmen gefunden von Schulklassen aus den 1940er-Jahren, die ums Feuer sitzen und «Klöpfer» (wie Cervelats im Basler Dialekt genannt werden) an Haselruten ins Feuer halten. Die Brühwurst sei «Bestandteil der schweizerischen Folklore» geworden, sagt sie – und zwar weniger wegen des Fleischerzeugnisses selber, sondern vielmehr, weil sie unverzichtbar für die Schweizer Ess- und Festkultur ist: kein Traditionsanlass und eben auch kein Brätelspass ohne Cervelat.
Die Cervelat-Krise
Nun pflegen auch andere Kulturen das gesellige Essen rund ums Feuer. Warum ist gerade in der Schweiz das Bräteln eine so beliebte Sache, auf die sich alle einigen können? Historisch gesehen mag das daran liegen, dass das Bild der naturverbundenen Schweiz in den Kriegs- und Nachkriegsjahren gepflegt wurde. «In dieses Narrativ der geistigen Landesverteidigung passen der Cervelat und das Bräteln natürlich gut», sagt Schürch. «Aber ich habe keine Hinweise gefunden, dass der Cervelat damals als nationale Wurst propagiert wurde.»
Ideologisch aufgeladen wurde die Wurst der Nation erst 2008, als es in der Schweiz zur Cervelat-Krise kam: Vorübergehend durften brasilianische Rinderdärme nicht mehr als Hüllen eingesetzt werden. Der Cervelat bleibt die am zweitmeisten verkaufte Schweizer Wurst, an erster Stelle steht die Bratwurst (wobei Kalbs-, Schweins- und andere Grillwürste zusammengefasst werden).
Dass Bräteln bis heute so beliebt ist, hängt auch damit zusammen, dass in der Schweiz die Wege zu den Wäldern und Grünflächen kurz sind. Anders als im nahen Ausland sind offene Feuer grundsätzlich erlaubt, lokale Verbote wegen Waldbrandgefahr oder Naturschutzgebiet vorbehalten. Jede Gemeinde hat Grillstellen, die von Vereinen oder der öffentlichen Hand gepflegt werden. Und Wandern ist wieder populär geworden. «Die Kombination von Wandern und Bräteln ist sehr schweizerisch. Anderswo würde man vielleicht ein Sandwich einpacken», sagt Franziska Schürch.
Sicher aber schwingt bei der Freude am Bräteln viel Nostalgie mit. Man erinnert sich an Ausflüge von früher. Oder wird wieder Kind, wenn man mit dem eigenen Nachwuchs Würste brätelt. Der Genuss eines Cervelats, beim Picknick im Wald oder auf der Schulreise, sagt Franziska Schürch, stehe für eine «kollektiv geteilte Vorstellung davon, wie eine Kindheit in der Schweiz erlebt wird. Das verleiht dem Cervelat den Geschmack der Kindheit – wiedererlebbar mit jeder Wurst, die man am Haselstecken übers Feuer hält.»
Fertig Brätelspass?
Werden das kommende Generationen auch so erleben? Einerseits hält sich Bräteln dem Zeitgeist gegenüber erstaunlich widerstandsfähig und ist auch bei Jungen beliebt. Das zeigt sich jedes Jahr am Zürcher Sechseläuten, wenn der Böögg explodiert ist und die letzten Zünfter auf ihren Pferden den Platz verlassen haben: Dann versammeln sich junge Zürcherinnen und Zürcher um das grosse Feuer und bräteln ihre Wurst.

Andererseits haben sich unsere Essgewohnheiten verändert: Viele verzichten auf Fleisch, und dass Würste bräteln (auch wenn sie vegetarisch sind) nicht das Gesündeste ist – es handelt sich um hoch verarbeitete, manchmal verkohlte Lebensmittel –, versteht sich von selbst. Eltern haben gestiegene Sicherheitsansprüche und immer mehr Kinder einen individuellen Speiseplan.
Das macht es schwierig, das gemeinsame Bräteln auf Schulausflügen als universelles Erlebnis zu gestalten. Franziska Schürch erwartet deshalb, dass sich das Bräteln künftig stärker in die Familie verschieben und immer weniger Teil einer kollektiven Identität sein wird.
Eigentlich schade, würde das «Wir-Erlebnis» Bräteln in ferner Zukunft verschwinden.
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