Analyse zur Rede zur Lage der NationJoe Biden hält die Rede seines Lebens
In seiner wohl wichtigsten Ansprache nimmt sich der US-Präsident energisch die «Feinde der Demokratie» vor – zu Hause und in Moskau. Kritik an seinem Alter entgegnet er geschickt.
Joe Biden hat noch kein Wort gesagt bei seiner Rede zur Lage der Nation, als seine Anhänger am Donnerstagabend im Kongress bereits diese drei Wörter rufen. «Four more years», skandieren die Demokraten, sie tun das in der kommenden Stunde mehrfach. Noch vier Jahre mit Biden an der Spitze Amerikas oder vier neue Jahre mit Donald Trump – um nicht weniger wird es bei den Präsidentschaftswahlen am 5. November voraussichtlich gehen.
Deshalb haben Biden und seine Berater lange an dieser Rede gefeilt, es ist die vielleicht wichtigste Rede seines Lebens. Mit dieser State of the Union beginnt das zweite Duell mit Trump so richtig, obwohl der Redner hier offiziell nicht als Wahlkämpfer auftritt. Sondern als US-Präsident, der zu einigen Millionen Zuschauern vor den Fernsehern spricht und direkt vor sich in diesem weiträumig abgeriegelten Capitol unter anderem zu Regierung, Repräsentantenhaus, Senat und Oberstem Gerichtshof.
Selenskis Frau folgte Bidens Einladung nicht
Allein die Ehrengäste bei First Lady Jill Biden auf der Tribüne zeigen, wie sich Biden präsentieren will. Da sitzt zum Beispiel eine Frau aus Alabama, die sich eine zweite künstliche Befruchtung wünscht, der Oberste Gerichtshof Alabamas möchte das grundsätzlich verbieten. Da ist eine Aktivistin gegen Schusswaffen aus Texas, deren Schwester in Texas erschossen wurde, ein Gewerkschafter der Autobauer aus Michigan, neben dem Biden im Streikposten für höhere Löhne stand. Biden wird sie alle erwähnen.
Die Einladung ausgeschlagen haben Olena Selenska, die Frau des ukrainischen Präsidenten, und Julia Nawalnaja, die Witwe des ermordeten Oppositionsführers aus Russland. Bei der Ukrainerin hat das damit zu tun, dass weitere Milliardenhilfe für Kiew in Washington derzeit von republikanischen Hardlinern blockiert wird. Biden wird die Abgeordneten gleich dazu auffordern, dem Hilfspaket zuzustimmen: «Die Geschichte schaut zu.»
Auf der Tribüne Platz genommen hat zur Feier des Tages dafür Schwedens Premier Ulf Kristersson, sein Land ist soeben der Nato beigetreten. «Willkommen im stärksten Militärbündnis der Welt», grüsst ihn der oberste Amerikaner vom Pult. Einer propalästinensischen Demo auf der Pennsylvania Avenue war Bidens Tross bei der kurzen Anfahrt vom Weissen Haus ausgewichen.
Biden setzt bei Roosevelt und Hitler an
Mit kleiner Verspätung legt Biden gegen 21.15 Uhr Ostküstenzeit zur besten Sendezeit los. Und er startet so: Januar 1941, Franklin Roosevelt, Hitler, der Krieg. «Ich wende mich an Sie zu einem Zeitpunkt, der in der Geschichte der Union beispiellos ist», habe Roosevelt damals gesagt, so formuliert Biden es jetzt auch. «Das Besondere an dieser Situation ist, dass Freiheit und Demokratie im In- und Ausland gleichzeitig angegriffen werden», sagt er, damit ist der Ton gesetzt.
Biden erinnert daran, wie Ronald Reagan einst Michail Gorbatschow aufrief, die Mauer einzureissen, da klatschen sogar kurz die Republikaner. Eher still sind sie, als er ergänzt, dass «mein Vorgänger, ein früherer republikanischer Präsident» Putin sage, er könne tun, was zum Teufel er wolle. «Es ist empörend», sagt Biden. «Es ist gefährlich. Es ist inakzeptabel.»
Die Demokraten jubeln, viele Demokratinnen haben im Kontrast zu den meist dunkel gekleideten Republikanern weisse Kleider an. Die Republikanerin Marjorie Taylor Greene, ein besonders begeisterter Trump-Fan, trägt rotes Käppi mit Trumps Gassenhauer «Make America Great Again», kurz Maga.
Biden nennt Trump nicht beim Namen, aber natürlich geht es immer wieder um Trump. Es geht um den 6. Januar 2021, als Trumps Anhänger diesen Kuppelbau stürmten und Bidens Wahlsieg von 2020 kippen wollten. «Aber sie sind gescheitert. Amerika war stark, und die Demokratie hat gesiegt», sagt Biden. «Mein Vorgänger und einige von Ihnen hier versuchen, die Wahrheit über den 6. Januar zu vertuschen. Ich werde das nicht tun. Dies ist ein Moment, um die Wahrheit zu sagen und die Lügen zu begraben.»
Biden verhaspelt sich nur einmal
Biden wird immer wieder vorgeworfen, er sei zu weich, nicht stark genug und mit bald 82 einfach zu alt für den wichtigsten Job der Welt. Seine Umfragewerte sind deutlich schlechter als seine Bilanz. Viele Amerikaner finden, dass er zu viel Geld für die Ukraine ausgeben will und zu wenig auf Amerikas Grenzen aufpasst, dass er Israel zu treu und Amerika zu teuer ist.
All diese Punkte arbeitet Biden nun ab. Das meiste davon hatte man so oder ähnlich schon mal von ihm gehört. Aber da ist eine gewisse Verve, wie schon bei seiner State of the Union vor einem Jahr, seine Stimme klingt kräftiger als zuletzt, er verhaspelt sich nur einmal auffällig. Er wirkt entschlossen, was bleibt ihm anderes übrig.
Er verspricht, dass die USA die Ukraine weiterhin unterstützen würden. «Europa ist in Gefahr», sagt er. «Die freie Welt ist in Gefahr, und andere, die uns Schaden zufügen wollen, werden ermutigt. Meine Botschaft an Präsident Putin ist einfach. Wir werden nicht weglaufen. Wir werden nicht klein beigeben. Ich werde nicht klein beigeben.»
Er sagt, dass Israel nach dem Terror vom 7. Oktober alles Recht habe, gegen die Hamas vorzugehen. Aber er erwähnt ausser den getöteten und entführten Israelis auch 30’000 getötete Palästinenser. «Der israelischen Führung möchte ich Folgendes sagen: Humanitäre Hilfe darf keine zweitrangige Erwägung oder ein Druckmittel bei Verhandlungen sein.»
Ihm wird geraten, aggressiver zu werden
Kurz vor seinem Auftritt wurde bekannt, dass die US Army eine schwimmende Anlegestelle vor Gaza baut, um Lebensmittel und andere Hilfsgüter geordneter und umfangreicher liefern zu können als zuletzt aus der Luft. Es gebe keine andere Lösung als eine Zwei-Staaten-Lösung. «Ich sage dies als lebenslanger Unterstützer Israels und als einziger amerikanischer Präsident, der Israel in Kriegszeiten besucht hat.»
Es ist ein Ritt durch die Weltkrisen, aber vor allem durch sein Amerika und das, was Amerika für seinen Geschmack unter Trump geschah und unter Trump drohen würde. Er kenne die amerikanische Geschichte, sagt Biden, da ist auch wieder sein Lieblingssatz vom «Kampf um die Seele unserer Nation».
Er solle aggressiver werden, raten Kritiker, die es wohl gut mit ihm meinen. Er solle Trump direkter angehen. Das tut er, ohne von Trump zu sprechen, auch beim Streitfall Migration. Er werde keine Familie trennen und nicht sagen, dass Migranten das Blut des Landes vergiften, das hat Trump gesagt. Er verlangt von den Republikanern, dem neuen, sehr verschärften Grenzabkommen zuzustimmen, aber Biden sagt auch dies: «Das ist Amerika, wo wir alle irgendwoher kommen, aber wir sind alle Amerikaner.»
Er gibt den Landesvater und zeichnet das grosse Bild einer in ihren Grundfesten bedrohten und von ihm geschützten Nation. «Mein Leben hat mich gelehrt, mich für Freiheit und Demokratie einzusetzen», sagt er. «Eine Zukunft, die auf den Grundwerten basiert, die Amerika definiert haben: Ehrlichkeit, Anstand, Würde, Gleichheit.»
Pathetisch und ein wenig populistisch
Pathos muss sein, am besten mit Wirkungstreffer. «Einige Menschen in meinem Alter sehen eine andere Geschichte», sagt Biden. «Eine amerikanische Geschichte des Grolls, der Rache und der Vergeltung. Das bin ich nicht.» Jeder weiss, wen er meint, er meint den Mann, dessen Namen er nicht nennt. Donald Trump, 77.
Biden versichert, dass er das auf Betreiben der Republikaner vom Supreme Court kassierte Bundesrecht auf Abtreibung wiederherstellen will. Er schwärmt davon, wie sich bei ihm nach der Pandemie die Wirtschaft erholt habe. Dies sei «die grösste Comeback-Geschichte, die je erzählt wurde», mit Millionen Jobs und Produkten made in America, darunter Mikrochips.
«America First» hat als Ökonom auch der Transatlantiker Biden im Programm, ein wenig Populismus kann ja ebenfalls nicht schaden. «Amerikas Comeback ist der Aufbau einer Zukunft mit amerikanischen Möglichkeiten», damit «jeder eine faire Chance hat und wir niemanden zurücklassen.» Gleichzeitig haben ihm linke Demokraten wie Bernie Sanders offenbar erfolgreich empfohlen, klarer die ganz grossen Absahner herauszufordern.
Biden berichtet, wie er trotz Big Pharma dafür gesorgt habe, dass Medikamente billiger geworden seien. Und wie Grossunternehmen höher besteuert werden sollen: «Ich bin ein Kapitalist», sagt er. «Wenn Sie eine Million Dollar verdienen wollen – grossartig! Zahlen Sie einfach Ihren gerechten Anteil an Steuern.»
Wenn der Präsident danach mal wieder von seiner Geburt im Kriegsjahr in Pennsylvania erzählt, dann streift er auch noch das Thema Alter. Und das nicht ungeschickt. «In meiner Laufbahn hat man mir immer wieder gesagt, ich sei zu jung und zu alt», sagt er. «Ob jung oder alt, ich habe immer gewusst, was Bestand hat.»
Demokraten johlen, und sie rufen es wieder. «Four more years», vier weitere Jahre. In ungefähr acht Monaten wird man es wissen.
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