Theologe im InterviewWieso kritisieren Sie die Asylpolitik? «Ich kann nicht anders»
Andreas Nufer, Pfarrer an der Heiliggeistkirche in Bern, setzt sich für Benachteiligte ein und exponiert sich damit. Nun wechselt er nach Zürich.
- Pfarrer Andreas Nufer zieht sich nach 13 Jahren von der Heiliggeistkirche zurück.
- Nufer engagiert sich besonders für Geflüchtete und gründete das Solidaritätsnetz Ostschweiz.
- Er findet: Eine spiritualisierte Gesellschaft bleibt wichtig, auch wenn Kirchen unter Mitgliederschwund leiden.
An der Heiliggeistkirche auf dem Berner Bahnhofplatz kommen alle vorbei: Politiker, Unternehmerinnen, Familien, Randständige. Oft stoppen sie vor den markanten Kunstinstallationen. Besonders auffällig war die Aktion «Beim Namen nennen» – unzählige Zettel mit Namen der Menschen, die auf der Flucht nach Europa gestorben sind.
Pfarrer Andreas Nufer setzt sich immer wieder öffentlich für Geflüchtete ein – und nimmt in Kauf, dass er damit teilweise aneckt. Kirche müsse auch unbequem sein, findet der 60-Jährige.
Herr Nufer, Sie äussern sich gerne zu politischen Themen, insbesondere zur Schweizer Migrationspolitik. Warum?
Die Kirche vertritt bestimmte Werte. Deshalb gibt es Fragen des Zusammenlebens, zu denen man aus Sicht der Kirche Stellung beziehen kann. Das ist nicht immer notwendig, aber oft.
Kirche ist politisch?
Ja, natürlich.
Sie waren vergangenes Jahr zu einem Ostergespräch mit der SP-Parteispitze eingeladen. Ist die Kirche links?
Die Kirche ist weder links noch rechts, sie ist für alle da. Das gilt insbesondere für die Heiliggeistkirche. Es kommt nicht darauf an, ob man Erfolg hat oder arm ist, ob man suchtbetroffen ist oder topfit, ob man aus der Schweiz kommt oder von irgendwoher aus der Welt. Zu uns dürfen alle kommen. Das heisst aber nicht, dass wir beliebig sind. Wir haben eine bestimmte Haltung gegenüber dem Leben.
Wieso beschäftigt Sie vor allem das Thema Flüchtlinge?
Ich stehe in der Tradition der Befreiungstheologie, die in Südamerika ihre Wurzeln hat. Diese unterstreicht, dass Gott vor allem dann für uns da ist, wenn es uns nicht gut geht. Geflüchtete Menschen befinden sich am äussersten Rand unserer Gesellschaft, deshalb muss man sich um sie ganz besonders kümmern. Das Thema habe ich mir allerdings nicht selbst ausgesucht.
«Ich konnte es kaum glauben, dass man in der Schweiz so mit Menschen umspringt.»
Erzählen Sie, bitte.
An meiner letzten Stelle in St. Gallen gab es diese entscheidende Begegnung. Damals galt relativ neu der sogenannte Nichteintretensentscheid im Asylwesen. Allen Betroffenen wurde die Sozialhilfe gestrichen. Ich hatte das politisch gar nicht mitverfolgt. Doch dann klingelten an einem kalten Novembertag drei junge Männer an meiner Tür und erzählten, dass sie nun völlig mittellos auf der Strasse stünden. Ich bat sie herein auf einen Kaffee und wollte mehr wissen. Ich konnte es kaum glauben, dass man in der Schweiz so mit Menschen umspringt. Da nahm mein Engagement seinen Anfang.
Wie ging es mit den drei jungen Männern weiter?
Ich hatte an dem betreffenden Wochenende vier Gottesdienste. Ich nahm die Männer mit und liess sie erzählen. Die Reaktion der Gemeindemitglieder war ähnlich wie meine: In der Schweiz ist so etwas möglich? Das kann doch gar nicht sein! Eine Woche später gründeten wir das Solidaritätsnetz St. Gallen, drei Wochen später entstand daraus das Solidaritätsnetz Ostschweiz. Die Unterstützung war enorm.
Hat Sie das überrascht?
Nein. Die ganz grosse Mehrheit der Menschen weltweit kümmert sich um andere in Not. Das hat sich seither auch nicht verändert.
Woher kommt die Diskrepanz zur Politik, wo Geflüchtete vor allem als Problem angesehen werden?
Es gibt nun mal einzelne Politiker, die sehr laut sind. Und es hilft leider beim Stimmenfang, den Menschen einen Sündenbock zu präsentieren. Die geeignetsten Sündenböcke sind Leute, die sich am wenigsten wehren können – bei uns sind das in erster Linie Migrantinnen und Geflüchtete. Schon in biblischen Zeiten suchte man sich einfache Sündenböcke. Damals waren das ebenfalls häufig Fremde, aber auch Witwen und Waisen.
Welches Feedback erhalten Sie nach Kritik an der Schweizer Migrationspolitik wie etwa in der SRF-Sendung «Arena»?
Ich benötige jeweils mehrere Arbeitstage, um alle E-Mails und Telefonanrufe zu beantworten. Die Reaktionen sind ziemlich genau zur Hälfte positiv und zur Hälfte negativ. Sie reichen von «Endlich vertritt jemand eine angemessene Haltung» bis zu «Ich bringe Sie um».
Wieso tun Sie sich das an?
Ich kann nicht anders.
Was sagen Ihre Frau und Ihre Kinder dazu?
Das ist immer wieder ein viel diskutiertes Thema. Aber meine Familie steht hinter mir.
«Wenn es nur noch eine Wohlfühlkirche gibt, dann stimmt etwas nicht mehr.»
Wie gehen Sie damit um, wenn Ihnen so viel Wut entgegenschlägt?
In sehr vielen Fällen steckt hinter der Reaktion eine Lebensgeschichte, die mir die Leute dann im Verlauf des Austauschs erzählen. Meistens beginnen sie mit der Einleitung: «Wissen Sie, Herr Pfarrer, bei mir ist es eben so …» Und dann schildern sie mir einen persönlichen Schicksalsschlag oder eine schwierige Kindheit.
Können Sie die Wut so lindern?
Fast immer. Die Leute sind oft dankbar, dass ihnen jemand zuhört.
Der Kanton Bern prüft, die Kirchensteuer für juristische Personen abzuschaffen. Hintergrund ist, dass Unternehmen sich darüber ärgern, dass einzelne Kirchgemeinden die Konzernverantwortungsinitiative unterstützt haben. Nun kommt eine zweite Initiative mit dem gleichen Anliegen. Soll die Kirche dieses Mal lieber schweigen?
Nein. Man kann eine Position nicht aufgeben, nur aus Angst, dass jemand aus der Kirche austreten oder sich gegen sie stellen könnte. Wenn es nur noch eine Wohlfühlkirche gibt, dann stimmt etwas nicht mehr. Das Evangelium hat immer einen Stachel, es ist nie einfach nur bequem.
Wie schaffen Sie es, optimistisch zu bleiben angesichts all der Schicksale, mit denen Sie konfrontiert werden?
Ich habe eine positive Haltung gegenüber dem Leben. Ich würde allerdings eher von Hoffnung oder Zuversicht sprechen. Ich fühle mich getragen.
Werden Sie nie wütend angesichts der vielen Ungerechtigkeiten?
Doch, aber Wut ist auch eine Antriebsfeder, die ich nutze, um mich für Verbesserungen einzusetzen.
Hadern Sie manchmal mit Gott?
Natürlich. Das gehört dazu.
Was macht die Arbeit als Pfarrer hier an der Heiliggeistkirche speziell?
Die vielen spannenden Menschen, die sich hier engagieren, die Teams. Und dann ist die zentrale Lage gleich beim Berner Bahnhof aussergewöhnlich. Innen und aussen haben verschiedene Gruppen einen Anspruch an diesen Raum. Es ist manchmal anstrengend, alle Bedürfnisse zusammenzubringen. Weil hier die offene Kirche Bern ist, sind auch viele Formen möglich, die man in einer Dorfkirche nicht so leicht umsetzen könnte. Zum Beispiel läuft gerade die Lichtshow Genesis II, in der es um die Erschaffung der Welt geht.
«Der Selbstoptimierungswahn führt leider dazu, dass wir zu wenig darüber reden, was uns belastet.»
Sie machen auch Aktionen wie «Beim Namen nennen», wo der Menschen gedacht wird, die auf der Flucht nach Europa ums Leben gekommen sind. Wie kommt das an?
Nur sehr wenige Menschen schimpfen. Wenn ich hier draussen stehe während einer solchen Aktion, dann habe ich an einem Morgen mehr Gespräche als sonst in einer ganzen Woche. Indem wir die Schicksale der Geflüchteten thematisieren, löst das bei den Menschen aus, dass sie über ihre eigenen schwierigen Erfahrungen sprechen. Der Selbstoptimierungswahn führt leider dazu, dass wir zu wenig darüber reden, was uns belastet. Manche Menschen fühlen sich zudem auf einer Couch beim Psychiater unwohl. Hier auf dem belebten Platz vor der Kirche fällt es ihnen leichter, sich zu öffnen.
Trotzdem: Die Kirchen in der Schweiz klagen über Mitgliederschwund. Werden sie am Ende ganz leer bleiben?
Das glaube ich nicht. Das Streben nach einem guten Leben ist so wichtig und anziehend für die Menschen, das verschwindet nicht. Eine Gesellschaft braucht Spiritualität.
Wieso hören Sie auf in Bern?
Nach 13 Jahren ist es Zeit für etwas Neues.
Sie wechseln ans Seminarhotel und Bildungshaus Kloster Kappel im Kanton Zürich, wo Sie als theologischer Leiter tätig sein werden. Was reizt Sie daran?
Es gibt eine unsichtbare Verbindung zwischen Orten wie der Heiliggeistkirche und dem Kloster Kappel: Man muss sich noch mehr als an anderen Orten überlegen, welche Themen die Menschen interessieren, die hierherkommen, in welcher Form und mit welcher Ästhetik man sie am besten anspricht.
Abschiedsgottesdienst: So, 26. Januar, 10.30 Uhr, Heiliggeistkirche Bern.
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