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Zwangsmassnahmen gegen Jenische
Schweiz trägt Mitverantwortung für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, SP, in Bern am 29.09.2023, porträtiert von Raphael Moser.
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In Kürze:
  • Der Bundesrat bekräftigt eine Entschuldigung von 2013 an Schweizer Jenische für geschehenes Unrecht.
  • Von 1926 bis 1981 wurden schätzungsweise 2000 jenische Kinder ihren Eltern weggenommen.
  • Ein Gutachten wertet die Massnahmen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, an dem die Schweizer Behörden aktiv beteiligt waren.

Von 1926 bis 1981 wurden in der Schweiz schätzungsweise 2000 Kinder ihren Eltern weggenommen und in Pflegeheime, Erziehungsanstalten oder Fremdfamilien gesteckt –  gegen ihren Willen. Zahlreiche Erwachsene wurden in psychiatrische Anstalten oder Gefängnisse abgeschoben oder unter Vormundschaft gestellt. Einigen wurde verboten, zu heiraten, oder sie wurden sogar zwangssterilisiert. Und alles nur, weil sie Jenische waren. 

Ihre fahrende Lebensweise entsprach nicht der damals gängigen Norm. Sie lebten in Wohnwagen und arbeiteten in verschiedenen Berufen gleichzeitig. Viele schliffen Messer, reparierten Pfannen, flochten Körbe und veranstalteten Chilbis. Und weil sie anders lebten, sollten ihre Familienbande zerstört und ihre Kinder von ihrer Kultur entfremdet werden. Sie sollten zu sesshaften und «brauchbaren» Menschen der bürgerlichen Gesellschaft erzogen werden, wie es damals hiess. 

Durchgesetzt wurden die Zwangsmassnahmen von kirchlichen Organisationen und vom «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute. Mithilfe der Behörden war das Hilfswerk verantwortlich für rund 600 Fremdplatzierungen von jenischen Kindern.

War das, was damals mit den Jenischen passierte, ein «kultureller Genozid»? Ein Rechtsgutachten, das der Bund in Auftrag gegeben hat, kommt nun zum Schluss: Nein. Aber es handle sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Deshalb trat am Donnerstag Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider vor die Medien, um im Namen des Bundesrats bei den Jenischen ihre Betroffenheit auszusprechen: «Die Behörden haben damals aktiv an der Gewalt mitgewirkt, die den Jenischen, Sinti und ihren Familien und Gemeinschaften angetan wurden. Das bedauert der Bundesrat zutiefst und er möchte diesen Menschen gegenüber seine Entschuldigung bekräftigen, die er im 2013 bereits ausgesprochen hatte.»

Wie kommt das Gutachten zu diesem Ergebnis?

Im vergangenen Jahr verlangte die Radgenossenschaft der Landstrasse, die Dachorganisation der schweizerischen Jenischen und Sinti, dass die an den Jenischen verübten Zwangsmassnahmen als «kultureller Genozid» anerkennt werden. «Es war ein Völkermord, der Bund soll es endlich anerkennen», sagte der Präsident der Radgenossenschaft, Daniel Huber, damals. Auch die Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen verurteilt Kindswegnahmen als Genozid, weil sie die Absicht hätten, eine Gruppe zu zerstören. Unter Historikern und Juristinnen war jedoch umstritten, inwieweit die Pro Juventute und der Bund mit ihrer damaligen Versorgungspraxis zum Ziel hatten, eine Kultur auszulöschen. 

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Der Bundesrat liess daraufhin von Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht der Universität Zürich, ein Gutachten erstellen, das diese Frage klären sollte. Zusammengefasst lautet sein Ergebnis: Staat, Kantone und Gemeinden tragen eine Mitverantwortung für die Taten gegenüber den Jenischen und Sinti. Ohne ihre Hilfe – unter anderem finanzieller Art – wären die verübten Verbrechen nicht möglich gewesen. 

Bei den Zwangsmassnahmen handle es sich nach heute geltenden völkerrechtlichen Standards um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Grundrechte der Opfer wurden systematisch verletzt, insbesondere das Recht auf Privat- und Familienleben sowie das Recht auf Bewegungsfreiheit.

Ein Genozid, also die Absicht zur physischen oder biologischen Vernichtung von Menschen, liege aus rechtlicher Sicht aber nicht vor. Und einen «kulturellen Genozid», also die Vernichtung der kulturellen Existenz, gebe es als Tatbestand im Völkerrecht nicht. 

Diese Massnahmen wurden bereits umgesetzt

Im Jahr 2013 entschuldigte sich Simonetta Sommaruga bereits ein erstes Mal für das Unrecht an den Jenischen. Vorerst geht mit der Bekräftigung der Entschuldigung keine neue finanzielle Entschädigung einher. Den Opfern stehe aus einem bereits bestehenden Fonds ein Solidaritätsbeitrag von maximal 25 000 Franken pro Person zu, erklärte Bundesrätin Baume-Schneider vor den Medien. Ihr Departement werde zudem mit den Betroffenen bis Ende 2025 klären, inwiefern über die bereits ergriffenen Massnahmen hinaus Bedarf zur Aufarbeitung der Vergangenheit bestehe. 

Seit der Auflösung des Pro-Juventute-Hilfswerks im Jahr 1973 begann der Bund, sich zunehmend für eine Wiedergutmachung einzusetzen. So wurden seit Ende der 80er-Jahre verschiedene wissenschaftliche Studien in Auftrag gegeben und Berichte publiziert. Es wurden Hilfsfonds, Beratungs- und Anlaufstellen gegründet, die den Opfern beispielsweise helfen sollten, in den Gemeindeakten ihre Ursprungsfamilien zu finden. 

In den frühen 90er-Jahren  bewilligte das Parlament einen Antrag auf 11 Millionen Franken zur Wiedergutmachung für die Opfer des Hilfswerks für Kinder der Landstrasse. Und der Bund gründete die Stiftung «Zukunft Schweizer Fahrende», welche die Lebensbedingungen von nomadisch lebenden Gruppen verbessern möchte.

Auch die Radgenossenschaft der Landstrasse hat das Gutachten erhalten. Geschäftsführer Willi Wottreng konnte vom 70-seitigen Bericht bisher allerdings nur einen ersten Eindruck gewinnen. Die Details kenne er noch nicht, sagt er auf Anfrage: «Aber er scheint  in die richtige Richtung zu gehen».

Teil der administrativen Versorgungspraxis

Die Geschichte der Jenischen in der Schweiz ist nur ein dunkles Kapitel in einem ganzen Buch – insgesamt wurden bis 1981 in der Schweiz Tausende Kinder und Erwachsene fremdplatziert. Dazu gehörten auch Verdingkinder – also Kinder aus armen Familien, die zur Zwangsarbeit auf Bauernhöfe geschickt wurden. Dort wurden sie zum Teil ausgebeutet und missbraucht. Aber die Vormundschaftsbehörden sperrten auch erwachsene Personen, die als «liederlich», «trunksüchtig» oder «arbeitsscheu» galten, in Arbeits- oder Strafanstalten. Und dies ohne ein Gerichtsverfahren.