Analyse zum SNB-ZinsentscheidJeder Albtraum geht einmal zu Ende
Die Inflation geht zurück, die Nationalbank verzichtet auf eine Zinserhöhung. Das überrascht viele, doch eine Wende war absehbar.
Die Schweizerische Nationalbank (SNB) geht mit den Leitzinsen nicht weiter hoch. Dieser Entscheid hat viele Leute überrascht. Obwohl es ökonomisch gute Gründe gibt, die Geldpolitik nicht weiter zu straffen – die schwache Konjunktur, der starke Franken, der Rückgang der Inflation –, herrschte in der Öffentlichkeit die Meinung vor: Die SNB geht mit dem Zins weiter hoch.
Materiell ist der Entscheid gar nicht so bedeutend. Statt stillzuhalten, hätten Thomas Jordan und seine Kollegen im Direktorium der Nationalbank genauso gut anders entscheiden können, sprich: den Leitzins von 1,75 auf 2 Prozent erhöhen. Der Leitzins beeinflusst, zu welchen Konditionen sich Firmen oder Immobilienkäufer Geld leihen können. Ein Viertelprozentpunkt mehr oder weniger macht für die Schweizer Wirtschaft keinen riesigen Unterschied.
Wichtiger ist der Subtext des Entscheids: Die Serie von Zinsanstiegen kommt an ihr Ende. Die Nationalbank hat genug unternommen, um die Teuerung in die Schranken zu weisen. Weitere Massnahmen braucht es nicht – die inflationäre Bedrohung ist abgewendet, die geldpolitische Krise gemeistert. Alles wird gut.
Viele Menschen haben sich angesichts der Massierung negativer News längst auf eine Dauerkrise eingestellt.
Genau diese Botschaft ist jedoch schwer zu begreifen. Die Nachrichten sind voll mit Hiobsbotschaften. Russland besetzt weiter Teile der Ukraine und bombardiert Häfen, in denen Getreide auf Schiffe verladen und nach Afrika exportiert werden sollte. Benzin kostet an der Tankstelle zwei Franken. Heizen mit Gas ist ebenfalls teuer, und jetzt schlagen auch noch die Stromtarife auf. Überall auf der Welt gibt es Erdbeben, Waldbrände und Überschwemmungen.
Finanzkrise, Eurokrise, Corona-Krise – viele Menschen haben sich angesichts der Massierung negativer News längst auf eine Dauerkrise eingestellt. Da liegt es nicht fern, sich auch eine Dauerinflation als Normalzustand auszumalen.
Doch so schlimm all diese Dinge auch sind, von der globalen Aufrüstung bis zum Klimawandel: Die Inflation ist bloss eine ökonomische Grösse. Sie gibt an, wie stark sich der Preis eines Warenkorbs, den eine Durchschnittsperson in der Schweiz konsumiert, von einem Jahr zum nächsten verändert.
Schockartige Ereignisse können den Preis dieses Warenkorbs über Nacht in die Höhe treiben. Genau das ist passiert, nachdem Russland am Morgen des 24. Februar 2022 in die Ukraine eingefallen ist. Als Folge davon haben sich zuerst Rohstoffe wie Erdöl, Gas und Weizen und in einem weiteren Schritt alle möglichen Güter und Dienstleistungen rund um die Welt verteuert.
Es war immer logisch, dass die Notenbanken irgendwann haltmachen würden und abwarten, bis sich die Weltwirtschaft an die neuen Gegebenheiten angepasst hat.
Deshalb – und weil die Weltwirtschaft ausgangs der Corona-Pandemie gerade etwas überhitzt war – haben die Notenbanken weltweit ihre Zinsen erhöht.
Dass sich die Konjunktur als Folge davon abkühlen würde, war eigentlich immer klar. Auch dass die Inflation nach ein bis zwei Jahren zurückgehen würde, war früh absehbar – allein schon die Arithmetik gibt das zu einem gewissen Grad vor (steigen die Preise nicht weiter, fällt die Inflation auf null).
Und so war auch immer logisch, dass die Notenbanken irgendwann haltmachen würden und abwarten, bis sich die Weltwirtschaft an die neuen Gegebenheiten angepasst hat: mit veränderten Lieferketten, verteilpolitischen Arrangements, Konsumgewohnheiten – und auch mit den unvermeidlichen Kaufkrafteinbussen, die ein Ereignis wie der Ukraine-Krieg zur Folge hat.
Dass dieser Prozess schon weit fortgeschritten ist – und die Wirtschaft auch in der Schweiz drauf und dran ist, auf ein neues Gleichgewicht zuzusteuern –, an diese Vorstellung müssen sich viele Menschen zuerst noch gewöhnen.
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