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Unterwegs mit Permafrost-Forscherin
Seit 30 Jahren misst sie das Fieber der Berge

Unterwegs mit Marcia Philips vom SLF Davos oberhalb von Pontresina, bei den Lawinenverbauungen Muot da Barba Peider, zur Untersuchung des Permafrostes.  Marcia Phillips posiert auf einer Lawinenverbauung in der selben Stellung, wie sie es vor 22 Jahren für die Schweizer Familie tat. Aufgenommen am 30. Juli 2024. Foto Mayk Wendt
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Unten im Tal, am Rande der Strasse zwischen Pontresina und dem Berninapass, gibt Marcia Phillips klare Anweisungen: «Duckt euch und bleibt stehen! Lauft nicht weg! Auch wenn ihr genau das tun möchtet!» Als wir wenig später auf dem Schafberg, 2978 Meter über Meer, aus dem Helikopter steigen, wird mir der Sinn der Instruktion klar: Der Rotor zerschneidet über unseren Köpfen die Luft und verursacht einen infernalischen Lärm.

«Nichts wie weg», denke ich im ersten Moment, ducke mich aber bloss und bleibe wie geheissen stehen, bis das Material ausgeladen ist. Dann ist der Helikopter auch schon wieder weg. Und es ist still. Und windig. Und kühl.

Unterwegs mit Marcia Philips vom SLF Davos oberhalb von Pontresina, bei den Lawinenverbauungen Muot da Barba Peider, zur Untersuchung des Permafrostes.  Ausserhalb von Pontresina wird die Gruppe von Helibernina abgeholt. Aufgenommen am 30. Juli 2024. Foto Mayk Wendt

Der Ausblick ist gigantisch: in Richtung Nordwesten das Oberengadin mit seinen Seen und St. Moritz, in südöstlicher Richtung der Morteratschgletscher. «Der war damals, als die ‹Schweizer Familie› schon einmal mit mir hier oben war, noch deutlich grösser», sagt Marcia Phillips, 55.

2002 begleitete ein Team der «Schweizer Familie» die Forscherin zu genau derselben Stelle: der Messstation am Schafberg oberhalb von Pontresina.

Damals steckte ihre Forschung noch in den Kinderschuhen: Ein Bericht aus dem Jahr 2002 in der «Schweizer Familie» über Marcia Phillips.

Die steigenden Temperaturen, das Auftauen des Permafrosts, Steinschlag und Felsstürze waren schon damals der Anlass. Doch seither hat sich viel verändert. «Im Jahr darauf erlebten wir den grossen Hitzesommer», erinnert sich Marcia Phillips. Seither sei die durchschnittliche Temperatur im Boden um weitere ein bis eineinhalb Grad gestiegen und das Thema der Felsstabilität noch dringlicher geworden.

Schwindet der Permafrost, werden Berge instabil, können Steine und Felspakete in die Tiefe donnern. Oder ganze Bergflanken aufs Mal. «Das kam früher ein- bis zweimal in einem Jahrhundert vor. Heute gibt es mehr solche grossen Ereignisse», konstatiert Marcia Phillips. Fels- und Bergstürze bedrohen die Menschen, die in den Alpen leben, und ihre Infrastruktur. Die Forschung zum Permafrost gewinnt deshalb stark an Bedeutung. Aber es handelt sich um eine komplexe Materie.

Unterwegs mit Marcia Philips vom SLF Davos oberhalb von Pontresina, bei den Lawinenverbauungen Muot da Barba Peider, zur Untersuchung des Permafrostes.  Marcia Phillips liest Daten aus den Messgeräten aus. Aufgenommen am 30. Juli 2024. Foto Mayk Wendt

Denn Permafrost ist nicht sichtbar wie Gletschereis – seine Auftauprozesse passieren still und unbemerkt im Innern der Berge. «Deshalb können wir nicht nur mit einer Methode arbeiten, sondern müssen quasi investigativ forschen», sagt die international bekannte Expertin. Mit ihrer Forschung horcht Marcia Phillips in den Berg hinein, um zu verstehen, was in den gewaltigen und geschichteten Steinmassen auf Höhen von über 2500 Metern über Meer passiert. Und um die Menschen, die in den Tälern leben, besser zu schützen.

Ungewöhnliche Karriere

Lanciert wurde ihre ungewöhnliche Karriere paradoxerweise mit einer Absage. Nachdem sie Geografie und Geomorphologie studiert und anschliessend erst mal in der Gemüseforschung und in einer Designschule gearbeitet hatte, wollte sie Lawinenwarnerin am Weissfluhjoch werden. Sie erhielt den Job im Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) nicht.

«Aber der Direktor meinte, er suche jemanden für eine Doktorarbeit zu Lawinenverbauungen im Permafrost.» Marcia Phillips war erstaunt. Sie sei keine Ingenieurin, habe keine Ahnung vom Bauen, entgegnete sie. Aber der Direktor meinte, das werde sie dann schon lernen. Also wagte sie es und widmete sich fortan als erste Forscherin der Frage, wie Verbauungen, die Menschen und Infrastrukturen vor Lawinen schützen, am besten im gefrorenen Boden verankert werden.

Die hiesige Permafrost-Forschung war damals noch jung und männlich dominiert, und am SLF war Marcia Phillips die erste Frau, die doktorierte. Inzwischen leitet sie dort ein Team von sieben Mitarbeitenden, die Hälfte von ihnen Frauen. Dreissig Messstationen haben Marcia Phillips und ihr Team in der ganzen Schweiz installiert – das grösste Gebirgsmessnetz der Welt.

Die Nullgradgrenze steigt

Marcia Phillips vermutet, dass die Faszination für das Gestein ein Vermächtnis ihres Vaters ist. Als kleines Kind ging sie mit ihm, dem Geografielehrer, Steine suchen und erforschen. Schon damals wollte sie wissen: Enthalten die Fundstücke Salz? Oder entpuppten sie sich sogar als Kristalle? Auch die Berge und den Schnee liebte sie von klein auf: «Ich ging auf Skitouren, wandern und bergsteigen.» Aufgewachsen ist sie dreisprachig im welschen Villars: der Vater Engländer, die Mutter Deutsche, die Schule auf Französisch und Englisch.

Höhenangst ist bei der Arbeit am Berg ein schlechter Begleiter. «Ich bin aber nie schwindelfrei gewesen», erzählt Marcia Phillips lachend. Sie muss laut sprechen, denn gerade fegt wieder eine Böe des warmen Malojawindes über den Schafberg. Der Rucksack, den sie sich auf den Rücken hievt, ist mit modernen Geräten gefüllt. Technik habe sie schon früh genauso sehr interessiert wie die Natur, das Wandern und Touren im Schnee, ruft sie, bevor ihre Worte von einem weiteren Windstoss verschluckt werden.

Als es wieder ruhig ist, erklärt sie kurz, was sich hier im Berg abspielt: «Die Nullgradgrenze steigt inzwischen oft auf 4000 Meter über dem Meer. Darum regnet es auch bis hinauf in hohe Lagen, wo der Permafrost liegt.» Das setzt einen verhängnisvollen Mechanismus in Gang: Bisher waren Spalten oder Risse im Berg mit Eis gefüllt, das wirkte wie ein Stöpsel. Wenn dieses Eis aufgrund der hohen Temperaturen verschwindet, kann Wasser plötzlich an vielen bisher dichten Stellen in den Berg eindringen, bis in weite Tiefen.

«Mit dem Wasser gelangt Wärme und Druck in den Berg hinein. Und das wiederum kann die Stabilität im Berg beeinträchtigen und zu Hangrutschen führen», sagt Marcia Phillips. Auch hier auf dem Schafberg, ihrem Lieblingsarbeitsort, laufen diese Prozesse ab. «Aber wir verstehen sie noch nicht ganz», sagt die Wissenschaftlerin und greift nach einer der neun Kilogramm schweren Batterien. Dann ruft sie: «Wir gehen jetzt in diesen Hang hinein!»

Unterwegs mit Marcia Philips vom SLF Davos oberhalb von Pontresina, bei den Lawinenverbauungen Muot da Barba Peider,  zur Untersuchung des Permafrostes. Marcia Phillips trägt eine Batterie für die Messgeräte auf 3000 Metern Höhe, im Hintergrund ist der Morteratschgletcher und die Berninagruppe mit Piz Palü zu sehen. Aufgenommen am 30. Juli 2024. Foto Mayk Wendt

Der Blick über die Kante offenbart eine steile Schutthalde, lauter lockeres Gestein, darin Lawinenverbauungen in verschiedenen Ausführungen. Es sind Versuchsobjekte, die das SLF 1996 entwickeln und bauen liess, weitere Testverbauungen kamen später dazu. Ebenfalls in den Hang hinein liess Phillips in den letzten drei Jahrzehnten Löcher bohren, zwanzig Meter in die Tiefe.

In den Bohrlöchern sind Sensoren und Messgeräte platziert. Sie registrieren die Temperaturen und Bewegungen im Berg. Einmal im Jahr kommt Marcia Phillips hierher, um die gemessenen Daten zu erfassen.

Damit die Geräte ein weiteres Jahr funktionieren, trägt sie voll geladene Ersatzbatterien zu jeder Messstelle. Sie mahnt zu Vorsicht beim Queren des Hangs, der mit einer Neigung von beinahe 40 Grad steil abfällt: «Es ist ein typischer Lawinenhang. Die Steine rutschen. Passt bitte gut auf euch auf!»

Der Hang bewegt sich

Mitten im Geröll taucht ein Betonschacht mit runder gusseiserner Abdeckung auf. Marcia Phillips wuchtet den schweren Dolendeckel auf und schiebt ihn zur Seite. Im Innern kommen Geräte und Kabel zum Vorschein. Sie überprüft sorgfältig die Verbindungen, eine nach der andern, und schliesst ihren tragbaren Computer an. Dann setzt sie sich auf den schmalen Rand des Schachtes. Und wartet. Es ist nicht sicher, dass das Messgerät überhaupt funktioniert und Daten gespeichert hat.

Unterwegs mit Marcia Philips vom SLF Davos oberhalb von Pontresina, bei den Lawinenverbauungen Muot da Barba Peider, zur Untersuchung des Permafrostes. Marcia Phillips liesst die Daten eines Messgerätes aus dem Bohrloch aus. Aufgenommen am 30. Juli 2024. Foto Mayk Wendt
Unterwegs mit Marcia Philips vom SLF Davos oberhalb von Pontresina, bei den Lawinenverbauungen Muot da Barba Peider, zur Untersuchung des Permafrostes.  Marcia Phillips liest Daten der Messgeräte aus, die an einem Steinschlagnetz befestigt sind. Aufgenommen am 30. Juli 2024. Foto Mayk Wendt

«Der Hang bewegt sich, manche der Bohrlöcher sind nach einiger Zeit so stark deformiert, dass die Geräte darin nicht funktionstüchtig sind und nicht einmal mehr hervorgeholt werden können», sagt Marcia Phillips. In diesem Moment blinkt etwas am Bildschirm auf. «Jetzt bin ich gespannt», murmelt sie und schaut gebannt auf den Monitor. Was sagen die Daten, wie fügen sie sich in die Messreihe ein?

Unterwegs mit Marcia Philips vom SLF Davos oberhalb von Pontresina, bei den Lawinenverbauungen Muot da Barba Peider, zur Untersuchung des Permafrostes.  Stützpfeiler von Steinschlagnetzen, deren Sockel durch Niederschläge und Bewegungen freigelegt wurden. Aufgenommen am 30. Juli 2024. Foto Mayk Wendt

«Wir versuchen, Muster zu erkennen, etwa im Zusammenhang mit der Menge des gefallenen und liegen gebliebenen Schnees oder mit dem Wasser, damit wir aufgrund des Wetters die Vorgänge im Berg verstehen können. Im Team schliessen wir dazu dauernd Wetten ab», sagt sie lachend.

Ein Damm gegen Murgänge

Jetzt lautet die dringliche Frage aber: Hat das Gerät gemessen? Es hat: «Sehr schön, wir haben Daten!» Und die sind auf Anhieb aufschlussreich. «Ich sehe, dass der Permafrost bis in eine Tiefe von einem Meter immer noch gefroren ist. Die Auftauschicht ist also einen Meter dick.» Das ist erfreulich: Der Permafrost ist dieses Jahr noch nicht sehr weit in die Tiefe aufgetaut, «zu diesem Zeitpunkt weniger als in den Jahren davor». Das habe sie vermutet, sagt Marcia Phillips, denn: «Wenn wie im letzten Winter erst spät Schnee fällt, kann der Permafrost gut abkühlen. Gleichzeitig bleibt die Kälte besser erhalten, wenn der Schnee im Frühling lange liegen bleibt.»

Direkt unter dem steilen Hang liegt eine Ebene, die von einem Blockgletscher bedeckt ist: Ein mehrschichtiges Sandwich aus Lawinenschnee, der zu Eis gefriert, und Steinen, die herunterfallen – durch diesen ständigen Prozess wächst der Blockgletscher und kriecht – den Gesetzen der Schwerkraft folgend – Richtung Tal. Für das unterhalb liegende Pontresina könnte das irgendwann zum Problem werden, weil Teile davon zu Tal stürzen oder als Murgang fliessen können. Marcia Phillips und ihr Team beobachten den hiesigen Blockgletscher deshalb mit verschiedensten Instrumenten und Techniken. «Sobald er sich etwas schneller bewegt, sehen wir das.»

In Pontresina müssen sich die Menschen deswegen keine Sorgen machen. Um allfällige Lawinen und Murgänge aufzufangen, hat die Gemeinde schon 2001 vorausschauend einen Damm gebaut. Die steigenden Temperaturen wirken sich aber auch direkt auf die wissenschaftliche Feldarbeit von Marcia Phillips aus.

Steinschläge auf Messstationen häufen sich

«Es gibt Messstandorte, die uns Sorgen machen. Wir müssen wegen Steinschlags besser aufpassen. Wie gefährlich es geworden ist, zeigte uns letztes Jahr ein Ereignis am Piz Corvatsch. Da fiel ein riesiger Felsblock direkt auf die Bohrlöcher der Kollegen von der Universität Zürich. Dasselbe passierte mir im Wallis. Die Instabilität nimmt zu – und wir arbeiten in diesen Gegenden. Wenn es nicht mehr geht, gehen wir nicht mehr hin. Einige Standorte habe ich bereits aufgegeben.» Die Entscheidung schmerze, weil sie teils langjährige Messreihen abbrechen müsse.

Inzwischen hat Marcia Phillips alle Messstationen auf dem Schafberg überprüft, die vorhandenen Daten übertragen und die Batterien ausgewechselt. Zeit zum Aufbruch, der Helikopter sollte bald wieder da sein. Beim Queren des steilen Schotterhangs ist der Blick bergwärts nicht mehr so unbeschwert wie zuvor. Aber alles bleibt ruhig. Nach dem Rückflug fühlt es sich gut an, wieder sicheren Talboden unter den Füssen zu spüren.

Einblick in die Forschung von Marcia Phillips

Die Daten von Marcia Phillips’ Messstationen sind frei zugänglich. permos.ch

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