5 Jahre nach BrexitDie Menschen in Grossbritannien spüren die radikale Abkopplung von Europa
Mit dem EU-Austritt beginne für das Vereinigte Königreich eine neue, goldene Ära, frohlockten einst die Brexit-Befürworter. Warum die Euphorie mittlerweile gründlich verflogen ist.
- Fünf Jahre nach dem Brexit kehrt Ernüchterung in Grossbritannien ein.
- Brexit-Folgen belasten den Handel; viele Betriebe gingen bankrott.
- Die Netto-Einwanderung stieg entgegen den Versprechen auf Rekordhöhen.
- Premier Keir Starmer schliesst eine Rückkehr in EU-Institutionen weiterhin aus.
Fünf Jahre ist es an diesem Freitag her, dass Grossbritannien der Europäischen Union den Rücken kehrte. Jener 31. Januar 2020, der Tag des Austritts ihres Landes aus der EU, war für die Brexiteers der Höhepunkt einer langen Kampagne, einer von den EU-Gegnern viel bejubelten «Befreiungsaktion».
Mittlerweile ist die Euphorie, die diese Kampagne beflügelte, allerdings gründlich verflogen. Nicht nur die 48 Prozent der Briten, die damals in Europa bleiben wollten, fragen sich heute, was die radikale Abkoppelung vom Kontinent, was der von Boris Johnson durchgesetzte «harte Brexit» ihrem Land am Ende gebracht haben soll.
Auch vielen von denen, die einst für den Brexit stimmten, sind zunehmend Zweifel an ihrer Entscheidung gekommen. Denn die feierlichen Versprechen Johnsons und seiner Mitstreiter, Grossbritannien werde eine «neue, goldene Ära» erleben, sobald es sich nur «der Brüsseler Ketten entledigt» habe, hat niemand einzulösen vermocht in der Folgezeit.
Betriebe haben reihenweise Bankrott gemacht
Weltweite Handelsverträge zum Beispiel sind nur sehr begrenzt zustande gekommen. Die enormen Verluste im Handel mit den Nachbarn haben diese Verträge in keiner Weise wettmachen können. Das Office for Budget Responsibility, das Amt für Haushaltsfragen, hat errechnet, dass die britische Wirtschaft allein durch den Brexit langfristig 4 Prozent ihres Volumens einbüssen wird.
Britische Geschäftsleute raufen sich die Haare ob der erst nach und nach sichtbar gewordenen bürokratischen Hindernisse und Grenzprobleme. Export- und Importbetriebe haben reihenweise Bankrott gemacht. Schatzkanzlerin Rachel Reeves spricht inzwischen offen aus, was gemäss den Meinungsforschungsinstituten auch die meisten ihrer Mitbürger denken: nämlich, dass der «harte Brexit» ihrem Land im Wesentlichen geschadet hat.
Selbst das Reisen zum und vom Kontinent ist in der Post-Brexit-Ära zunehmend zu einem Problem geworden und droht demnächst noch schwieriger zu werden. Und die Netto-Einwanderung nach Grossbritannien (nunmehr aus anderen als den EU-Staaten) hat zeitweise neue Rekordhöhen erreicht, statt wie versprochen abzunehmen: Dabei war es gerade jene Angst vor Überfremdung gewesen, die dem Brexit zum Erfolg verhalf.
Eine Kolumnistin attackiert die Politiker
Nicht dass die leidenschaftlichsten Brexiteers einräumen würden, sich geirrt zu haben. «Nicht der Austritt aus der EU ist das Problem», argumentiert etwa die prominente rechtskonservative «Times»-Kolumnistin Melanie Phillips, «sondern dass unsere Führer es seither versäumt haben, sich wieder die Kontrolle über britische Angelegenheiten anzueignen.» «Take back control» war ja der zentrale Slogan der Brexiteers.
Endlose Möglichkeiten, die der Brexit geboten habe, hätten die Politiker «schlicht vergeudet», klagte Phillips diese Woche. Unter den Politikern selbst löste derweil, auch im eigenen Lager, die Tory-Vorsitzende Kemi Badenoch einige Überraschung aus. Sie räumte erstmals ein, ihre Partei habe im Zusammenhang mit dem EU-Austritt zweifellos Fehler begangen. Konservative Regierungen hätten keine Pläne für die Zeit nach dem Austritt gehabt.
Starmer schliesst eine Rückkehr aus
Dennoch mag Keir Starmers Labour-Regierung aus solchen Eingeständnissen und den sich mehrenden Anzeichen eines Stimmungsumschwungs in der Bevölkerung keine unmittelbaren Konsequenzen ziehen. Immer neu versichert Starmer, eine Rückkehr in den Binnenmarkt oder die Zollunion der EU oder zu erneuter Personenfreizügigkeit sei ausgeschlossen für sein Land.
Dahinter steht pure Angst vor einer bis heute mächtigen Rechtspresse, die dem Premier fast täglich vorwirft, «Verrat am Brexit» üben zu wollen – und natürlich auch vor Nigel Farages Reform UK, der Partei der britischen Rechtspopulisten, die immer mehr vom Establishment enttäuschte Bürger hinter sich zu bringen weiss und auch frustrierten Labour-Wählern eine neue Heimat verspricht.
Auf der anderen Seite sieht sich Starmer bedrängt von den pro-europäischen britischen Liberaldemokraten, die jetzt, vor allem unter dem Eindruck der neuen Regierung in Washington, nachdrücklich fordern, dass sich die Regierung endlich entschlossen an die Seite Europas stellt.
Eine rasche Rückkehr in die Zollunion der EU, hat LibDem-Chef Sir Ed Davey jetzt erstmals unverblümt erklärt, würde den Briten nach fünf Jahren Brexit-Chaos wenigstens wieder mehr Handel und damit mehr Wirtschaftswachstum bescheren – und zugleich das Vereinigte Königreich wirksam «absichern gegen Trump».
Tabus kommen ins Wanken
Tatsächlich deuten die letzten Umfragen darauf hin, dass im Falle eines Streits mit Donald Trump um Zölle zwei Drittel der Briten zu einem Trutzbündnis mit der EU neigen würden und nur ein Drittel zum Abschluss eines Ausnahmevertrags mit Washington, wie ihn Starmer erwägt.
Tabus, die vor kurzem noch unumstösslich schienen, beginnen so plötzlich ins Wanken zu kommen. Gemäss jüngsten Erhebungen des YouGov-Instituts hätten heute 68 Prozent der Briten gegen erneute Personenfreizügigkeit zwischen EU und Grossbritannien nichts mehr einzuwenden, wenn die EU dem Vereinigten Königreich im Gegenzug den Handel erleichtern würde. Selbst 54 Prozent derer, die 2016 noch für den Brexit stimmten, halten das heute offenbar für akzeptabel.
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