Mamablog: Rede zum Frauenstreik«Wo ist das Milliarden-Massnahmenpaket für uns?»
Unsere Autorin rief am feministischen Streiktag dazu auf, gemeinsam für Veränderungen einzustehen. Hier können Sie ihre Rede nachlesen.
«Ich stehe heute hier als Frau und Mutter eines Kindes mit Behinderung. Ich stehe heute aber auch aus Solidarität für diejenigen Frauen hier, die an diesem 14. Juni nicht mit uns sein können. Für diejenigen, die ihre Kinder mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten betreuen und nicht aus dem Haus können. Die ihre Eltern oder Partner:innen pflegen und sie nicht unbeaufsichtigt lassen können. Die zu erschöpft sind. Erschöpft von der Care-Arbeit.
Ich spreche heute hier, weil ich selbst ebenfalls erschöpft war in den letzten achtzehn Jahren, seit mein Sohn geboren wurde. Und noch erschöpfter, seit vor neun Jahren meine Tochter, die eine Behinderung hat, zur Welt gekommen ist. Schuld an meiner Erschöpfung sind und waren jedoch nicht meine Kinder. Schuld ist ein System, das mich allein liess. Das keine einzige Stunde Hilfe freiwillig stellte. Ein System, in dem ich jede Sekunde Unterstützung erkämpfen musste. Ein System, das Mütter mit behinderten und psychisch kranken Kindern stigmatisiert und ihnen Schuld zuweist. Über meine Grenzen ging ich unter anderem auch, weil wir in der Schweiz gerade mal 14 Wochen Mutterschaftsurlaub und 2 Wochen Vaterschaftsurlaub haben. Oder weil die Gesellschaft in der Schweiz immer und überall die Mutter als primäre Ansprechperson sieht und Männer noch immer sozialisiert werden, als seien sie nicht genauso verantwortlich für die Care-Arbeit, als seien sie nicht genauso zuständig für die Sorge, Pflege und die Liebe in dieser Welt.
«Viele Frauen, insbesondere Mütter in diesem Land, sind unglücklich, da sie Benachteiligungen erfahren.»
Trotzdem bin ich im Vergleich zu vielen anderen Frauen bei weitem nicht so erschöpft. Frauen, die sich kein Yoga oder keine Psychotherapie leisten können, um einem Burn-out vorzubeugen. Frauen, die von Armut betroffen sind, Gewalt, Rassismus, Antisemitismus, Transphobie und andere Formen der Diskriminierung erleben. Frauen, die selbst eine Behinderung oder eine Krankheit haben. Die keinen Schweizer Pass besitzen oder kein Deutsch können.
Obwohl die Lebensrealitäten und Formen der Diskriminierung unterschiedlich sind und auch unterschiedlich empfunden werden, ist eine Tatsache unbestreitbar – wie Studien zeigen: Viele Frauen, insbesondere Mütter in diesem Land, sind unglücklich, da sie Benachteiligungen erfahren.
Zum Beispiel Mütter, die in Vollzeit einer Lohnarbeit nachgehen. Und dafür mit horrenden Kitabeiträgen bestraft werden.
Mütter, die nach einer Scheidung nicht im gleichen Haushalt wie die Kinder leben und dafür – im Gegensatz zu geschiedenen Vätern – massiv angegriffen und geächtet werden.
Mütter, deren Aufenthaltsbewilligung an die Ehe mit ihrem gewalttätigen Mann gebunden ist und sie ihn daher nicht verlassen können.
Die nicht die leiblichen Mütter sind und daher nicht als ‹richtige› Mütter gelten.
Deren Kinder kriminell oder süchtig wurden und die dafür als Schuldige gesehen werden.
Die selbst krank sind und dennoch keine Haushalthilfe, keine Assistenz erhalten.
Mütter von Kindern mit Behinderungen, wie ich eine bin. Die Milliarden von Stunden an gratis Assistenzarbeit leisten und an einem Mutterideal gemessen werden, das sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hat.
«Wir können noch so hart arbeiten, viele von uns werden dennoch in Erschöpfung, an der Grenze zur Armut und ohne ausreichende Altersvorsorge leben.»
Wir Frauen in der Schweiz lernen: Wir sollen und dürfen keine Opfer sein, wir sollen und dürfen nicht klagen, wir sollen nicht zu viel Platz einnehmen und nicht zu laut werden. Weil es uns Frauen in der Schweiz doch gut geht, viel besser als Frauen in anderen Ländern. Weil Frauen hierzulande angeblich alles haben können, wenn sie nur genug hart dafür arbeiten.
Doch wir können noch so hart arbeiten, viele von uns werden dennoch in Erschöpfung, an der Grenze zur Armut und ohne ausreichende Altersvorsorge leben. Anders als die CEOs in der Schweiz in den Banken und Fluggesellschaften, den Grosskonzernen – viele davon Männer. Sie bekommen goldene Fallschirme, Boni, Abgangsentschädigungen, Hilfe vom Staat, Milliarden-Massnahmenpakete.
Aber wo ist das Milliarden-Massnahmenpaket für uns Frauen? Für uns Mütter? Für die Familien, die Kinder, die Jugendlichen?
Wir haben zu wenig Plätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wo sind die Milliarden für die Verhinderung von Suizid unter Jugendlichen, der zweithäufigsten Todesursache in der Schweiz?
Wir haben zu wenig Personal in den Kitas und Schulen. Wo bleibt das Milliarden-Massnahmenpaket für die Bildung?
Wir haben zu wenig Plätze und Personal in Wohngruppen, zu wenig selbstbestimmte Wohnformen für Menschen mit Behinderungen. Wo ist das Milliarden-Massnahmenpaket für Menschen mit Behinderungen?
Wir haben zu wenig Personal in der Pflege. Die Spitäler setzen auf kürzere Aufenthaltsdauer und sogenannte ‹Home Treatments› und damit auf die Betreuung zu Hause durch die Frauen. Wo ist das Massnahmenpaket für sie?
«170’000 Frauen, die nicht einfach Karriere machen können, deren Feminismus sich nicht einzig um Lohngleichheit und eine gläserne Decke dreht.»
170'000 Frauen in der Schweiz leben in prekärer Altersarmut, weil sie statt ihrer Bankkarriere unter anderem ihre Angehörigen gepflegt haben. Sie waren und sind weiterhin das Massnahmenpaket all dieser Missstände. Ich fordere Boni für diese Frauen.
170’000 Frauen, die nicht einfach Karriere machen können, deren Feminismus sich nicht einzig um Lohngleichheit und eine gläserne Decke dreht, sondern um ein gesamtes Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystem. Um Systeme, deren Sparschweine sie sind. Um Systeme, die von ihrer Arbeit und Schuldgefühlen, von ihrer Liebe profitierten und weiterhin profitieren.
170’000 Frauen, die ich heute an diesen Marsch in Gedanken mitnehmen möchte. Viele von ihnen sind Mütter von Kindern mit Behinderungen wie ich. Die nicht einfach Mütter sein dürfen, sondern auch Assistenz sein müssen, Sprachrohre bei der SVA, Vertretung bei der IV, der Schule, den Therapeutinnen. Wir sind nicht nur Mütter. Wir sind Beiständinnen, Bankiers, Expertinnen in Beamten-Sprache. Wir sind Sachbearbeiterinnen, die Unmengen an Papier kopieren, Berichte einscannen, Formular um Formular ausfüllen.
Und wir machen diese unbezahlte, unsichtbare Arbeit, bis wir selbst Pflege brauchen. Bis wir selbst krank sind. Weil Mütter auch dann noch eine Ressource sind in der Betreuung von Menschen mit Behinderungen, wenn diese längst erwachsen sind und selbstbestimmt leben wollen. Weder der Staat, noch Gemeinschaften oder die Gesellschaft sorgen solidarisch dafür, dass alle Menschen unabhängig von ihren Müttern sein können.
Und obendrein stehen wir unter Generalverdacht. Den Generalverdacht, wir würden Leistungen erschleichen. Wir könnten etwas beantragen, was uns nicht zusteht. Wir könnten unser Kind behinderter reden, als es ist, uns selbst müder, als wir sind. Wir könnten Profit schlagen aus der Behinderung unseres Kindes. Das erfundene Narrativ der Scheininvalidität und Versicherungsbetrügerinnen spüren wir beinahe täglich, sowohl bei der IV wie auch in der Gesellschaft.
«Wir sollten kämpfen, selbst wenn wir bereits alles haben.»
In der Schweiz leben mindestens 1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit. Fast alle werden zumindest teilweise von der Mutter oder der Partnerin gepflegt und versorgt. Weil wie gesagt: Da ist kein Massnahmenpaket für uns. Keine Hilfe des Staates. Weil privat. Weil aus Liebe. Und weil Menschen mit Behinderungen und ihre Mütter kaum eine Stimme haben, nicht gehört werden.
Es ist an der Zeit, dass privilegierte Frauen dazu beitragen, die weniger privilegierten sichtbar zu machen und für sie ihre Stimme zu erheben. Es ist an der Zeit, dass wir uns nicht nur für unsere eigenen Anliegen einsetzen, sondern auch die Missstände benennen, die uns persönlich nicht direkt betreffen. Wir sollten kämpfen, selbst wenn wir bereits alles haben.
Ich wünsche mir für heute, dass wir Feminismus für alle Frauen zugänglich machen, den heutigen feministischen Streiktag zum Tag aller Frauen machen. Für Frauen wie mich und dich, für Frauen mit und ohne Behinderungen, für FLINTAs (= Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen, Anm. der Redaktion). Für Mütter und kinderlose Frauen, für alte Frauen, junge, von Rassismus, Antisemitismus, von Queer- oder Islam-Feindlichkeit Betroffene. Für arme Frauen, reiche Frauen, einfach für alle Frauen.
Und nun lasst uns laut werden, lasst uns Hand in Hand zusammen marschieren. Lasst uns miteinander verbündet sein, unsere Perspektiven teilen, uns auffangen, uns halten, uns lieben. Und lasst uns nicht aufgeben und zu demütig werden. Denn Schweiz, du bist ein gutes Land, und ich bin zuversichtlich, dass du noch lernen wirst. Aber es gibt noch viel zu tun.»
Diese Rede wurde von unserer Mamabloggerin Marah Rikli am diesjährigen feministischen Streiktag am 14.6. im Auftrag der Frauenzentrale Zürich gehalten.
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