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Ärger im Ski-Weltcup
38 fahren ohne ihn: Die Airbag-Pflicht verkommt zur Farce

Foto: Sven Thomann, 24.11.2023, Copper Mountain (USA): Marco Odermatt (SUI) macht sich fuer das Training bereit.
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Ein Luftkissen spaltet die Skiwelt. Der Airbag soll Skifahrerinnen und Skifahrer vor Verletzungen schützen. Als Reaktion auf diverse heftige Stürze in den letzten Jahren hat der Weltskiverband (FIS) auf diese Saison hin ein Obligatorium eingeführt. In Abfahrt und Super-G muss der Airbag ab dieser Saison getragen werden, FIS-Generalsekretär Michel Vion sagt, die Sicherheit stehe an erster Stelle und sei nicht verhandelbar.

Wobei: Bezüglich Verhandelbarkeit ist das so eine Sache. Nach dem jüngsten Meeting im November macht es den Anschein, als sei die FIS unter dem Druck gewisser Athleten und Athletinnen eingeknickt. Vergangene Saison trugen den Airbag nur rund 40 Prozent der Männer und deren 60 bei den Frauen, einige äusserten harsche Kritik. Und so gibt es nun einen Zusatz im Reglement, gemäss dem Ausnahmen gewährt werden können.

Es ist ein spezielles Schlupfloch, das von vielen Seiten kritisiert wird. Es wirkt, als sei die FIS selbst nicht so recht vom eigenen Beschluss überzeugt. Swiss-Ski-CEO Walter Reusser sagt: «Entweder man setzt auf eine Regel, die dann aber auch für alle verbindlich ist, oder man lässt es sein.»

Warum gibt es Ausnahmen?

Auf Anfrage dieser Redaktion ist FIS-Generalsekretär Michel Vion die Feststellung wichtig, dass «die FIS ständig daran arbeitet, die Gesundheit der Athleten und Athletinnen zu schützen». Der Airbag sei einer «von verschiedenen Faktoren, die das Risiko schwerer Verletzungen minimieren können». Vion spricht von Wetterbedingungen, Streckengestaltung, schnittfester Unterwäsche oder intelligenten Bindungen. «Ziel ist es, die Einführung von allem zu fördern, was die Sicherheit und das Wohlergehen der Athleten und Athletinnen gewährleistet.»

Im Frühjahr 2023 habe man deshalb entschieden, das Tragen des Airbags auf diese Saison hin für die Speeddisziplinen obligatorisch zu machen. «In den letzten Monaten haben wir jedoch mehrere Athleten und Athletinnen erlebt, die sich gegen die Einführung ausgesprochen haben. Und bei der FIS hören wir den Sportlern und Sportlerinnen zu, wenn sie sprechen», sagt der Franzose. «Aus diesem Grund bestätigte der FIS-Rat am 8. November zwar die obligatorische Verwendung, liess jedoch Raum für Ausnahmen.»

Welche Kritik gibt es?

Bei Vion sind vor dem Start zur Speedsaison am nächsten Wochenende einige Einträge eingereicht worden. «Meist nicht aus Sicherheitsgründen, sondern aus Bedenken hinsichtlich des Komforts beim Rennfahren», sagt der 65-Jährige.

Zu den Skeptikerinnen gehörte im Vorjahr auch Michelle Gisin. Sie trug den Airbag nicht und sagte: «Ich bin noch nicht so überzeugt. Ich glaube nicht, dass alles komplett durchdacht ist.» So fehle zum Beispiel ein einheitliches Konzept zusammen mit dem Helm. In dieser Saison aber trägt die Engelbergerin den Airbag.

Ob das auch Abfahrer Dominik Paris tut, ist ungewiss. Der Südtiroler war einer der lautesten Kritiker. «Es fehlen die Fakten, ob er hilft. Mit dem normalen Rückenpanzer bin ich gut unterwegs», sagte der Südtiroler im Januar in Wengen. Und: «Das, was am meisten geschützt werden müsste, kann nicht geschützt werden: das Knie.» Auf Anfrage möchte sich der 35-Jährige derzeit nicht zum Thema äussern.

Kann der Airbag zur Gefahr werden?

Einige Athletinnen und Athleten hätten Bedenken bezüglich möglicher Schäden an der Wirbelsäule geäussert, sagt Walter Reusser von Swiss-Ski, weil die Airbag-Patrone direkt an jener Stelle platziert sei und beim Zünden Beschwerden verursachen könne.

Mit In&Motion gibt es neben Dainese mittlerweile einen zweiten Anbieter. Die Franzosen, eine Tochtergesellschaft von Rossignol, rüsteten bislang die Athleten und Athletinnen im Skicross aus. Nun sind sie auch im alpinen Rennsport aktiv. Und bei ihren Modellen sind die Patronen anders gelagert. Das überzeugte letztlich auch Michelle Gisin.

Bei ein paar wenigen Unfällen in der jüngeren Vergangenheit seien Verletzungen gerade wegen des Airbags noch heftiger ausgefallen, glauben einige. Hauptausrüster Dainese schliesst ein solches Risiko jedoch aus.

Welche Anträge werden akzeptiert?

Es ist im Reglement der FIS nicht genau festgelegt, welche Gründe für ein Nichttragen des Airbags akzeptiert werden. So steht dort unter anderem: «Ausnahmen können vom nationalen Skiverband für den Fall beantragt werden, dass der Airbag einem Athleten nicht passt und so seine Bewegung auf unsichere Weise einschränkt.»

Michel Vion hält das Feld denn auch offen. Bewilligt werde ein Antrag, «falls ein Athlet oder eine Athletin einen gerechtfertigten medizinischen, technischen oder physiologischen Grund angibt». Das kann so ziemlich alles sein.

Entsprechend grosszügig ist die FIS bei der Bewilligung. 38 Weltcupfahrer und -fahrerinnen haben bis zum Ablauf der Frist Ausnahmeanträge eingereicht. «Diese wurden auch akzeptiert. Sie sind aber einzig für die Weltcupsaison 2024/25 gültig – einschliesslich der Weltmeisterschaften in Saalbach 2025», sagt Michel Vion.

Und die Tür ist noch nicht einmal zu, obwohl die Frist abgelaufen ist. «Im Interesse der Fairness gegenüber allen Sportlern und Sportlerinnen nimmt die FIS während der Saison jederzeit weitere offizielle Ausnahmeanträge von nationalen Verbänden an, sofern die angegebenen Kriterien erfüllt sind.» Das Obligatorium wird allmählich zur Farce.

Hat das Nichttragen Konsequenzen?

Wer einen Antrag stellt, muss gleichzeitig eine Verzichtserklärung unterschreiben. In dieser anerkennt der Athlet oder die Athletin gemäss FIS, «dass die mit dem Skifahren auf Wettkampfniveau verbundenen Risiken durch das Nichttragen eines Airbags erhöht sind». Zudem übernimmt der Unterzeichnende bei «Schaden, Verletzung oder Beeinträchtigung» die volle Haftung.

Haben auch Schweizer Ausnahmeanträge gestellt?

Ja – deren 7 sind vor Ablauf der Frist bei der FIS eingegangen. Es handelt sich um solche von Frauen und Männern, erstaunlicherweise auch von eher jungen Athletinnen und Athleten, die primär im Europacup fahren werden. Namen werden von Swiss-Ski keine genannt. Von den 38 Anträgen, die bei der FIS über alle Nationen hinweg eingegangen sind, sollen Gerüchten zufolge deren 16 aus Österreich stammen.

Werden die Anträge einfach so angenommen?

Nein, sämtliche Anträge von Swiss-Ski-Athleten wurden zuerst einmal zurückgewiesen mit der Aufforderung, sie noch konkreter und präziser zu formulieren. Der Schweizer Alpinchef Hans Flatscher hat die überarbeiteten Gesuche dann nochmals eingereicht.

Walter Reusser stellt sich dabei nicht nur die Frage, auf welcher Basis und mit welcher Handhabe FIS-Generalsekretär Michel Vion über die Gesuche gerichtet habe, sondern auch, wie dann in den Rennen effektiv kontrolliert wird.

Eine Ablehnung eines Antrags durch Vion hätte indes Konsequenzen gehabt, weshalb Swiss-Ski auf eine schnelle Entscheidung drängte: Wer den Airbag trägt, braucht einen um ein paar Zentimeter grösseren Rennanzug. Da manch betroffener Abfahrer bereits in den USA weilt, wäre ein Nachliefern kompliziert gewesen.

Versuchte Swiss-Ski, den Athletinnen und Athleten ihre Ablehnung auszureden?

Der Schweizer Verband stellt den 500 bis 900 Franken teuren Airbag sämtlichen Kaderathleten und -athletinnen kostenfrei zur Verfügung. Zum Tragen gezwungen wird jedoch niemand. Diejenigen, die den Airbag ablehnen, mussten ihre Anträge aber selbst verfassen.

Swiss-Ski-CEO Walter Reusser betont jedoch, neue Technologien sollten nicht aufgehalten werden. «Der Airbag bringt definitiv mehr Vor- als Nachteile.»

Wie funktioniert der Airbag?

Der Airbag ist wie ein Korsett mit integrierter Kaltgasflasche. Er beinhaltet sieben Sensoren: drei Beschleunigungsmesser, drei Gyroskope (Kreiselkompass, der Lage und Richtungsänderungen genau bestimmen lässt) sowie ein GPS. Zeigen sie kritische Werte an, geht er auf.

Ein Algorithmus erkennt eine Unfallsituation; dieser ist so stark verfeinert worden, dass er unterscheiden kann, ob eine Athletin zu stürzen droht oder es sie nur durchschüttelt. Verlässt ein Fahrer oder eine Fahrerin die gängige Position, bläst sich das Luftkissen innert 100 Millisekunden auf und soll den Oberkörper schützen – und damit lebenswichtige Organe. Nach einer Auslösung wird der Airbag mit neuem Gas befüllt und wiederverwendet.