Leitartikel zur AussenpolitikWir brauchen den Geist von Calmy-Rey
Der Bundesrat blockiert Waffenlieferungen an die Ukraine, hofiert den Iran – und zeigt generell aussenpolitische Schwäche. Er sollte sich auf ein Konzept der früheren Aussenministerin Micheline Calmy-Rey zurückbesinnen.
Seit genau einem Jahr kämpfen die Menschen in der Ukraine um ihr Überleben. Um den hochgerüsteten Putin-Horden überhaupt irgendwie entgegenzutreten, müssen sie die westlichen Staaten um Panzer, Munition und Flugzeuge anbetteln: eine demütigende Zwangslage, in der sich der Westen bislang nur teilweise hilfreich zeigt. Besonders hartherzig nimmt sich die Reaktion der Schweiz aus. Unsere Neutralität, so der Standpunkt des Bundesrats, erlaube keinerlei Waffenlieferungen an eine «Kriegspartei». Erst diese Woche hat sich nun im Parlament eine Koalition aus SP, Mitte und FDP formiert, um mit einer Gesetzesänderung etwas Hilfe zumindest auf indirektem Weg zu ermöglichen. Staaten, die Schweizer Kriegsmaterial erworben haben, könnten demnach unter bestimmten Bedingungen vom Verbot der Wiederausfuhr befreit werden. Dies mag es Deutschland und anderen Ländern erlauben, die Ukraine mit Schweizer Munition auszustatten.
Die Waffen-Episode und überhaupt das ganze Kriegsjahr zwingen uns, eine alte Lehrbuchsentenz zu überdenken. Krisen, so glaubten wir zu wissen, seien die Stunde der Exekutive. Wenn es brennt, ist demnach nur die Regierung zu schnellem und adäquatem Handeln in der Lage. Nachdrücklich zu bestätigen schien sich der Lehrsatz während der Corona-Pandemie, als der Bundesrat die Politik praktisch im Alleingang bestimmte.
Versteckspiel im Paragrafenwald
In der Ukraine-Krise ist es nun plötzlich anders. Es waren die Parteien und der Druck der öffentlichen Meinung, die den Bundesrat zur Übernahme der EU-Sanktionen gegen das Putin-Regime veranlassten. Es waren Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die Debatten über eine Annäherung an die Nato und eigenständige Schweizer Sanktionen in Gang brachten. Ebenfalls aus dem Parlament kommt nun der Vorstoss für Waffenhilfe zugunsten der Ukraine.
Der Bundesrat hingegen legt eine demonstrative Unlust an den Tag, sich überhaupt mit der Thematik zu befassen. Die schriftlichen Begründungen, mit denen er Waffenlieferungen an die Ukraine verwirft, könnten der altchinesischen Philosophie des Legalismus entstammen. Was zählt, so dekretierten die chinesischen Meister, sind Normen und Paragrafen. Für den Bundesrat ist es das Neutralitätsrecht von Den Haag: Es verbiete der Schweiz, die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial in die Ukraine zu erlauben (eine nicht unumstrittene Auslegung). Punkt, Schluss. Gestaltungswillen, den Impuls, Lösungen zu finden – all das sucht man in den Stellungnahmen vergebens. Politik wird ersetzt durch Versteckspiel im Paragrafenwald.
Der Aussenpolitik des Bundesrats mangelt es an Agilität und der Bereitschaft, Verhaltensmuster im entscheidenden Moment zu durchbrechen.
Das Problem geht allerdings über die Ukraine hinaus. Exemplarisch zeigt sich das gerade anhand einer zweiten Krise: den politischen Unruhen und Menschenrechtsverletzungen im Iran. Während die westliche Welt die Mullahs mit Sanktionen ahndet, macht es sich der Bundesrat im Regelbetrieb bequem: Der Bundespräsident schickt Glückwunschtelegramme zum Staatsjubiläum, die Botschafterin vor Ort lässt sich im Tschador ablichten – und von den Sanktionen sieht man selbstverständlich ab. Wieder ist es jetzt das Parlament, das Druck aufsetzt: Am Montag dürfte der Nationalrat eine Erklärung verabschieden, in der er den Bundesrat dazu auffordert, sich den Massnahmen der EU anzuschliessen.
Der Aussenpolitik des Bundesrats mangelt es an Agilität und der Bereitschaft, Verhaltensmuster im entscheidenden Moment zu durchbrechen. Und sie steckt wenigstens teilweise noch in den Schablonen der Achtzigerjahre fest. Es wäre jetzt der Moment, sich auf das Konzept einer früheren Aussenministerin zu besinnen. Die Sozialdemokratin Micheline Calmy-Rey hat in ihrer Amtszeit von 2003 bis 2011 den Begriff der «aktiven Neutralität» geprägt. Die Schweiz, so die Idee dahinter, soll ihre Spielräume maximal ausnützen, um den Menschenrechten und dem Völkerrecht zu grösstmöglicher Geltung zu verhelfen.
Was jetzt zu tun wäre
Es geht nicht darum, Calmy-Rey zu kopieren. Die Genferin neigte zum Hyperaktivismus, verursachte oft Unruhe, die zu den erzielten Resultaten nicht in bestem Verhältnis stand. Trotzdem darf man vermuten, dass sich der Bundesrat in diesen stürmischen Zeiten unter ihrem Einfluss anders verhalten hätte: weniger abwartend und mürrisch-nachvollziehend, stattdessen initiativer und gestaltender.
Neutralität ist, war und bleibt ein problematisches Konzept. Nicht nur, weil sie unklar umrissen ist, nicht nur, weil sie an schwierige Fragen der Moral rührt: Sie bleibt auch entschieden den Beweis schuldig, dass sie der Schweiz zum direkten Vorteil gereicht. Es gibt Argumente, sie grundlegend zu überdenken. Es gibt aber so gut wie kein Argument, sie nicht zumindest «aktiv» auszugestalten.
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