Interview mit Staatsrechtler«Dass die Schweiz immerwährend neutral bleiben soll, ist verjährt»
Der ehemalige FDP-Ständerat René Rhinow spricht Klartext: Es müsse möglich sein, vom Neutralitätsrecht abzuweichen, um die Sicherheit der Schweiz zu gewährleisten.
71 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind laut der jüngsten Umfrage der Ansicht, dass die Sanktionspolitik der Schweiz gegenüber Russland mit der Neutralität vereinbar ist. Überrascht Sie dieser hohe Prozentsatz?
Nein, denn mit gutem Grund wird heute in breiten Kreisen die Auffassung vertreten, der barbarische und krass völkerrechtswidrige Angriff auf die Ukraine bilde einen Angriff auf die Werte Europas und damit auch die Schweiz. Es ist richtig und wichtig, dass man hierzulande jetzt über die Neutralität debattiert. Das Schweizer Volk hat sich seit gut dreissig Jahren kaum mehr mit der Neutralität befasst. Sie ist zwar in den Genen der Schweizerinnen und Schweizer, aber jeder stellt sich etwas anderes darunter vor.
Ist die geplante Volksinitiative der SVP eine gute Gelegenheit, darüber breit zu diskutieren?
Da habe ich meine Zweifel. Natürlich haben Volksinitiativen den Vorteil, dass auch unbequeme Themen diskutiert werden müssen. Ich befürchte aber, dass zu wenig darüber debattiert wird, was die Aufnahme in die Verfassung konkret bedeuten könnte. Ein solcher Schritt wäre hochproblematisch und der Sicherheit der Schweiz abträglich.
Weshalb?
Derzeit wissen wir nicht, wie sich die geopolitische Lage weiterentwickelt. Gerade jetzt wäre es deshalb schlimm, wenn wir unsere Handlungsfreiheit durch einen einengenden Neutralitätsbegriff einschränken würden. Das wäre grober Unfug.
Also bei der bisherigen Definition der Neutralität bleiben?
Wir müssen bei der Neutralität vielmehr zurückbuchstabieren und uns auf den eigentlichen völkerrechtlichen Kern besinnen. Nämlich, dass wir uns nicht an einem Krieg zwischen zwei Staaten beteiligen. Dies allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Sicherheit und die existenziellen Interessen der Schweiz nicht gefährdet werden. Priorität muss unsere Aussenpolitik haben, und da muss es möglich sein, vom Neutralitätsrecht abzuweichen.
«Man darf nicht vergessen, die Schweiz ist völkerrechtlich nicht zur Neutralität verpflichtet.»
Wie?
Unsere Vorstellung, dass die Schweiz dauernd und immerwährend neutral bleiben soll, ist sozusagen verjährt. Unser Umfeld hat sich in den letzten 200 Jahren grundlegend verändert. Der Westen hat uns ja nach der Übernahme der Sanktionen gegen Russland durchaus zu verstehen gegeben, dass er unsere Haltung akzeptiert: nämlich, dass wir uns in erster Linie um die Einhaltung von Menschenrechten kümmern, uns um unsere Sicherheit sorgen und nicht einfach nur neutral sein wollen.
Derweil hat Aussenminister Ignazio Cassis einen neuen Begriff kreiert, den der kooperativen Neutralität. Hilft uns das weiter in der Neutralitätsdebatte?
Mit den Bezeichnungen einer aktiven Neutralität, wie sie Bundesrätin Micheline Calmy-Rey ins Spiel brachte, und anderen Beiwörtern wird die Neutralität zu etwas aufgebläht, was sie schlicht nicht ist. Diese Wortschöpfungen zeugen eher von einem schlechten Gewissen. Die Schweiz muss endlich akzeptieren, dass sie sich nicht auf ihre Neutralitätspolitik berufen kann, sondern eine aktive Aussen- und Sicherheitspolitik braucht. Wie das auch die Bundesverfassung verlangt. Und wir müssen auch akzeptieren, dass wir abhängig und auf Kooperationen angewiesen sind. Wir brauchen eine engere Zusammenarbeit, insbesondere mit unseren europäischen Nachbarn, nicht nur in der Sicherheitspolitik, sondern auch zum Beispiel in der Energie- oder Ernährungspolitik. Eine gewöhnliche Neutralität lässt uns den nötigen Spielraum.
Mit der gewöhnlichen Neutralität bringen auch Sie jetzt eine neue Definition der Neutralität ins Spiel.
Dies wäre insbesondere eine Abkehr von der immer noch praktizierten, gefährlichen Überhöhung einer dauerhaften Neutralität. Ein Verzicht auf die Dauerhaftigkeit würde es der Schweiz gestatten, grundsätzlich neutral zu sein, aber je nach Konflikt darauf zu verzichten, wenn dies für ihre Sicherheit unausweichlich scheint.
Zum Beispiel wenn der Krieg in der Ukraine eskalieren und auf die EU übergreifen würde?
Wenn Europa infrage gestellt oder militärisch angegriffen wird, können wir uns nicht mehr neutral verhalten, wenn wir uns effektiv schützen wollen. Es zeigt sich, dass unser nie wirklich aktualisiertes Neutralitätsrecht keine oder nur sehr beschränkte Antworten auf das moderne Konflikt- und Kriegsbild zu liefern vermag. Und man darf nicht vergessen, die Schweiz ist völkerrechtlich nicht zur Neutralität verpflichtet.
Ein erster Schritt weg von einer dauerhaften zu einer, wie Sie es nennen, gewöhnlichen Neutralität wäre eine Annäherung an die Nato?
Gegenüber dieser Fragestellung haben wir in der Schweiz bisher ein wenig unsere Augen verschlossen. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges profitiert die Schweiz vom Schutzschirm der Nato, ungeachtet der hier vorherrschenden Unabhängigkeitsrhetorik. Wir werden um eine stärkere Kooperation mit der Nato und der EU in Sicherheitsfragen nicht umhinkommen.
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