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Medikamente für Kriegsopfer
Wie Helfer eine belagerte Stadt versorgen

Nach mehr als drei Wochen Krieg wird das Material knapp: Medizinisches Personal versorgt einen Verletzten in einem Spital in Mariupol. 
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Ein Arbeiten gegen die Zeit sei es, sagt Christian Katzer von Ärzte ohne Grenzen (MSF). Die Helfer waren vorbereitet, haben es geschafft, zum Beispiel in Odessa und im nun eingekesselten Mariupol Lager zu füllen, Spitäler mit medizinischem Material zu beliefern wie Verbandszeug, Chirurgie-Kits, Medikamenten, Narkosemitteln. Nicht nur an Kriegsverletzte müsse man dabei denken, auch an chronisch Kranke, die etwa auf Insulin angewiesen seien. Einen grossen Transport brachte das MSF-Team auch in die ukrainische Hauptstadt Kiew, samt einer Art Pop-up-OP-Tisch, der überall schnell aufgebaut ist. Doch wie funktioniert das, lebensrettende Güter dahinzubringen, wo Menschen sie brauchen?

Mit einer Menge Logistik, wie Katzer erklärt. Und MSF hat Erfahrung aus vier Jahrzehnten Einsatz in Konflikten. Drei grosse Lager hat die Organisation in Europa, in Amsterdam, Ostende und Bordeaux, wo schon verzollte Vorräte warten, die sofort auf den Weg gebracht werden können. Per Lastwagen haben sie das Material von dort strategisch verteilt, als das Schlimmste sich abzeichnete, in Polen, Rumänien, Bulgarien, der Slowakei, Moldau. Einige Transporte seien direkt nach Lwiw gegangen, wo man Lager angemietet hat. Die westukrainische Stadt ist der grosse Knotenpunkt, auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlägt dort Hilfsgüter um.

Ein Netz von einheimischen Medizinern hilft

Eine schnelle Maschinerie läuft da bei den Ärzten ohne Grenzen an, sogar mobile Kliniken haben sie geschickt. Das alles passiere, sagt Christian Katzer, in Absprache mit den ukrainischen Behörden, nicht jedoch direkt mit dem Militär. Dabei werde dann eingeschätzt, wie gross der Bedarf wo sei, «es soll ja nichts verschwendet werden». Es hilft, dass MSF seit Jahren in der Ukraine tätig ist, im Osten etwa bei der Betreuung von HIV-Patienten. Und ein Netz einheimischer Mediziner informiert MSF. Auch die grosse WHO macht es so: Mit Organisationen vor Ort und dem Gesundheitsministerium kalkuliert man Lieferungen anhand örtlicher Daten, Risikoanalysen, Transportkapazitäten.

Nach Wegen, weiter Hilfe zu bringen und Fluchtmöglichkeiten zu schaffen, sucht derweil OCHA, die UNO-Behörde für humanitäre Angelegenheiten. Amanda Pitt, im Ukraine-Einsatz für OCHA, schildert es so: Man arbeite mit den Verteidigungsministerien Russlands und der Ukraine, um ein humanitäres Benachrichtigungssystem zu etablieren. Beide Seiten müssen bei solchen Vereinbarungen gleichzeitig informiert werden, um sichere Routen zu erhalten, mit ständiger Kommunikation über Zeitpläne und Bewegung von Lastwagen und Menschen. «Wir sind offen für alle Möglichkeiten», so Pitt.

Logistik ist im Krisenfall alles: Ein Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen (MSF) bereitet in Frankreich Hilfslieferungen in die Ukraine vor. 

An der Einrichtung bisher angekündigter humanitärer Korridore sei die UNO aber nicht beteiligt gewesen. Kaum einer kam tatsächlich zustande, deshalb kann auch nichts geliefert werden. Zu den verzweifelten Nachrichten etwa aus Mariupol zählt, dass nicht nur Essen und Wasser fehlen, sondern auch Medikamente und Medizinmaterial aufgebraucht sind. In Isjum in der Region Charkiw in der Ostukraine soll es genauso sein.

Etwa 100 Mitarbeiter, sagt Katzer, seien für MSF in der Ukraine, Ärzte, Pfleger, Logistiker. In Lwiw, Mariupol, Schytomyr oder Sjewjerodonezk. Auch in Kiew, wo sie bleiben sollen. Klar stehe die Sicherheit ihrer Leute und der Patienten an erster Stelle, das schränke die Bewegungsmöglichkeit gerade ein. Die Kollegen in Russland, sagt Katzer, würden das Verteidigungsministerium in Moskau über den Aufenthalt der MSF-Leute informieren. Ob sie das schützt, weiss er nicht.

Chirurgen, meist spezialisiert in einem engen Gebiet, werden instruiert, Schussverletzungen zu operieren.

Nach Kiew gibt es noch Wege. Bei der grossen Lieferung von MSF vor zwei Wochen dorthin habe sehr geholfen, dass die ukrainische Bahn anbot, das Material zu transportieren, sagt Katzer. Das sparte Zeit, und es passt viel Material rein in Güterwaggons. Als das Material in Lwiw ankam, wurde es umgeladen auf den Zug, am nächsten Nachmittag konnten sie in der Hauptstadt 40 Kubikmeter lebensrettender Hilfsgüter entgegennehmen.

Doch Material ist nur das eine, man muss es auch einsetzen können. MSF, sagt Christian Katzer, habe deshalb in Kiew und anderen Städten «Trockentrainings» gemacht in Spitälern: wie man vorgehen muss bei «mass casualties», Situationen also, in denen auf einmal sehr viele Verletzte eintreffen. Welche Räume eignen sich, wo liegt was, wer tut was, und ja, auch, was sind die Kriterien für Triage, wenn zu entscheiden ist, wer zuerst behandelt wird, wann es keinen Sinn mehr hat. Chirurgen, meist spezialisiert in einem engen Gebiet, werden instruiert, Schussverletzungen zu operieren. Möglichst viele sollten auch den Kaiserschnitt beherrschen, das habe sich überall als wichtig erwiesen.

Auch die WHO teilt mit, dass mancherorts medizinisches Material zur Neige gehe. Auch sie hat versucht vorzusorgen, mit gewaltigen Mengen. 36 Tonnen hat sie am 5. März nach Lwiw zur Weiterverteilung gebracht. Drei Tage darauf gingen 10 Tonnen über Kiew in sieben Regionen. Am 12. März liess die WHO je 10 Tonnen medizinisches Material und Medikamente nach Charkiw, Sumy, Dnipro, Cherson, Mariupol, Mykolaiw, Schytomyr, Saporischschja und Tscherkassy transportieren, heute fast alles hart umkämpfte Städte. Jede Lieferung sollte für 150 Verletzte und 15000 andere Patienten über drei Monate reichen. Neben dem üblichen Material nennt die WHO Sauerstoff und Sauerstoffgeräte, Material für Bluttransfusionen, Stromgeneratoren, Defibrillatoren, Monitore.

Doch Spitäler sind nicht nur abgeschnitten, sie werden auch kriegsrechtswidrig
von russischen Einheiten beschossen. Schon mehr als hundert Kliniken sind nach ukrainischen Angaben beschädigt, einige zerstört. Nicht nur das, der ukrainische Generalstab teilte letzte Woche mit, in Makijiwka, einer 350’000-Einwohner-Stadt bei Donezk, sei «die Lage in den örtlichen Spitälern katastrophal, sie sind ausserstande, Zivilisten medizinisch zu versorgen aufgrund fehlenden qualifizierten Medizinpersonals».

In Mariupol und anderen Städten ist sauberes Wasser nicht mehr verfügbar.

Die WHO versucht derweil mit den ukrainischen Behörden, die Gesundheitslage insgesamt zu überblicken, mithilfe von Clustern und 3-D-Karten. So soll möglichst schnell entdeckt werden, wenn eine Seuche ausbricht – noch eine Sorge der Experten, auch bei Ärzte ohne Grenzen. OCHA warnt, die Tuberkulose-Bekämpfung müsse weitergehen. In Mariupol und anderen Städten ist sauberes Wasser nicht mehr verfügbar. Die Menschen trinken Regenwasser, schmelzen Schnee, nutzen in ihrer Not Wasser aus Heizungsanlagen. Abkochen ist oft nicht möglich.

Das birgt Risiken, Durchfallerkrankungen, schlimmstenfalls Cholera. Darauf wies Kate White hin, Notfallkoordinatorin bei MSF. Man wisse wegen eines Ausbruchs 2011, dass das Cholera-Bakterium in der Region anwesend sei. Und Christian Katzer weist darauf hin, dass nicht nur verunreinigtes Wasser gefährlich ist, sondern genauso der Wassermangel: Kinder vor allem drohen zu dehydrieren wie auch geschwächte Menschen. Das ist lebensgefährlich. Ebenso könnten besonders Kinder durch die Kälte Lungenentzündungen entwickeln. Krieg, daran hat sich nichts geändert, tötet nicht nur an der Front.