Krieg in der Ukraine«Die Situation in Mariupol ist apokalyptisch»
Die russische Belagerung führt in der ukrainischen Hafenstadt zu katastrophalen Zuständen. Die Bevölkerung lebt unter stetem Beschuss – ohne Wasser, Strom oder medizinische Versorgung.
In der von Russland belagerten Hafenstadt Mariupol spitzt sich die Lage weiter zu. Nach Angaben des Roten Kreuzes warten 200’000 Menschen darauf, über verschiedene Routen aus der Stadt zu kommen. «Die Situation ist apokalyptisch», sagte Sprecher Ewan Watson. Seit Tagen leben die Menschen ohne Wasser, Heizung, Strom, Kanalisation, Telefonverbindungen oder medizinische Versorgung. «Es gibt keine Strasse ohne kaputte Fenster, zerstörte Wohnungen oder Häuser», meldet der Stadtrat.
In der 430’000-Einwohner-Stadt schöpfen Menschen Wasser aus Bächen oder schmelzen Schnee, um zu Wasser zu kommen. Auf der Suche nach lebensnotwendigen Gütern plündern Menschen Geschäfte. Tausende drängen sich in Kellern, um russischen Granaten zu entkommen. «Es gibt nichts, keine Haushaltsgegenstände. Das Wasser wird nach dem Regen von den Dächern gesammelt», berichtet der Leiter des Roten Kreuzes von Mariupol, Alexei Bernzew, der DPA.
«Die Menschen in Mariupol werden immer verzweifelter. Mittlerweile suchen die Leute überall nach Wasser. Ebenso wird Holz gesammelt, um zu kochen oder zu heizen, da es keinen Strom mehr gibt», berichtet die Hilfsorganisation Médecins sans Frontières (MSF), die mit einem Team vor Ort ist. «Sehr schlimm ist die Situation für ältere alleinstehende Menschen. Die sind nicht in der Lage, Feuer zu machen, zu kochen. Die sind komplett sich selber überlassen.» Schwierig sei auch die Situation für Familien mit Kindern, da die Produkte für das alltägliche Leben ausgehen.
Selenski wirft Russland Angriff auf Geburtsklinik vor
Wolodimir Selenski wirft Putin einen Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol vor. Der ukrainische Präsident veröffentlichte am Mittwoch im Kurznachrichtendienst Twitter ein Video, das völlig verwüstete Räume der Klinik zeigen soll. Demnach müssen eines oder mehrere Geschosse oder Bomben im Hof des Klinikkomplexes eingeschlagen sein. Die Druckwelle zerstörte Scheiben, Möbel und Türen, wie im Video zu sehen ist. Das Gelände rund um das Gebäude war mit Trümmern übersät. Von russischer Seite lag zunächst keine Stellungnahme vor. Moskau betont stets, keine zivilen Ziele zu attackieren.
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«Angriff russischer Truppen auf die Entbindungsstation. Menschen, Kinder sind unter den Trümmern», schrieb Selenski. Nach Angaben der lokalen Behörden wurden mehrere Bomben abgeworfen. Das liess sich nicht überprüfen. «Die Zerstörung ist enorm», teilte der Stadtrat mit. Angaben zu möglichen Opfern wurden zunächst nicht gemacht. In der Klinik seien kürzlich noch Kinder behandelt worden. Selenski forderte als Konsequenz aus dem Angriff einmal mehr eine Flugverbotszone über der Ukraine. Die Nato hat das aber abgelehnt.
Dutzende Leichen in Massengrab beigesetzt
Reporter der Nachrichtenagentur AP berichteten, dass auf Mariupols Strassen zahlreiche Leichen verstreut liegen. Auf einem der alten Friedhöfe der Stadt wurde ein rund 25 Meter langer Graben für ein Massengrab ausgehoben. Wie die Nachrichtenagentur DPA berichtet, wurden am Mittwoch darin über 30 in Teppiche oder Säcke eingewickelte Leichen beerdigt, am Dienstag waren es über 40. Am Dienstag mussten die Beerdigungen unterbrochen werden, als Granaten auf dem Friedhof einschlugen und eine Mauer beschädigten.
Aufgrund der allgegenwärtigen Gefahr wurden die Toten in Eile beigesetzt. Zur Beerdigung waren keine Familien oder Freunde anwesend. Einzig die Arbeiter hätten sich schnell bekreuzigt. Das Grab soll am Donnerstag geschlossen werden, sofern dies die Bombardierungen zulassen. Unter den Toten befanden sich sowohl Opfer aus der Zivilbevölkerung als auch einige Soldaten. Einige davon waren auch eines natürlichen Todes gestorben.
Die Kommunikation ist unterbrochen. Ohne Internet und Telefon halten sich die Bewohner laut Berichten von AP-Reportern mit Autoradios auf dem Laufenden. Empfangen werden könnten derzeit jedoch nur Sender aus russisch kontrollierten Gebieten. So sei es für das Rote Kreuz mittlerweile eine der wichtigsten Aufgaben geworden, Nachrichten zu beschaffen und weiterzugeben. «Manchmal sind Informationen für die Menschen wichtiger als Nahrung», erzählt Rot-Kreuz-Leiter Bernzew.
«Wir haben keine Elektrizität. Wir haben nichts zu essen, wir haben keine Medikamente. Wir haben nichts», erzählte Einwohnerin Ludmila Amelkina der Nachrichtenagentur DPA. Eine andere Bewohnerin Mariupols sitzt mit Frauen und Kindern beim Schein einer Öllampe in einem Keller. «Warum sollte ich nicht heulen?», fragt Goma Janna unter Tränen. «Ich will mein Haus. Ich will meine Arbeit. Ich bin so traurig wegen der Menschen und wegen der Stadt, der Kinder.»
Am Dienstag erreichte die katastrophale humanitäre Lage in Mariupol einen weiteren traurigen Höhepunkt. Ein sechsjähriges Mädchen wurde unter Trümmern eines zerstörten Hauses verschüttet; es verdurstete. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski nahm in einer Videobotschaft Bezug auf den qualvollen Tod des Mädchens mit dem Namen Tanja: «Zum ersten Mal seit Dutzenden von Jahren, vielleicht zum ersten Mal seit dem Einmarsch der Nazis, ist ein Kind verdurstet.»
Olena Selenska kritisiert die Lage für die Zivilbevölkerung scharf, wie der «Spiegel» berichtet. Die Ehefrau des Präsidenten schrieb am Dienstag in einem Brief an die Öffentlichkeit, dass Russlands Einmarsch ein «Massenmord an ukrainischen Zivilisten» sei. Frauen und Kinder müssten nun vielerorts in Luftschutzbunkern und Kellern leben, in einigen Städten tagelang ohne Unterbruch. «Dieser Krieg wird gegen die Zivilbevölkerung geführt, und zwar nicht nur durch Beschuss.»
Neuer Evakuierungsversuch
In den vergangenen Tagen scheiterten mehrere Bestrebungen zur Einrichtung eines Fluchtkorridors aus Mariupol. Nach Angaben der Separatisten im Gebiet Donezk funktionierte auch am Mittwoch ein erneut vereinbarter «humanitäre Korridor» nicht. «Die Menschen verlassen Mariupol so schnell wie möglich aus eigener Kraft», sagte der Sprecher der prorussischen Kräfte, Eduard Bassurin, im russischen Staatsfernsehen. Die Ukraine gab den Angreifern die Schuld. Aussenminister Dmytro Kuleba schrieb bei Twitter: «Russland hält weiterhin mehr als 400’000 Menschen in Mariupol als Geiseln, blockiert humanitäre Hilfe und Evakuierung.»
Nach den zuvor abgebrochenen Evakuierungsversuchen warfen sich beide Seiten gegenseitig Sabotage vor. Selenski hatte am Dienstagmorgen erklärt, es habe «Garantien» für die Evakuierung der Bewohner von Mariupol gegeben, die aber «nicht funktioniert» hätten. Der ukrainische Präsident hatte Russland bereits am Montagabend vorgeworfen, alle vorherigen Evakuierungsversuche verhindert zu haben. Kremlchef Wladimir Putin hatte hingegen wiederholt «ukrainische Nationalisten» beschuldigt, die Evakuierungen umkämpfter Städte zu vereiteln.
Angaben über russische Angriffe auf flüchtende Menschen entsprechen aus Sicht der Nato der Wahrheit. «Es gibt sehr glaubwürdige Berichte», sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg, «dass Zivilisten bei der Evakuierung unter Beschuss geraten.»
Mariupol liegt nahe der sogenannten Kontaktlinie zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischer Armee im Verwaltungsbezirk Donezk. Die Stadt am Asowschen Meer hat strategisch grosse Bedeutung: Durch die Einnahme könnte Russland einen Landweg zur Krim zu schaffen.
Das Leben im Untergrund
SDA/AFP/sep
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