Interview mit RentenexpertinBringt die Schweiz doch noch eine Reform zustande, Frau Häusermann?
Ohne substanzielle Verbesserungen für die Frauen habe die Reform der zweiten Säule keine Chance, warnt Professorin Silja Häusermann. Und erklärt, unter welchen Bedingungen sie dennoch eine Mehrheit im Volk finden wird.
Das nächste Jahr wird ein Jahr der Entscheidung: Es wird sich zeigen, ob die Schweiz doch noch Reformen in der Altersvorsorge zustande bringt. Wie gut stehen die Chancen?
Es ist bemerkenswert, dass seit dem Scheitern der grossen Gesamtreform der Altersvorsorge im Jahr 2017 schon wieder vier Jahre vergangen sind. Damals beabsichtigten die Gegner der Reform stattdessen rasche, kleinere Reformschritte, was natürlich eine Illusion war. Und erneut ist es unsicher, ob die Reformen gelingen werden. Bei der AHV sehe ich die Chancen besser, beim Gesetz zur beruflichen Vorsorge (BVG) sieht es nicht so gut aus.
Unter welchen Bedingungen stimmt das Volk solchen Reformen zu?
Wir wissen, dass eine Reform mit einer Verschlechterung von Rentenleistungen zwingend auch gewisse greifbare Verbesserungen enthalten muss, um mehrheitsfähig zu sein. Es muss ein Deal sein. Es ist also folgerichtig, wenn die AHV-Vorlage neben der Erhöhung des Frauenrentenalters auch Rentenzuschläge für die Übergangsgeneration enthält. Allerdings handelt es sich dabei nur um eine Abfederung und keine eigentliche nachhaltige Verbesserung. Als weitere Kompensation kommt noch die Erhöhung der Mehrwertsteuer hinzu, welche den Minderausgaben auch Mehreinnahmen gegenüberstellt.
Was ist denn ausschlaggebend im Stimmvolk?
Rentenkürzungen haben einen extrem schweren Stand. Wenn es um Erhöhungen des Rentenalters geht, muss man differenzieren. Die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 ist viel weniger kontrovers als eine Erhöhung über 65 Jahre hinaus. Vor der Abstimmung über die Altersvorsorge 2020 haben unsere und andere Erhebungen konsistent gezeigt, dass die Angleichung des Rentenalters für Frauen und Männer eine recht hohe Zustimmung hat. Auch im linken Lager und selbst bei den Frauen, wenn auch weniger als bei den Männern. Eine Erhöhung über 65 hinaus hingegen wird von fast 70 Prozent der Stimmberechtigten abgelehnt und findet auch bei der Basis von SVP und Mitte keine Zustimmung.
Rentenkürzungen sind im Volk chancenlos. Deshalb stellen die Gewerkschaften Frauenrentenalter 65 nun als Rentenkürzung dar. Hat die Linke damit das Killerargument?
Wenn die Linke im Abstimmungskampf geschlossen gegen die Reform antritt und stark mobilisiert, hat es die Vorlage tatsächlich eher schwer in einer Volksabstimmung. Aber ich bezweifle, dass die Linke – also alle Arbeitnehmerorganisationen, SP und Grüne – geschlossen und mit voller Kraft gegen eine Angleichung des Frauenrentenalters auf 65 antreten wird. Klar, für einen Teil der Linken ist Frauenrentenalter 64 eine heilige Kuh. Aber nicht für alle, vor allem nicht in der Deutschschweiz.
Aber wenn die Linke Frauenrentenalter 65 verhindert, dann ist jede weitere Erhöhung vom Tisch.
Das ist das Verzwickte an der Sache. Bei der AHV wollen die Bürgerlichen die Reform unbedingt, die Linke kann mit dem Status quo leben. Deshalb versucht die Linke natürlich, so viel wie möglich herauszuholen. Sie hat auch bereits herausgeholt, dass eine Erhöhung über 65 hinaus in der Vorlage in keiner Weise vorgesehen ist. Aufgrund der Umfragedaten scheint mir, dass die AHV-Reform mit einer finanziellen Abfederung für neun Frauenjahrgänge intakte Chancen hat.
«Den Leuten ist durchaus bewusst, dass eine Senkung des Umwandlungssatzes zu tieferen Renten führt.»
Parallel dazu versucht sich das Parlament an der zweiten Säule. Ein tieferer Umwandlungssatz lässt sich schwer verkaufen.
Die genauen Kommastellen im technisch komplizierten Umwandlungssatz sind nicht das, was die Leute in ihrem Abstimmungsentscheid beeinflusst. Den Leuten ist aber durchaus bewusst, dass eine Senkung des Umwandlungssatzes zu tieferen Renten führt. Diese Senkung startet bei einer Volksabstimmung mit einem enormen Gegenwind von über 70 Prozent Ablehnung – ähnlich unbeliebt ist nur Rentenalter 67. Das zeigen die vorliegenden Umfragezahlen von 2015 bis 2017. Deshalb ist die BVG-Reform ganz anders gelagert als die AHV-Reform.
Aber dann wäre der Kompromiss, den Gewerkschaften und Arbeitgeber ausgehandelt haben, eigentlich der einzig Richtige? Ein Rentenzuschlag für alle im Gegenzug zu Rentenkürzungen.
In der Tat braucht eine solche Vorlage ein klares, starkes Gegenstück zur Rentenkürzung. Also mindestens ein Element, das klar und verständlich als Verbesserung kommuniziert werden kann. Auch im rechten Lager ist anerkannt, dass im BVG die Teilzeiterwerbstätigen schlecht fahren. Und die Frauen arbeiten in der Schweiz zu etwa 80 Prozent Teilzeit. Mit einer Reform müsste man meines Erachtens klar benennen können, wie viele Frauen welche nachhaltigen und spürbaren Verbesserungen bekommen. Mit der Variante, die der Nationalrat nun beschlossen hat, ist das nicht ausreichend der Fall. Der Sozialpartnerkompromiss enthielt eine nachhaltige Verbesserung, wenn auch für alle Versicherten, also nicht so zielgerichtet. Das wäre sicher klarer kommunizierbar gewesen. Bei der Nationalrats-Reform gibt es für die Linke keinen Grund, darauf einzusteigen.
Aber die Reform enthält doch Massnahmen, die die Rentensituation der Frauen verbessern.
Ja, die Erhöhung der versicherten Lohnsumme, die Senkung des Koordinationsabzuges und der frühere Sparbeginn mit 20. Dies verbessert die Situation der Teilzeitbeschäftigten im Alter strukturell. Aber den Leuten zu sagen, sie dürften künftig mehr sparen, ist schwierig als Verbesserung zu verkaufen. Es braucht auch greifbare, unmittelbare Verbesserungen, deren Begünstigte klar benannt werden können. Wenn das Parlament tatsächlich einen Kompromiss mit der Linken hinkriegen würde, bei dem zum Beispiel die Hälfte oder 75 Prozent der Frauen profitieren würden, hätte das sowohl bei linken als auch bei bürgerlichen Stimmbürgern und Stimmbürgerinnen eine Chance.
Einem beträchtlichen Teil der Bürgerlichen ist die BVG-Reform gar nicht wichtig. Die meisten Pensionskassen haben ihre Umwandlungssätze ja bereits massiv gesenkt.
Das ist das Problem. Bei der AHV ist die Verhandlungsmacht der Linken höher, weil die Bürgerlichen das Frauenrentenalter erhöhen wollen. Beim BVG ist es so, dass ein Teil der Rechten die Reform nicht unbedingt braucht und die Linke sie nur will, wenn sie auch systemische Verbesserungen bringt.
«Falls die Reform scheitert, bleibt das geltende Gesetz in Kraft und die Zahlen werden roter.»
Was passiert, wenn die AHV-Reform nächstes Jahr in der Volksabstimmung erneut scheitert?
Wenn ein Rentensystem aus dem Gleichgewicht gerät, kann man das durch Rentensenkungen, höhere Einnahmen oder durch Schulden beheben. Falls die Reform scheitert, bleibt das geltende Gesetz in Kraft und die Zahlen werden roter. Dann werden wahrscheinlich wie schon in den letzten Jahren ad hoc neue Finanzierungsquellen erschlossen.
Eine Pleite der AHV ist ausgeschlossen?
Selbst sehr hohe Schulden in der AHV wären möglich, das ist in einigen umliegenden Ländern schon länger so. Das ist natürlich nicht gut, aber es geht. In der Schweiz hat der mit zusätzlichen, laufenden Bundesmitteln finanzierte Anteil der AHV-Ausgaben auch laufend zugenommen.
Dann erfüllt sich der Wunschtraum der Linken: über einkommensabhängige progressive Steuern finanzierte Sozialwerke.
Die AHV einfach immer tiefer in die roten Zahlen hineinlaufen zu lassen, ist auch auf der Linken keine wünschbare Position. Eine stabile, gesunde, glaubwürdige AHV hat für die Linke eine enorme Bedeutung.
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