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Pleite-Kapitän und insolventer Besitzer
Wie die schwimmende Bombe nach Beirut kam

«Libanon, lass uns nach Hause»: Boris Prokoschew, Kapitän der Rhosus, fordert zusammen mit Mitgliedern seiner Crew, das Schiff verlassen zu können. Die Mannschaft konnte das Schiff elf Monate lang nicht verlassen, als es im Hafen von Beirut lag.
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Die MV Rhosus ist 86 Meter lang und 12 Meter breit, vom Deck bis zum Kiel misst das 1986 in Japan für eine Fischereigesellschaft gebaute Frachtschiff 6 Meter. Das vermittelt eine ungefähre Grössenvorstellung von der Sprengladung,
die Beirut verwüstet hat. Denn das Unheil in Form von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat war an Bord dieses Schiffes am 23. September 2013 im Hafen der libanesischen Hauptstadt angelandet. Inzwischen lässt sich in groben Zügen rekonstruieren, wie es dazu kommen konnte, dass die ursprünglich für die Fábrica de Explosivos de Moçambique bestimmte tödliche Fracht fast sieben Jahre bis zu der verheerenden Detonation am Dienstagnachmittag ohne die nötigen Sicherheitsvorkehrungen im Hafen blieb, zuletzt im Lagerhaus Nummer zwölf.

Kein Geld für den Suez-Kanal

Am Heck der Rhosus war die blau-gelb-rote Trikolore der Republik Moldau aufgezogen, als sie im georgischen Schwarzmeer-Hafen Batumi beladen wurde. Sie nahm dann mit einer zehnköpfigen Mannschaft Kurs Richtung Mittelmeer, von wo sie durch den Suez-Kanal und das Rote Meer ihren Bestimmungsort im Südwesten Afrikas anlaufen sollte. Es gibt gleich mehrere Gründe, warum der Frachter dort nie ankam. Aber dass er Beirut anlaufen musste, lag laut dem Kapitän Boris Prokoschew daran, dass der damals auf Zypern residierende russische Eigner, ein Geschäftsmann namens Igor Gretschuschkin, angeblich nicht genug Geld hatte.

Dieser habe ihn angerufen, dass er die Durchfahrtsgebühren für den Suez-Kanal nicht aufbringen könne, wie der heute 70-Jährige der «New York Times» sagte. Allerdings habe Gretschuschkin zuvor eine Million Dollar für die Passage kassiert. Im Libanon habe das Schiff zusätzliche Fracht aufnehmen sollen und mit dem Erlös dann die Durchfahrt durch den Suez-Kanal bezahlen sollen. Doch die Maschinen passten nicht mehr in den Laderaum. Zu allem Ärger kam noch eine Inspektion durch die Hafenbehörde, die das Schiff wegen gravierender technischer Mängel festsetzte.

Tödliche Fracht im Hafen von Beirut angekommen: Kapitän Boris Prokoschew (r.) und Bootsmann Boris Musinschak posieren auf der Rhosus vor einem Behälter, der Ammoniumnitrat enthält.

Der Kapitän und vier weitere Besatzungsmitglieder wurden elf Monate nicht von Bord gelassen – die libanesischen Behörden wollten die Rhosus wieder loswerden und vor allem die gefährliche Fracht. Aber der Eigner gab das Schiff auf, ebenso die Eigentümer die Ladung. Gretschuschkin bezahlte weder die Heuer noch Hafengebühren. Bald musste die Mannschaft Schiffsdiesel verkaufen, weil die Vorräte an Bord zur Neige gingen. Verschiedene Gläubiger erwirkten vor Gericht drei Arrestanordnungen für das Schiff, wie eine Beiruter Anwaltskanzlei 2015 mitteilte.

«Sie sind selber schuld. Es war nicht nötig, das Schiff festzusetzen. Sie hätten es auch schneller loswerden können.»

Boris Prokoschew, Kapitän der Rhosus

Gretschuschkin wies jede Verantwortung zurück. Die Behörden des Libanon hätten die Weiterfahrt untersagt und die Ladung beschlagnahmt, sagte er der Zeitung «Iswestija». Begründet worden sei dies mit fehlenden Dokumenten und Bedenken wegen der Transportbedingungen des gefährlichen Stoffes. Weil das Schiff nicht habe weiterfahren dürfen, sei sein Geschäft lahmgelegt gewesen. Er habe Strafe zahlen müssen und sei deshalb bankrottgegangen.

Auch Kapitän Prokoschew sieht die Verantwortung für die Katastrophe bei den libanesischen Behörden. «Sie sind selber schuld», sagte er. «Es war nicht nötig, das Schiff festzusetzen. Sie hätten es auch schneller loswerden können.» Er fuhr nicht weiter, weil die Behörden darauf bestanden hätten, dass er die Hafensteuer bezahle, sagt er. Ausserdem: «Ammoniumnitrat ist ein Düngemittel, sie hätten es auf die Felder streuen und unterpflügen können. Wenn niemand nach der Ladung fragt, gehört sie niemandem», sagte Prokoschew.

Ground Zero von Beirut: Soldaten sichern den Ort der Explosion im Hafen.

Die Anwälte klagten die restliche Crew nach elf Monaten auf dem Schiff heraus. Den Antrag bei einem Beiruter Gericht begründeten sie mit der rechtswidrigen Beschränkung der Bewegungsfreiheit. Betont habe man aber auch die «unmittelbare Gefahr», der die Besatzung ausgesetzt sei angesichts der «gefährlichen Natur der Ladung, die sich weiter an Bord befand». Der Richter gab dem statt – die auf der Hand liegende Schlussfolgerung, dass eine ganze Stadt gefährdet war, blieb aus. Das in Rostock ansässige Schifffahrtsportal FleetMon.com schrieb damals schon von einer «schwimmenden Bombe», auf der die Crew als Geiseln gehalten werde.

Ammoniumnitrat sollte versteigert werden

Den Zollbehörden im Hafen war klar, dass sie auf einem gewaltigen Sprengsatz sassen. Schon 2014 wandten sie sich an ein Gericht mit der Bitte um Anweisungen, wie man das Ammoniumnitrat loswerden könne. Das geht aus Dokumenten hervor, die der Parlamentsabgeordnete Salim Aoun im Internet veröffentlicht hat. «Angesichts der ernsthaften Gefahr, die von der weiteren Lagerung dieser Ladung in dem Lagerhaus in ungeeignetem Klima ausgeht», wiederholte der Chef des libanesischen Zolls im Mai 2016 seine Bitte, die sofortige Ausfuhr des Stoffes anzuweisen. Insgesamt mindestens sieben Versuche unternahm der Zoll, das Ammoniumnitrat aus dem Hafen zu entfernen.

2015 wurde das Ammoniumnitrat zumindest auf Anordnung eines Gerichts von dem Schiff geholt und in das Lagerhaus gebracht. Der Manager des Hafens von Beirut, Hassan Koraytem, sagte libanesischen Medien, ihm sei klar gewesen, dass das Ammoniumnitrat gefährlich war – «wenn auch nicht in diesem Ausmass». Neben dem Zoll hätten auch die Sicherheitsbehörden mehrere Vorstösse bei der Justiz gemacht, das Material aus dem Hafen zu entfernen – aber nichts sei passiert. Es habe geheissen, das Ammoniumnitrat solle versteigert werden. «Aber die Auktion hat nie stattgefunden, die Justiz hat nie gehandelt», sagte er. Erst vor sechs Monaten sei die Lagerhalle erneut inspiziert worden, berichten libanesische Medien weiter unter Berufung auf Hafenmitarbeiter. Das Team habe gewarnt, das Ammoniumnitrat könne «ganz Beirut in die Luft sprengen». (Lesen Sie hier den Kommentar zum Versagen der libanesischen Behörden.)

Hausarrest verhängt

Nach einer Dringlichkeitssitzung des Obersten Nationalen Sicherheitsrates ordnete die Regierung am Mittwochabend Hausarrest für alle Mitarbeiter an, die mit der Lagerung und Bewachung des Stoffes und dem Schriftverkehr dazu seit 2014 befasst waren. Warum die Justiz den flehentlichen Bitten der anderen Behörden nicht nachgekommen ist, blieb offen. Eine Stellungnahme der Justiz dazu gab es zunächst nicht. In der Sitzung, so berichten es libanesische Medien unter Berufung auf Teilnehmer, sei auch bestätigt worden, dass der Brand, welcher der verheerenden Detonation vorangegangen war, wahrscheinlich durch Schweissarbeiten ausgelöst worden ist.