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Finanzielle Fallstricke bei IV-Renten
Wie der todkranke Ralph Knoepfel um Geld kämpfen musste 

Aufgrund einer schweren Erkrankung ist Ralph Knoepfel auf eine Invalidenrente angewiesen. Er findet, dass die Verrechnung seiner ehemaligen Arbeitgeberin «ungerecht» gewesen sei. 
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Sein berufsbegleitendes Studium in Heilpädagogik ist schon fast beendet, als Ralph Knoepfel 2016 die erschütternde Diagnose erhält: Er ist an Morbus Cushing erkrankt. Sein Arzt spricht später von «einer der fiesesten Krankheiten, die es überhaupt gibt». Sie ist selten, weshalb Ärzte sie oft erst spät erkennen. Von einer Million Menschen trifft es nur drei. 

Der Körper von Ralph Knoepfel schüttet Unmengen des Stresshormons Cortisol aus – rund zehnmal so viel wie bei gesunden Menschen. Das zerstört den Körper: Es führt zu einer Vielzahl von belastenden Symptomen wie Knochenbrüchigkeit (Osteoporose), Schlafstörungen, dauernden Kopfschmerzen, Muskelschwund, Müdigkeit, Reizbarkeit, Depressionen und Bluthochdruck, der das Risiko eines Hirnschlags stark erhöht.

Jahrelang nicht richtig geschlafen

Knoepfel schläft während Jahren nicht mehr richtig durch. Die Symptome sind insgesamt so schwerwiegend, dass er kurz nach der Diagnose sofort operiert werden muss. In mehreren Eingriffen entfernen Ärzte Organe, die für die Cortisol-Produktion verantwortlich sind. Als wäre das nicht genug, wird später auch noch ein bösartiger Hirntumor entdeckt. Insgesamt kam es zu dreizehn – teils schweren – Eingriffen.

Knoepfel ist zum Zeitpunkt der Diagnose bei der Stadt Zürich angestellt. Er fällt bei der Arbeit vermehrt aus und erhält eine Lohnfortzahlung aus der Krankentaggeldversicherung. Vor zwei Jahren wird ihm schliesslich die Invalidenrente bewilligt. 

In der Regel dauert es zwei bis drei Jahre, bis die IV-Rente nach der Beantragung genehmigt wird. Dies führt dazu, dass die Betroffenen eine grössere Summe für die vergangenen Jahre nachträglich ausgezahlt erhalten.

Bis zum Entscheid der Invalidenversicherung finanzieren andere Stellen den Lebensunterhalt der betroffenen Person. Das können Arbeitgeber, die Krankentaggeldversicherung oder die Sozialhilfe sein. Sobald die IV-Rente bewilligt und ausbezahlt wird, verlangen diese Stellen das bevorschusste Geld zurück.

Falsche Berechnungsgrundlage?

Die Stadt Zürich hat von Ralph Knoepfel eine Rückerstattung auf der Grundlage einer 100-Prozent-Anstellung verlangt und erhalten. So habe die Stadt mehr bekommen, als ihr zustehe, argumentiert Knoepfel. Denn er wurde zum Zeitpunkt der Erkrankung nur zu einem 65-Prozent-Pensum beschäftigt. So gerechnet, hätte er weniger Geld abtreten müssen.

Die Rechnung sieht wie folgt aus: Knoepfel musste für die insgesamt zweijährige Lohnfortzahlung seine gesamte IV-Rente von monatlich 2141 Franken abgeben. Hätte seine ehemalige Arbeitgeberin oder deren Krankentaggeldversicherung stattdessen mit einem 65-Prozent-Pensum gerechnet, ginge es um einen Betrag von 1392 Franken. Über zwei Jahre wären für Knoepfel so zusätzliche 17’000 Franken übrig geblieben.

Michael Meier, Oberassistent für Sozialversicherungsrecht an den Universitäten Zürich und Luzern, stimmt grundsätzlich mit Ralph Knoepfels Einschätzung überein. Er erklärt, dass die IV-Rente zu 65 Prozent auf einer Einschränkung der Erwerbstätigkeit beruhe, während die restlichen 35 Prozent auf einer Einschränkung der privaten Haushaltsführung basierten. 

Um seine Position zu verdeutlichen, führt Meier ein weiteres Beispiel an: Wenn ein IV-Bezüger bei zwei verschiedenen Arbeitgebern jeweils 50 Prozent angestellt war, kann auch nicht einer der beiden Arbeitgeber 100 Prozent der IV-Rente beanspruchen. 

Den Arbeitsvertrag berücksichtigen

Meier weist jedoch darauf hin, dass weitere Faktoren wie der Arbeitsvertrag oder das Personalreglement eine Rolle spielen können. Knoepfels Anwalt hat dies geprüft und sieht die Interessen seines Mandanten bestätigt. Demnach sieht das relevante Personalreglement vor, dass IV-Renten berücksichtigt werden dürfen, «soweit sie die Deckung des Verdienstausfalls wegen Arbeitsunfähigkeit bezwecken».

Da im vorliegenden Fall ein Verdienstausfall von 65 Prozent gedeckt werden sollte, dürfe die Stadt Zürich eigentlich keine höhere Forderung stellen, folgert der Anwalt.

Die Stadt Zürich beharrt jedoch in einer Stellungnahme gegenüber dieser Zeitung auf dem Standpunkt, dass sie die gesamte IV-Rente anrechnen darf. Sie begründet dies unter anderem mit Bestimmungen der zürcherischen Vollzugsverordnung zum Personalgesetz. 

Michael Meier von der Universität Zürich bestätigt, dass solche Fragen juristisch knifflig sind, da das Gesetz dafür keine ausdrückliche Regelung vorsieht. Er empfiehlt, solch umstrittene Fälle prüfen zu lassen, und zwar rasch. Die Einsprachefrist beträgt dreissig Tage. Wer erst kurz vor Ablauf der Frist einen Rechtsanwalt kontaktiert, wird unter Umständen im Regen stehen gelassen, da Anwälte meist eine gewisse Vorlaufzeit benötigen.

Jährlich Tausende Menschen betroffen

Ralph Knoepfel ist kein Einzelfall. Jährlich werden mehrere Tausend Menschen in der Schweiz damit konfrontiert. Es gibt rund eine Viertelmillion IV-Rentnerinnen und -Rentner, und eine weitere Viertelmillion erhält im Zusammenhang mit Wiedereingliederungsmassnahmen Beiträge. 

Betroffene sollten im Zweifelsfall einen Rechtsexperten konsultieren, der sich mit Sozialversicherungen auskennt. Denn obwohl die Behörden grundsätzlich gut arbeiten, kommt es in den Verfügungen zur Verrechnung von IV-Geldern immer wieder zu Fehlern.

Vor allem folgende zwei Kriterien sollten geprüft werden: die Höhe der Forderung und die zeitliche Übereinstimmung. Da IV-Nachzahlungen häufig rückwirkend über mehrere Jahre verrechnet werden, ist die zeitlich korrekte Zuordnung eine fehleranfällige Aufgabe.

Obwohl für Personen ohne Rechtsschutzversicherung Kosten entstehen, kann sich eine Überprüfung lohnen. Denn oft geht es um bedeutende Summen, die ein Anwaltshonorar für zwei bis drei Stunden Arbeit rechtfertigen. 

Wer die Frist verpasst, hat verloren

Nach Ablauf der dreissigtägigen Frist gibt es praktisch keine rechtliche Möglichkeit mehr, umstrittene Verrechnungen abzuwehren. Diese schmerzliche Erfahrung macht auch Ralph Knoepfel, der die Frist aus verschiedenen Gründen verpasst hat. Die Stadt Zürich hat sich zwar die Mühe gemacht, den Fall nachträglich nochmals zu prüfen. Im Februar erhielt Knoepfel jedoch per Mail die Mitteilung, dass das zuständige Amt «zu keiner neuen Einschätzung» gekommen sei.

Knoepfel hadert mit dem ablehnenden Entscheid seiner ehemaligen Arbeitgeberin. Er verstehe nicht, wie es trotz eines überschaubaren Betrags zu diesem nach seiner Ansicht «ungerechten Entscheid» habe kommen können. «Für mich geht es um sehr viel Geld – für die Stadt Zürich wäre das ein Klacks.»

Ohne Medikamente würde Ralph Knoepfel schon nach kurzer Zeit sterben. Für Notfälle hat er sich deshalb eine Tätowierung stechen lassen, die darauf hinweist.

Medikamente bestimmen den Alltag

Doch im Vergleich zu seinen gesundheitlichen Herausforderungen bleiben finanzielle Fragen nebensächlich. Planung und Dosierung eines umfangreichen Medikamentencocktails bestimmen den Alltag von Ralph Knoepfel. Ohne Medikamente, die sowohl einen Koffer als auch viel Platz im Kühlschrank beanspruchen, wäre er innerhalb eines Tages nicht mehr am Leben. Soeben liess er sich eine Notfall-Tätowierung stechen, die auf die dringend benötigten Medikamente hinweist, falls er einmal nicht mehr ansprechbar ist.

Die Krankheit ist auch eine psychische Belastung. Die anhaltende Müdigkeit macht ihm zu schaffen. So muss er ein Medikament nehmen, um für einen Spaziergang mit seinem Hund genügend Kraft zu finden. «Jeder Mensch hat Träume und Wünsche – in meinem Leben existiert das nicht mehr», sagt Knoepfel.