Boris Johnsons VersprechenWie der Brexit die Fischerei retten soll
Wenn es um ihren Fisch geht, werden die Briten emotional. Nach dem Ausstieg des Königreichs aus der EU wollen sie nun die Kontrolle über ihr Meer zurückgewinnen. Ein Besuch an der englischen Nordseeküste.
Es gibt Tage, da plätschert das Leben so vor sich hin. Und dann gibt es solche wie den 9. Dezember 2019. Ein Tag, von dem Martyn Boyers voller Überzeugung sagt: «Das war der beste, den wir hier je hatten.»
Boyers, 64 Jahre alt, schmales Gesicht, ist Chef des Fischmarkts von Grimsby, einer Küstenstadt mit 90’000 Einwohnern im Nordosten Englands. Die wenigsten kommen hier ins Schwärmen, es sei denn, sie erinnern sich an die gute alte Zeit, als der Fischereihafen zu den grössten der Welt zählte.
Heute sind die Docks fast ausgestorben, es liegen nur noch ein paar Schiffe vor Anker. Da tut es gut, wenn mal einer in die Stadt kommt, und nicht nur von der glorreichen Vergangenheit redet. Einer, der eine glänzende Zukunft verspricht. Einer wie Boris Johnson. Damals, am 9. Dezember 2019. Einem Montag.
Johnson brachte Hoffnung zurück
Es war kein Zufall, dass Johnson drei Tage vor der Unterhaus-Wahl ausgerechnet hierher kam. Grimsby war in den vergangenen Jahrzehnten eine Labour-Stadt. Tories hatten so gut wie keine Chance. Doch dann tauchte mitten im Brexit-Chaos einer wie Johnson auf und gab den Briten ein klares Versprechen: «Let's get Brexit done.»
Das war auch seine Botschaft in Grimsby, wo er sich an jenem Montagmorgen von Boyers durch die Auktionshalle des Fischmarkts führen liess. Unter grellem Neonlicht stapeln sich hier blaue und gelbe Plastikboxen, gefüllt mit Kabeljau und Schellfisch. 15’000 Tonnen werden im Jahr versteigert.
«Es wird der Tag kommen, an dem die britischen Schiffe etwas von dem spektakulären Reichtum unserer Meere zurückholen werden.»
Johnson war im Wahlkampfmodus. Ein Scherz hier, ein Handschlag dort, dazwischen hielt er einen dicken Kabeljau vor die Kameras. Es sollten schliesslich alle sehen, für was er sich einsetzt: den grossartigen britischen Fisch und seine nicht minder grossartigen Fischer. Wie alle Markthändler trug auch Johnson an diesem Tag Gummistiefel, Hut und eine wasserfeste Jacke - ganz in Weiss.
Er lächelte viel und sagte Sätze, die ziemlich gut ankamen. Zum Beispiel: «Es wird der Tag kommen, an dem die britischen Schiffe etwas von dem spektakulären Reichtum unserer Meere zurückholen werden, den wir in den vergangenen Jahrzehnten verloren haben.»
Brexit hat Familien gespalten
Fischmarkt-Chef Boyers merkte an diesem Tag, dass sich etwas Grundsätzliches verändert hat in seiner Stadt. Da gab es auf einmal wieder Hoffnung. Leute, von denen Boyers wusste, dass sie ihr Leben lang Labour gewählt hatte, waren plötzlich völlig begeistert. «Mir wurde an diesem Tag klar, dass Boris gewinnen wird», sagt Boyers. Und so kam es, dass auch die Labour-Abgeordnete, die den Wahlkreis Great Grimsby bis dahin in London vertrat, abgelöst wurde. Nun sitzt dort eine Konservative aus Johnsons Partei.
Auch Boyers, der den früheren Labour-Premier Tony Blair als seinen Liebling bezeichnet, hat die Tories gewählt. Schon beim Brexit-Referendum 2016 hatte er für Leave gestimmt. Seine Frau wiederum ist auf der Seite der Remainer. Sie findet, dass Johnson das Land ruiniert. Den Boyers ergeht es damit wie vielen anderen im Königreich: Der Brexit hat Familien im ganzen Land gespalten.
Seit Johnsons Wahltriumph hat sich in London einiges verändert. Aber in Grimsby? Die Stadt hat natürlich auch mit der Corona-Pandemie zu kämpfen, aber sonst? Martyn Boyers sitzt in seinem Büro im Fischmarkt und schaut auf die Docks, als suche er etwas. Möwen kreisen über dem Wasser, ein paar Schiffe liegen vor Anker. Er denkt nach, dann sagt er: «Boris hat den Brexit geliefert, aber Fisch ist noch immer ein toxisches Thema in der Politik.» Der Beitrag der Fischerei zur britischen Wirtschaftsleistung sei zwar sehr gering, aber viel wichtiger sei ohnehin etwas anderes: «Fisch ist für uns Briten eine emotionale Angelegenheit.»
Wer verstehen will, warum das so ist, dem empfiehlt Boyers, an einen beliebigen Ort am Meer zu fahren. Fast überall an der Küste findet man Läden, die Fish and Chips verkaufen. Wenn es ein britisches Nationalgericht gibt, dann ist es dieses. Während der Weltkriege war es eines der wenigen Essen im Königreich, die nicht rationiert wurden. Winston Churchill nannte die Kombination aus frittiertem Fisch und Pommes «die guten Gefährten». In London und anderen grossen Städten kann man das Gericht in jedem vernünftigen Pub bestellen. Fish and Chips haben für die Briten eine Symbolkraft, die weit über den Geschmack hinausgeht.
Fisch als Knackpunkt bei Brexit-Verhandlungen
Kein Wunder also, dass Fisch zu den Knackpunkten in den Brexit-Verhandlungen zwischen London und Brüssel zählt. Wenn die Übergangsphase am Jahresende ausläuft, wollen die Briten wieder die alleinige Kontrolle über ihre Gewässer und reichhaltigen Fischgründe haben. Die Brexiteers möchten das zurück, was sie ihrer Meinung nach verloren haben: Souveränität.
In Grimsby war Fischerei stets eine Sache von Grossunternehmen, nicht von Familienbetrieben wie an der englischen Südküste. Als London in der Auseinandersetzung mit Island nachgeben musste, folgten im Zuge der Gemeinsamen Fischereipolitik die Fangquoten aus Brüssel - und damit der Niedergang der Fischerei in Grimsby. Die fischverarbeitende Industrie hielt sich, bis heute wird die Rohware importiert und in Kühllastwagen angeliefert. Zum Fischmarkt von Boyers.
Fischgründe als Hebel in Verhandlungen
Seit in Brüssel darüber entschieden wird, welche Fischmengen den Mitgliedsstaaten in EU-Gewässern zustehen, haben auch Länder wie Frankreich, Deutschland und die Niederlande das Recht, in britischen Fischgründen auf Fang zu gehen. Das will die Regierung in London nun ändern. Grossbritannien möchte jedes Jahr neue Quoten mit der EU aushandeln. Dank ihrer Fischgründe haben die Briten einen nicht zu unterschätzenden Hebel in den Verhandlungen.
Wer allerdings meint, dass die Briten vor allem deshalb die Hoheit über ihre Gewässer wieder haben wollen, weil sie all die Fische für sich behalten möchten, liegt falsch. Der meiste Fischfang aus dem britischen Meer wird in die EU exportiert, etwa Lachs und Hering. Die Fischsorten aber, die die Briten am liebsten essen, kommen aus Island oder Norwegen: Kabeljau und Schellfisch. Und so gibt es, bei allem Streit mit Brüssel, auch britische Fischerei-Unternehmen, die darauf pochen, dass die Regierung in London die Verhandlungen mit den nordischen Ländern nicht aus den Augen verliert.
An der Spitze einer solchen Firma steht Jane Sandell. Wer von Grimsby aus zu ihr will, muss die Brücke über den Humber nehmen. Der Fluss zieht sich kilometerweit ins flache Land hinein. Auf der anderen Seite liegt Hessle, ein Vorort von Hull.
Sandell, CEO von UK Fisheries, hat ihr Büro in einem Business-Park. Von dort aus steuert sie die Einsätze ihrer Schiffe; sie sind vor allem in isländischen und norwegischen Gewässern unterwegs. Die Crews sind meist für sechs Wochen im Meer und fangen das, was Engländer, Schotten und Waliser für ihre Fish and Chips brauchen.
Sandell, 42 Jahre alt, eckige Brille, ist davon überzeugt, dass dieses Gericht Teil der britischen Seele ist, genauso wie das Meer. Sie sagt: «Wir haben ein besonderes Verhältnis zur See: Unser Land wurde seit 1066 nicht mehr erobert, weil wir das Wasser um uns haben.» Die Küste, die Fische und das Meer, das alles sei Teil der britischen Identität.
Sandell ist selbst in einem Küstenort aufgewachsen, dort, wo die Themse in die Nordsee mündet. Später hat sie in Swansea und Hull Biologie studiert. Ob sie für den Brexit gestimmt hat, will sie nicht sagen. Privatsache.
«Alles, was wir wollen, ist, dass wir wieder ein souveräner unabhängiger Küstenstaat werden.»
Damit ihr Anliegen im Streit mit Brüssel aber nicht untergeht, telefoniert sie regelmässig mit Barrie Deas, dem Chef des britischen Fischereiverbandes NFFO. Dessen Zentrale liegt in York. Wegen Corona werden dort aber zurzeit keine Gäste empfangen. Deas arbeitet von zu Hause aus. Wenn man mit ihm am Telefon über die Brexit-Verhandlungen spricht, klingt er ganz zuversichtlich.
David Frost, rem britischen Chefunterhändler, habe ihm versichert, dass die Anliegen der Fischereiindustrie eine sehr hohe Priorität hätten. «Alles, was wir wollen, ist, dass wir wieder ein souveräner unabhängiger Küstenstaat werden - so wie Norwegen», sagt Deas.
Bei diesem emotionalen Thema darf sich Boris Johnson eigentlich keine Niederlage erlauben. Insofern können die britischen Fischer durchaus guter Hoffnung sein.
«Unsere Fischer sind fast alle weg, und sie werden auch nicht wiederkommen.»
In Grimsby ist mancher nicht ganz so optimistisch. Ein Mittwochabend im Juli, kurz vor 18 Uhr. So langsam kommen die Schiffe, die tagsüber draussen auf dem Meer waren, zurück in den Hafen. Wer rein darf, bestimmt Martin Brydges, der Schleusenwart. Er sagt: «Unsere Fischer sind fast alle weg, und sie werden auch nicht wiederkommen.»
Die meisten Männer, die auf den Booten abends in die Marina von Grimsby fahren, haben mit Fischfang nichts mehr zu tun. Sie arbeiten tagsüber in den Windparks vor der Küste. Dort wird Energie gewonnen, die das Land braucht. «Die neue Zeit», sagt Brydges und lächelt milde.
Er selbst ist jetzt 62, vor vier Jahren hat er mit dem Fischen aufgehört. Sein Rücken machte nicht mehr mit. Leicht ist es ihm nicht gefallen. Schon sein Grossvater war Fischer. Sein Bruder ebenfalls, aber der lebt jetzt in Thailand.
Jahrzehntelang ist er für ein bis drei Wochen von Grimsby in die Nordsee aufgebrochen. Hat Kabeljau und Schellfisch in norwegischen Gewässern gefangen und damit gut verdient. Das Geld ist es auch, was ihm jetzt am meisten fehlt; natürlich auch der Spass an Bord. «Vergnügungstrips» nannte er das, wenn er mit den Jungs in See stach. Es war ein Stück Freiheit, sagt er. Und genau die will er jetzt im übertragenen Sinne wieder haben - und zwar für sein Land.
Solange sich die Windräder drehen, gehts weiter
Von London aus betrachtet, mag Grimsby eine Stadt ohne Perspektive sein. Aber wer das glaubt, unterschätzt die Menschen dort. Menschen wie Martyn Boyers. Er hat immer wieder Neues gewagt. Er vermietet jetzt auch Immobilien. Und dann stehen da noch die Windräder, draussen im Meer. Seit es die Offshore-Parks gibt, hat er zwei Visitenkarten mit seinem Namen in der Tasche - eine vom Fischmarkt, die andere von der Hafengesellschaft, die für die Energiegewinnung verantwortlich ist.
Wenn Martyn Boyers auf dem Balkon seines Büros steht, kann er die Windräder sehen. Manchmal, wenn das Wetter schlecht ist, muss er die Augen zusammenkneifen. Aber er weiss: Solange sie sich drehen, geht es weiter.
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