EM-Achtelfinal Frankreich – SchweizSo schlagen die Schweizer heute Abend Frankreich
Vor dem EM-Achtelfinal geben sich die Schweizer Fussballer selbstbewusst. Doch ihnen stellt sich die grosse Herausforderung: Wie ist dieses Frankreich zu bezwingen?
Die Chefs sprechen: Über die Grenzen gehen
Eines muss man Granit Xhaka lassen: Er ist furchtlos, egal, wie ein Gegner gerade heisst. Und das ist er auch, wenn er zu seinen Gedanken vor dem Achtelfinal gegen Frankreich befragt wird. Ob er dabei bleibe, dass es für die Schweiz heisse: Jetzt oder nie?
Xhaka ist in diesen Minuten vor dem Abschlusstraining konzentriert, er verzieht keine Miene, als er antwortet: «Auf jeden Fall. Das Gefühl hat sich nicht verändert.» Das Gefühl, mit dieser Schweizer Mannschaft den besonderen Weg gehen zu können, meint er. Und darum sagt er: «Wer weiterkommen oder das Turnier gewinnen möchte, muss jeden schlagen. Ob er Frankreich heisst oder in der Gruppe Italien, Wales oder Türkei.»
In der Gruppenphase hat es mit dem Gewinnen zwar nur gegen die Türkei geklappt, aber es hat auch so gereicht, zum dritten Mal in der Amtszeit von Vladimir Petkovic im Achtelfinal eines Turniers zu stehen. Xhaka ist in seinem Optimismus ungebremst. «Angst brauchen wir nicht zu haben», sagt er. Und: «Frankreich ist der Favorit, aber wir müssen uns nicht verstecken.» Oder: «Es ist wichtig, dass wir unser Spiel machen und nicht allzu sehr auf den Gegner schauen.»
Nach dem Captain redet der Coach. Vladimir Petkovic gibt sich unbeeinflusst von den Geschichten und der Kritik, die rund ums Italien-Spiel aufgekommen ist. Er habe Vaseline auf dem Kopf eingestrichen und das Wasser abtropfen lassen, sagt er. Dieses Bild ist nicht neu, er hat es schon im Frühjahr 2017 gewählt, ohnehin sagt er: «Solche Sachen» sei er seit sieben Jahren gewohnt.
Wenn es ums Spiel geht, bleibt Petkovic unverbindlich. Er sagt: «Wenn wir hundert Prozent geben und die Franzosen auch hundert Prozent geben, reicht es nicht. Wir müssen über unsere Grenzen gehen. Aber alles, was man erklärt, ist zweitrangig. Auf dem Platz muss man mehr laufen.»
Wie Frankreich zu schlagen ist: Die Flügel als Schlüssel
Frankreich wirkt wie ein All-Star-Team. Vor allem hat Frankreich, was sonst fast niemand an diesem Turnier hat: einen Angriff, der das Prädikat Weltklasse verdient. Kylian Mbappé kann mit seiner Geschwindigkeit jeden Verteidiger vor unlösbare Probleme stellen. Karim Benzema kombiniert einen unglaublichen Sinn für Räume und Laufwege der Mitspieler mit scheinbar eingebauter Torgarantie. Und Antoine Griezmann wirkt oft unspektakulär, verbindet aber geschickt Mittelfeld mit Sturm.
Und dann ist da noch dieses Mittelfeld mit N’Golo Kanté, dem Mann mit den vier Lungen. Und Paul Pogba, der mit einem Pass aus einem langweiligen Ballgeschiebe in der eigenen Platzhälfte heraus plötzlich Mbappé oder Benzema allein auf den gegnerischen Goalie losschicken kann.
Und doch hat auch dieses Team seine Schwachstelle. Trainer Didier Deschamps legt grössten Wert darauf, das Zentrum dicht zu halten. Oft stehen im Spiel gegen den Ball zwischen den Strafraum-Ecken und der Mittellinie sieben bis neun Franzosen. Die Mitte ist also eher nicht der Ort, an dem sie zu packen sind.
Dafür gibt es auf den Seiten Raum. Erstens hat ein Pogba, so mannschaftsdienlich er bislang auftritt, nicht sonderlich viel Lust, an der Seitenlinie Gegner zu decken. Zweitens haben bislang hinten rechts weder Benjamin Pavard noch Jules Koundé besonders überzeugt.
Vor allem lassen sich die Aussenverteidiger immer wieder aus ihrer Position locken, weil Frankreich in der Defensive sehr mannorientiert spielt. Will heissen: Die Abwehrspieler rennen schon mal einfach einem Gegenspieler nach. Und verlassen so die Zone, für die sie eigentlich zuständig wären.
Für die Schweizer bedeutet das: Ihre Aussenspieler, vermutlich Steven Zuber und Silvan Widmer, müssen konsequent in die sich öffnenden Räume laufen. Und in der Mitte müssen Haris Seferovic, Xherdan Shaqiri, Breel Embolo und ein weiterer Mittelfeldspieler dafür sorgen, dass im Sechzehner viel Verkehr herrscht.
Natürlich birgt das ein Risiko, in Konter zu laufen. Bei Ballverlust heisst es darum, sofort Pogba unter Druck zu setzen. Damit dieser nicht mit einem Pass sofort die ganze Schweizer Mannschaft aushebelt. Aber wer nichts wagt, wird gegen Frankreich vermutlich auch nichts gewinnen.
Was für die Schweiz spricht: Zuber, Embolo und die tickende Uhr
Bisher wirkte es, als wollten die Schweizer alle Vorurteile über ihr Land in Fussball übersetzen. Das Spiel gegen Wales war durchzogen, jenes gegen die Italiener schlecht, jenes gegen die Türkei gut. Ergibt mit Schweizer Präzision genau das, was es für den Achtelfinal braucht, und wirkt auf alle Nicht-Schweizer eher langweilig. Jedenfalls sicher nicht so, wie sich die Mannschaft selber gern sieht: als aufregender Geheimtipp auf Augenhöhe mit den Topnationen.
Aber genau dieser Ehrgeiz treibt das Team an. Die Führungsspieler wissen, dass sich ihr Zeitfenster langsam zu schliessen beginnt. Yann Sommer ist bereits jenseits der 30, Xherdan Shaqiri, Haris Seferovic und Granit Xhaka stehen kurz davor. Wenn sie beweisen wollen, dass Grosses in ihnen steckt, dann bald. Am besten jetzt.
Da kam der Dämpfer gegen Italien gerade recht. Es war ein derart schlechter Auftritt, dass sich die Leader im Team selbst hinterfragten. Was dazu führte, dass Xhaka gegen die Türkei plötzlich Pässe gegen vorn statt nur zur Seite spielte. Ein Shaqiri wirkte gar wie verwandelt. Auf ihn in guter Form kann die Schweiz gegen einen Riesen wie Frankreich eigentlich nicht verzichten.
Zuber im Rausch
Und dann gibt es Schweizer, die schon das ganze Turnier hindurch in guter bis sehr guter Form sind. Breel Embolo etwa, der einen Weg gefunden hat, sein körperliches Spiel in den Dienst des Teams zu stellen. Es mag nicht immer elegant aussehen, was der Stürmer macht. Aber er bindet Gegenspieler und öffnet Räume für seine Nebenleute.
Manuel Akanji hat die Fähigkeit, mit seinen Pässen aus der Abwehr heraus gleich zwei gegnerische Reihen zu überspielen. Und dann ist da noch die göttliche Fügung, dass sich Steven Zuber gegen die Türkei auf dem linken Flügel in einen Rausch gespielt hat.
Denn genau über die linke Angriffsseite des Gegners wirken die Franzosen bislang am verletzlichsten. Ein Angriff wie jener zum 3:1 gegen die Türkei, als sich Xhaka, Ricardo Rodriguez und Zuber links durchkombinierten, wäre also genau das richtige Rezept.
Die Achtelfinal-Bilanz: Ärger und Enttäuschung
1994 standen die Schweizer zum ersten Mal in der Neuzeit in einem Achtelfinal. Das Ergebnis bei der WM in den USA war ernüchternd: chancenlos beim 0:3 gegen Spanien.
2006 folgte die WM in Deutschland, das Elfmeterschiessen gegen die Ukraine. Unsäglich langweilige 120 Minuten waren absolviert, es stand 0:0, als Marco Streller, Tranquillo Barnetta und Ricardo Cabanas das Schweizer Debakel aus elf Metern mit ihren Fehlversuchen besiegelten.
2014 der nächste Anlauf, in Brasilien gegen Argentinien. Die Schweizer kämpften heldenhaft und waren nur einmal nicht aufmerksam, sie verloren nach einem Tor Di Marias in der 118. Minute 0:1.
2016, EM in St-Etienne, wieder ein Elfmeterschiessen, diesmal nach einem 1:1. Granit Xhaka schoss den entscheidenden Ball Richtung Normandie statt ins Tor.
2018, WM in St. Petersburg. Die Schweiz, ausgelaugt von der Doppeladler-Affäre, verlor ein trostloses Spiel gegen langweilige Schweden 0:1.
Yann Sommer war ab 2014 immer dabei, er sagt heute: «Das waren alles extreme Enttäuschungen. Manchmal waren wir extrem nahe dran, manchmal spielten wir auch nicht gut wie gegen Schweden. Das ärgert einen, dass man an einem solchen Tag nicht die Topleistung bringt, weil so viel auf dem Spiel steht. Ich weiss noch, nach Russland brauchte ich eine Woche, um alles zu verarbeiten und daheim anzukommen. Jetzt ist eines zu sagen: Wir haben auch in diesem Achtelfinal sehr viel zu verlieren. Und zwar die Qualifikation für einen Viertelfinal. Darum gehen wir im vollen Glauben ins Spiel, dass wir gewinnen können.»
Didier Deschamps: Der Gruss an Vladimir Petkovic
Didier Deschamps wird in Frankreich immer wieder mehr oder weniger versteckt vorgehalten, er orientiere sich bei seiner Taktik zu sehr am Gegner. Der Vorwurf: Wer solche Spieler zur Verfügung hat, darf dem Kontrahenten doch auch mal sein Spiel aufzwingen.
So ist es auch vor dem Spiel der Franzosen gegen die Schweiz. Und wieder einmal erklärt Deschamps, er passe sich keinesfalls dem Gegner an: «Aber ich analysiere ihn. Und dann lasse ich so spielen, dass wir ihm möglichst gefährlich werden können.»
Darum kommen Deschamps’ nette Worte in Richtung Schweiz auch recht detailliert daher. «Grossen Respekt vor der Arbeit meines Kollegen Petkovic» hat Deschamps, «sein Team ist gut organisiert. Und das offensive Trio mit Shaqiri, Seferovic und Embolo kann dem Gegner Sorgen bereiten.»
Deschamps macht klar, dass er sich intensiv mit dem Gegner im Achtelfinal auseinandergesetzt hat. Und wirkt darum glaubhaft, wenn er sagt: «Niemand bei uns denkt, dass das eine einfache Aufgabe wird.» Das ist keine gute Neuigkeit aus Schweizer Sicht.
Nach der Ankunft in Bukarest wurde berichtet, die Franzosen seien unglücklich mit ihrem Hotel, der Trainingsplatz sei zu schäbig und das Wetter zu heiss. Deschamps versucht, als guter Gast all den Geschichten Luft rauszulassen: «Wir können uns nicht beklagen.» Und bedauert nur, dass die Spieler keine Fotos mit den vielen Fans machen können, die die Franzosen in Rumänien haben.
Im Stadion wird der Vorteil lautstärkemässig sowieso bei den Franzosen liegen. Von knapp 24’000 verkauften Tickets sind 1700 nach Frankreich gegangen. Und nur 627 in die Schweiz.
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