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Wenn fremde Kinder Nähe suchen

Angenehm oder unangemessen? Experten warnen vor zu unbedarfter Nähe zu unbekannten Kindern. 
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Es ist Sommer, die Firma lädt zum Grillfest ein, und alle dürfen ihre Familie mitbringen. Freunde, Kolleginnen, Fremde und überall Kinder – ein fleischgewordenes Wimmelbild. Aktuell natürlich fiktiv weil Corona, aber Sie können sich bestimmt an solche Szenarien erinnern: Die Erwachsenen bilden Grüppchen und reden über die jüngste Reorganisation. Erzählt Kurt dann eine Dreiviertelstunde von seiner Beförderung, zieht es ein paar Junggebliebene zu den Kindern. Die freuen sich über die Aufmerksamkeit, und spätestens, wenn Lea-Marihuanas Mama einen so trockenen Kalauer platziert, dass Maximilian-Jason das Caotina aus der Nase spritzt, gehört sie zur Gang.

Schnell entsteht Vertrautheit. Die Erwachsenen müssen dann beim Versteckis helfen und als Klettergerüst herhalten. Manche Kinder suchen dabei mehr Nähe. Gerade bei Fünf- bis Achtjährigen erlebe ich das regelmässig: Da kommt eins in ruhigeren Minuten immer wieder angeschlichen, will sich auf meinen Schoss setzen, schmiegt sich an oder legt das Köpfchen auf meine Schulter. Manche Erwachsenen blocken dann konsequent ab. Ich lasse diese Nähe meist passiv zu. Erstens scheint das Kind ein Bedürfnis zu haben, und zweitens finde ich diese ehrliche Zuneigung selbst ja auch schön. Dabei spielt es mir keine Rolle, ob ich das Kind schon lange und gut kenne oder ob es mir erst vor einer Stunde begegnet ist. Aber verhalte ich mich damit richtig?

Erwachsene tragen die Verantwortung

Kinder- und Jugendpsychologin Susanna Stauber sagt: «Es gibt scheue und distanzlose Kinder – und auch solche mit Bindungsstörungen, die Mühe zeigen mit einer adäquaten Nähe-Distanz-Regulierung.» Entsprechend heikel könne es sein, das Kind einfach machen zu lassen: «Als Erwachsene trage ich eine Verantwortung, dass das Kind lernt, was passt und was nicht. Vor allem, wenn es von einer ‹normalen› Entwicklung abweicht. Distanzlose, impulsive Kinder neigen dazu, Grenzen zu überschreiten, und benötigen entsprechende erzieherische Anleitung.»

Susanna Stauber ist Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapeutin mit einer Praxis in Bern.

Wichtig sei auch, sich selbst zu hinterfragen, so Stauber: «Was ist meine Motivation, mich mit den Kindern abzugeben? Ist es leichter für mich, mit Kindern zu interagieren als mit Erwachsenen? Habe ich ein egoistisches, emotionales oder sexuell motiviertes Interesse an Kindern? Will das innere Kind in mir gern spielen? Gebe ich mich mit den Kindern ab, um sie zu beaufsichtigen? Je nach Motivation ergeben sich andere Folgerungen.»

«Würde das Kind erkennen, wenn die liebe Person anfangen würde, diese Nähe auszunutzen? Nein, würde es nicht.»

Ganz eindeutig kann ich davon nur eine Frage beantworten. Ich habe kein sexuell motiviertes Interesse an Kindern. Doch leider ist das Thema mit dieser Erkenntnis nicht erledigt. Es kann nämlich durchaus sein, dass das Kind auf meinem Schoss sexuell motivierte Gewalt erlebt hat oder erleben wird. Jedes 4. Mädchen und jeder 11. Knabe wird im Lauf seiner Kindheit mindestens einmal Opfer von sexueller Ausbeutung.

Agota Lavoyer, Stv. Leiterin und Beraterin Lantana – Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt –, warnt vor zu unbedarfter Nähe: «Was lernt das Kind, wenn ich ihm erlaube, auf meinen Schoss zu sitzen? Dass es normal ist, dass liebe Erwachsene ihm Nähe geben? Würde es erkennen, wenn die liebe Person anfangen würde, diese Nähe auszunutzen? Nein, würde es nicht.»

Agota Lavoyer ist Stv. Leiterin und Beraterin Lantana – Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt.

Nähe ist wichtig, Schutz aber auchDas heisst nun nicht, dass man Kindern ausserhalb der Kernfamilie jegliche Nähe verweigern soll. Die Psychologin und die Opferhilfeberaterin betonen, dass Kinder Nähe brauchen. Aber darf diese Nähe von Fremden kommen? Schwierig.

«Es ist wichtig, auf die individuellen Bedürfnisse eines Kindes angemessen einzugehen», sagt Susanna Stauber: «Welche Nähe oder welche Distanz passend ist, hängt auch vom persönlichen Hintergrund des Kindes ab.»

Wenn sich am Firmengrillfest ein fremdes Kind auf meinen Schoss setzt, kenne ich diesen Hintergrund nicht. So ist es mir auch nicht möglich, im Interesse des Kindes die richtigen Grenzen zu setzen.

«Es ist nicht am Kind, den passenden Grad der Nähe zu bestimmen.»

Eine gewisse Wachsamkeit sei immer angebracht, so Agota Lavoyer: «Erwachsene müssen konsequent auf die Signale des Kindes achten und dürfen ihm nicht zu nahe kommen, wenn es das nicht explizit gewünscht hat. Und wir müssen konstant abwägen: Wie viel nehme ich dem Kind an Nähe weg, wie viel trage ich dafür zu seinem Schutz bei.»

Gleichzeitig sieht sie auch die Eltern in der Pflicht: «Es ist nicht am Kind, den passenden Grad der Nähe zu bestimmen. Die Eltern müssen entscheiden, ob sie dem Kind erlauben, bei anderen auf den Schoss zu sitzen.»

Wie reagiere ich denn nun, wenn mich das nächste Mal ein halb fremdes Kind beschmust? Ich weiss es nicht. Im besten Fall sind die Eltern in der Nähe, und wir können das gleich vor Ort klären. So oder so werde ich mir einige Gedanken machen.

Dieser Artikel wurde erstmals am 17. Juni 2020 publiziert und am 11. Mai 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.