Astrophysik vor Durchbruch? Weltall-Forscher rätseln über neu entdeckte Galaxie «Nube»
Weil sie nur schwach am Himmel glimmt und mit Theorie-Modellen nicht erklärbar ist, wirft die Galaxie Fragen auf. Wird das Geheimnis der dunklen Materie entschlüsselt?
In einer durch und durch gewöhnlichen Galaxie wie der Milchstrasse leuchten mehr als 100 Milliarden Sterne. Das ist eine Zahl mit elf Nullen – mit blossem Auge sind davon allerdings nur einige Tausend in klaren Nächten zu sehen. Man könnte meinen, das Funkeln der Sterne sei kennzeichnend für eine Galaxie, wenn es nicht auch kuriose Gegenstück gäbe: Dunkle Galaxien.
So glimme die kürzlich entdeckte Galaxie Nube lediglich mit einem Bruchteil der Leuchtkraft der Milchstrasse, so eine im Februar im Fachmagazin «Astronomy and Astrophysics» erschienene Studie. Der Nube-Galaxie fehle demnach schlicht die für ihre Grösse sonst übliche Menge an Sternen, so die Studienautoren vom Astrophysikalischen Institut der Kanarischen Inseln und der Universität La Laguna.
Wegen ihrer ungewöhnlichen Natur versuchte das Team um Studienleiterin Mireia Montes die Galaxie mit Computermodellen zu simulieren. Dabei kamen jedoch nur widersprüchliche Ergebnisse heraus – für die Astrophysiker ein Indiz, dass in Nube ein Schlüssel für die grundsätzliche Natur von Galaxien liegen könnte, und zu einem der grössten Geheimnisse des Universums führt: der Dunklen Materie.
Seltsamer diffuser Fleck am Sternenhimmel
Wie seltsam Nube ist, lässt sich auch daran erkennen, wie die kanarischen Astronomen sie am Himmel aufstöberten. Astronomische Grossprojekte zur systematischen und computergestützten Himmelsdurchmusterung wie der Sloan Digital Sky Survey konnten diesen Typ Galaxie bislang nicht entdecken. Dem Team um Montes kam der Zufall zu Hilfe. Während der Analyse astronomischer Daten aus einem Ausschnitt des Sternenhimmels fiel ihnen ein diffuser Fleck auf, der sich später als Galaxie entpuppte. Sie tauften das schwammige Objekt «Nube», nach der kleinen Tochter eines der Studienautoren.
Um die neue entdeckte Galaxie näher zu untersuchen, buchten die Astronomen im Januar 2019 Beobachtungszeit für das grösste optische Teleskop sowie das grösste, voll bewegliche Radioteleskop der Welt: das Gran Telescopio Canarias mit seinem über zehn Meter grossen Spiegel auf der Kanarischen Insel Teneriffa und das 100 Meter messende Radioteleskop Green Bank in den USA.
So ausgerüstet, entdeckten die Forschenden etwas, womit sie nicht gerechnet hatten. Die 400 Millionen Sonnenmassen schwere Nube erstreckt sich demnach zwar über einen dreimal grösseren Bereich als Dunkle Galaxien mit ähnlicher Masse – besitzt dafür aber nur ein Zehntel von deren üblicher Leuchtkraft. Zudem erwies sich die Galaxie als nahezu durchsichtig, sodass die Forschenden sogar Objekte erkennen konnten, die hinter Nube liegen.
Wie konnten in Nube überhaupt Sterne entstehen?
Trotz alledem ist Nube eine echte Galaxie. «‹Dunkel› bedeutet ja nicht, dass es kaum Sterne gibt, sondern dass diese über einen so grossen Bereich verteilt sind, dass die Galaxie insgesamt nur schwach leuchtet», sagt Astrophysiker Andreas Burkert von der Ludwig-Maximilians-Universität München. «Im Vergleich zu anderen, typischen Galaxien sind hier die Bedingungen extrem. Wie überhaupt Sterne in ihr entstehen konnten, ist für mich ein Rätsel.»
Normalerweise bilden sich Sterne aus ausgedehnten und dichten Gaswolken, die durch ihre eigene Schwerkraft zusammenfallen, bis sie eine Masse und Dichte erreichen, dass sich ein Sternenfeuer entzündet, in dem Wasserstoffkerne miteinander zu Helium verschmelzen. «Aber wenn sie so gross ist wie bei Nube, dann reicht die Schwerkraft nicht aus, dass die Gaswolke kollabiert und einen Stern bildet», so Burkert.
Tatsächlich sind es aber gar nicht so sehr die Sterne von Nube, welche die Studienverfasser umtreiben, sondern die Rolle, die Dunkle Materie dabei spielt. «Galaxien mit so geringer Masse sind perfekte Laboratorien, um die Dunkle Materie besser zu verstehen», sagt Studienleiterin Montes. «Denn solche Galaxien und vor allem ihr Zentrum sind 100- oder 1000-mal mehr von Dunkler Materie dominiert als von sichtbarer Sternenmasse.» Je geringer die Dichte der Sterne sei, so Montes, umso besser lasse sich der Einfluss der Dunklen Materie deuten, da die sichtbare Materie sich nicht auf die Form und das Verhalten der Galaxie auswirke.
Um sich ihre Form zu erklären, fütterte das Team um Montes seine Computer daher mit den Daten von Nube. In einer ersten Simulation verwendete die Gruppe dabei sogenannte Kalte Dunkle Materie. In diesem theoretischen Modell nehmen Physiker an, dass die Teilchen der Dunklen Materie zwar sehr schwer sein müssen, um die entsprechende Schwerkraft zu erzeugen. Gleichzeitig muss sie aber eiskalt sein, um für menschliche Messinstrumente unsichtbar zu bleiben. Wäre sie warm, würde sie Strahlung aussenden, die messbar wäre.
Widerspruch zum üblichen Modell Dunkler Materie
Dabei stellte sich jedoch heraus, dass sich Nube mit diesem herkömmlichen Modell nicht erklären liess. Heraus kamen virtuelle Galaxien, die zwar ihrer Form ähnelten, aber deutlich zu klein waren. Den üblichen Modellen zufolge ballt sich die Dunkle Materie einer Galaxie in ihrem Zentrum, während ihre Dichte nach aussen schnell stark abnimmt. Bei Nube hingegen verteilt sie sich auch im Kern relativ gleichförmig, was sich aber nicht mit dem theoretischen Verhalten der Kalten Dunklen Materie in Übereinstimmung bringen lässt.
Daher veränderten Montes und ihre Kollegen eine fundamentale Eigenschaft der Dunklen Materie, die vielleicht wichtigste Grösse in solchen Simulationen. Statt Kalter Dunkler Materie bildeten sie Galaxien am Computer mit «Fuzzy Dark Matter», diffuser Dunkler Materie. In diesem theoretischen Modell weisen die Teilchen der Dunklen Materie völlig andere Eigenschaften auf und sind in Galaxie-Kernen weit zerstreut. Tatsächlich konnten die Autoren damit Nube-ähnliche Galaxien erzeugen, die schliesslich die richtige Grösse aufwiesen. «Ihre extremen Eigenschaften können wir also nur mit anderen Dunkle-Materie-Modellen als den herkömmlichen erklären», fasst Monte ihre Ergebnisse zusammen.
Ist diffuse Dunkle Materie ein Irrweg?
Burkert hingegen, selbst Spezialist für astrophysikalische Simulationen, hält diffuse Dunkle Materie für einen Irrweg, um die Form von Nube zu erklären. «Die Schlussfolgerung, dass es sich um Fuzzy Dark Matter handelt, ist falsch», so Burkert. Für eine einzelne Galaxie lasse sich die Masse der Dunklen Materie vielleicht so festlegen, aber dann passe es nicht für andere Galaxien. «Wenn jede Galaxie ihre eigene Dark-Matter-Masse haben muss, ergibt es jedoch keinen Sinn.»
Auch Montes ist klar, dass ihre Simulationen mit Fehlern behaftet ist und weitere Arbeit nötig ist, um Dunkle Materie und damit auch Dunkle Galaxien zu verstehen. Für Burkert sind sie sogar eine einmalige Chance für die Wissenschaft. «Für Standardgalaxien sind unsere Modelle schon so fein austariert, dass sie immer passen. Was aber nicht bedeutet, dass sie die Wirklichkeit exakt abbilden», sagt Burkert. «Erst wenn unsere Modelle bei einer Galaxie versagen, erkennen wir, dass wir zu viele Annahmen gemacht haben und sie nicht wirklich verstehen. Von diesen Exoten lernen wir daher am meisten über Physik.»
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