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Interview mit Lukaschenko-Kritiker
«Es wäre seltsam, jetzt zu verstummen, wo mein Vater im Gefängnis sitzt»

Sasha Filipenko
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Sasha Filipenko, am 9. November drangen weissrussische Polizisten mit automatischen Waffen in die Wohnung Ihrer Eltern in Minsk ein und haben Ihren Vater als Geisel genommen. Was ist unterdessen passiert?

Bewaffnete Männer stürmten die Wohnung. Meine Eltern mussten sich auf den Boden legen und wurden mit Handschellen gefesselt. Mein Vater ist 62, meine Mutter 60 – diese Brutalität war natürlich überzogen, weil sie sich ja gegen acht bewaffnete Männer ohnehin nicht hätten wehren können. Ein paar Stunden lang durchsuchten sie die Wohnung, dann nahmen sie meinen Vater mit und sagten zu meiner Mutter: Bedanken Sie sich bei Ihrem Sohn. Bis zum nächsten Tag hörten wir nichts von meinem Vater, erst nach 24 Stunden erfuhren wir, dass er sich im berühmt-berüchtigten Okrestino-Gefängnis befindet.

Die Wohnung wurde verwüstet und elektronische Geräte und Datenträger beschlagnahmt. Stehen Sie in Kontakt mit Ihrer Mutter?

Das Erste war, dass mich die Nachbarn anriefen und erzählten, dass mein Vater abgeführt wurde. Meine Mutter konnte ja nicht anrufen, weil alle Geräte beschlagnahmt worden waren. Wir hielten entweder über die Nachbarn oder über meine Grossmutter Kontakt. Jetzt hat sie ein neues Telefon, aber wir sehen auch ihre alte Nummer von dem Handy, das der Sicherheitsdienst mitgenommen hat, mit Status «online» im Netz.

Und welche Informationen bekommt Ihre Familie über den Zustand Ihres Vaters?

Zu meinem Vater gibt es keinen Kontakt. Nur einmal rief uns ein Mann an, der mit ihm zusammen in der Zelle gesessen hatte und schon raus war. Er sagte, dass mein Vater sehr tapfer sei, dass er seine Zellengenossen aufheitere, immer zum Scherzen aufgelegt und allen seinen Mithäftlingen eine Stütze sei. Und dass sich mein Vater eher um uns Sorgen mache, wie es uns draussen ergehe. Ich weiss, dass er sehr stolz auf mich ist, und ich bin sehr stolz auf ihn.

Sie kritisieren als Dissident seit langem das Regime des autoritären Präsidenten Alexander Lukaschenko. Können Sie sich erklären, warum man Ihre Eltern gerade jetzt überfallen hat?

Sie suchen nach einer Logik, wo keine ist. Der Sinn der Repressionen ist, dass sie unlogisch sind. Wenn die Leute wüssten, wann sie wen holen kommen, dann könnten sie sich ja verstecken. Es gibt keine Antwort auf Ihre Frage. Sie konnten einfach mich nicht erwischen und nahmen stattdessen meine Eltern ins Visier.

«Ich habe nur Bücher und Theaterstücke geschrieben und als Journalist gearbeitet – das ist alles.»

Angst und Willkür sind Alltag in Belarus. Aber dass jetzt auch Eltern von Systemkritikern als Geiseln genommen werden, ist eine neue Dimension der Repression, oder?

Das stimmt nicht ganz. Mehrere Verwandte bekannter Weissrussen haben bereits solche Besuche bekommen. Mit ähnlicher Brutalität, nur blieb es meistens bei einer verwüsteten Wohnung. Bisher haben die Lukaschisten in der Regel «Grüsse geschickt», aber keine Eltern als Geiseln genommen. Auch jetzt versuchen wir, abzuschätzen, wie «laut» diese Grüsse noch werden und wie lange sie meinen Vater als Geisel festhalten wollen.

Ist es denkbar, dass man Sie in Minsk gegen Ihren Vater austauscht?

Nein. Wir sprechen hier von Rache und der Lebensrealität in einer Diktatur und nicht von einem Hollywood-Film. Wir wissen ja, wie schnell zu beleidigen Lukaschenko ist.

«Europa hat Belarus längst vergessen.»

2021 sind Sie mit einem Aufenthaltsstipendium in die Schweiz gekommen. Zurück können Sie nicht mehr. Es droht Ihnen eine lange Haftstrafe. Haben Sie Schuldgefühle, weil Ihre Arbeit dieses Leid für alle bringt und Sie als Familie auseinandergerissen wurden?

Nein. Allein die Frage spielt der Diktatur in die Hände. Ich habe in meinem ganzen Leben nie ein Gesetz übertreten. Ich glaube, ich bin nicht mal bei Rot über die Strasse gegangen. Ich habe nur Bücher und Theaterstücke geschrieben und als Journalist gearbeitet – das ist alles. Ich habe keinen Grund, mich schuldig zu fühlen, genau deswegen nehmen sie ja meinen Vater als Geisel. Die wollen, dass ich aufhöre zu schreiben und den Mund halte. Aber es wäre doch erst recht seltsam, gerade jetzt zu verstummen, wo mein Vater im Gefängnis sitzt.

Woraus schöpfen Sie Hoffnung in Ihrem Alltag?

Ich bin mit dieser Situation nicht allein. Eine halbe Million Weissrussen können genau wie ich nicht nach Hause fahren. Über 50’000 Menschen haben Haft und Folter hinter sich. Zigtausende leben genau wie ich mit dem Wissen, dass ihre nahen Angehörigen in Geiselhaft sind. Da geht es nicht darum, Kraft zu schöpfen, sondern es ist eine Frage des Überlebens und der weiteren Suche nach neuen Mitteln im Kampf gegen die Diktatur. Denn Europa hat Belarus längst vergessen.