Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen
Meinung

Kolumne Philipp Loser
Was uns der Frauenstreik lehrt

Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Am Schluss waren es etwas über 30’000 Stimmen. Nur 30’000 mehr für ein Ja. «Hauchdünn» nennt man so ein Resultat in der Politiksprache gerne, und so knapp hatte es tatsächlich kaum jemand erwartet. Vor nicht einmal einem Jahr war das, im September 2022, es ging um die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre. Die bürgerlichen Parteien hatten die AHV-Reform zuvor im Parlament mit einer bequemen Zweidrittelmehrheit durchgebracht. Weil sie sich siegessicher fühlten, verzichteten sie danach (ziemlich nonchalant) darauf, die dafür versprochenen Verbesserungen für die Frauen bei der Pensionskasse noch vor der AHV-Abstimmung zu behandeln.

Stattdessen beschäftigten sich die Chefs der bürgerlichen Parteien und die Chefs der Gewerkschaften während des Abstimmungskampfs mit gegenseitigen Beschuldigungen, wer dreister lüge.

Über die Frauen redete niemand. Während des gesamten Abstimmungskampfs gingen die Befürworter der Reform (stillschweigend) davon aus, dass die Erhöhung des Frauenrentenalters angesichts des Defizits bei der AHV eine Selbstverständlichkeit sei. Sein müsse!

Und dann waren es am Schluss nur 30’000 Stimmen. Sämtliche Nachwahlbefragungen zeigten, dass eine deutliche Mehrheit der Frauen Nein zur Erhöhung des Rentenalters gesagt hatte. Entscheidend für das Ja waren die Männer. Noch nie war der Unterschied zwischen den Geschlechtern bei einer Abstimmung so gross wie bei der AHV 21.

Selten war auch der Unterschied zwischen dem Resultat einer Abstimmung und der vorher veröffentlichten Meinung so extrem gewesen. Niemand hatte das heftige Nein der Frauen kommen sehen.

Berichterstattung und Realität driften also manchmal stark auseinander, das sah man eben erst beim Frauenstreik wieder. Vor dem Streik wurde in der Öffentlichkeit fast ausschliesslich darüber gesprochen, wie gross der Streit zwischen linken und weniger linken Frauen sei. Wie gross der Zwist unter den Veranstaltenden. Wie blöd der neue Name «Feministischer Streik». Wie links die gesamte Veranstaltung. Wie extrem und letztlich auch: wie unnötig.

Seit 1971 habe man das Frauenstimmrecht, sagte der konservative Journalist Markus Somm in seinem Podcast am Tag des Streiks. Seit 1981 stehe auch die Gleichstellung im Gesetz. «Man kann sich auch zu Tode siegen! Es langet! Höret mal uf mit dem Züg!»

Diese Hysterie kontrastierte auf grösstmögliche Art mit der Realität. Es kamen viel mehr Frauen (und Männer), als man nach der Berichterstattung im Vorfeld annehmen durfte. Es war bunt, kraftvoll und eindrücklich.

Der Streik und das Reden über den Streik zeigen auch, dass man vorsichtig sein muss bei der Identifizierung von «Problemen». Offensichtlich gibt es immer noch sehr viele Frauen in der Schweiz, die die Gleichstellung (seit 1981 in der Verfassung!) noch nicht für gegeben halten. Darüber reden möchte die bürgerlich-konservative Mehrheit allerdings nicht. Sie definiert ganz andere «Probleme». Sie regt sich lieber auf über «Klimakleber» vor dem Gotthardtunnel, über den einen (!) Mann, der sich als Frau registrieren lässt, um der Rekrutenschule zu entgehen, über geschlechtsneutrale Toiletten oder universitäre Vorgaben, in Prüfungen eine inklusive Sprache zu verwenden.

Die konservative Mehrheit der Schweiz will selber definieren, was Probleme sind und was nicht. Dabei profitiert sie davon, dass die linke Seite bei identitätspolitischen Fragen (nicht bei der AHV!) immer mal wieder übertreibt.

Doch der Frauenstreik (und auch die Abstimmung über das Rentenalter vor einem Jahr) beweist, dass die politische Mehrheit nicht allmächtig ist. Dass die politische Mehrheit nicht alleine bestimmen kann, über was in der Schweiz geredet wird – und über was nicht.

Philipp Loser ist Redaktor des «Tages-Anzeiger».