Kolumne Philipp LoserWie repressiv darf die Polizei sein?
Die Polizei greift bei Demonstrationen hart durch – beispielsweise in Basel. Und das alles nur, weil Demonstrierende nerven.
Bürgerlichkeit definiert sich nicht nur über individuelle Attribute wie die Position in der Firma, die Höhe des Einkommens, die Wohnsituation oder das Erkennen und adäquate Beachten sozialer Codes.
Bürgerlichkeit definiert sich immer auch darüber, was die Mehrheitsgesellschaft zulässt.
Und was nicht.
Dass es dabei immer auch Verschiebungen gibt, Trends in die eine oder in die andere Richtung, ist logisch. Dass sich die Dinge aber so schnell verschieben wie aktuell in Basel, das ist eher ungewöhnlich.
Alles begann mit dem Aufeinandertreffen von Polizei und zwei Demonstrationen (einer bewilligten von der rechtsextremen Pnos, einer unbewilligten Gegendemonstration von links) im November 2018. Die Situation eskalierte, Leute von der Gegendemo wurden hart bestraft. Später hielt die Aufsichtskommission fest, dass die Staatsanwaltschaft gegen linke Demonstranten härter vorgegangen war als gegen rechte.
Mit den Prozessen rund um die «Nazifrei»-Demo begann in Basel die Konfrontation zwischen jenen, die am liebsten gar keine Kundgebungen mehr in der Stadt hätten, und jenen, die das anders sehen. Verschärft wurde der Konflikt, als im Oktober 2020 die rot-grüne Mehrheit in der Kantonsregierung kippte und die Führung im Justiz- und Sicherheitsdepartement wechselte. Stephanie Eymann von den Basler Liberalen zeigte von Anfang an wenig Scheu, ihre Polizisten hart durchgreifen zu lassen.
Seither findet in Basel-Stadt kaum mehr eine Kundgebung statt, die danach nicht für Wochen besprochen, analysiert und beklagt werden müsste.
Zum Beispiel im März, als die Polizei zum internationalen Frauentag rabiat gegen demonstrierende Frauen vorging. Etwas später traf es die Klimaaktivisten. Und zuletzt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der offiziellen 1.-Mai-Demonstration. Noch bevor etwas passierte, kesselte die Polizei die Demo für Stunden ein.
Es gehe ihr darum, gewisse Leitplanken zu justieren, sagte Stephanie Eymann danach in einem Gespräch mit der «Basler Zeitung»: «Ein bisschen die Schraube anziehen: ja. Damit wir zeigen: Wir akzeptieren nicht alles.»
Eymann erhält für ihren scharfen Kurs viel Zustimmung in der Stadt. Etwas lauter von jenen, die rechts der politischen Mitte stehen, etwas leiser von jenen links davon (SP und Grossbürgertum schliessen sich nicht aus. In Basel umarmen sie sich sogar manchmal).
Das Basler Beispiel ist nicht einzigartig, im Gegenteil. Was in Basel geschieht, scheint Ausdruck eines grösseren Trends: Bitte mehr Repression!
So schaukeln sich etwa in der Romandie aktuell Klimaaktivisten und Vertreter der Justiz gegenseitig hoch: Wer ist noch radikaler? Wer noch extremer? In St. Gallen und Luzern gehen die Behörden mit aller Härte gegen die eigenen Fussballfans vor, und in Deutschland fahren die Behörden mit einer Radikalität bei den Vertretern der Letzten Generation ein, die in ihrer Hilflosigkeit fast schon absurd ist. Konten gesperrt, Hausdurchsuchung mit gezogener Maschinenpistole, der Vorwurf, dass die jungen Aktivisten eine «kriminelle Organisation» bildeten.
Und das alles nur, weil sie nerven. Weil Widerspruch nervt. Weil demonstrierende Frauen den Tramverkehr aufhalten. Weil sich Klimaaktivisten auf die Strasse kleben. Weil junge Linke Schutzbrillen dabeihaben (das war die Begründung für die Einkesselung der Basler 1.-Mai-Demonstration).
Nach den jüngsten Vorkommnissen gab der Basler Strafverteidiger Andreas Noll der «Republik» ein interessantes Interview. Er sagte: «Die bürgerliche Politik – die wirklich herrschende Politik in diesem Land – ist auf Demonstrationen nicht angewiesen. Sie hat die nötigen finanziellen Ressourcen und muss nicht auf der Strasse demonstrieren.»
Also, so folgerte Noll, hat die Mehrheit der Gesellschaft auch kein Bedürfnis, die Minderheit protestieren zu lassen. Traurig und wahr.
Philipp Loser ist Redaktor des «Tages-Anzeiger».
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