Best of Elternfrage: Kindliche LügenWas tun, wenn mein Kind dauernd lügt?
Wie viel Schummelei ist normal? Oder ab wann werden Lügengeschichten von Kindern zu einem Problem? Daniela Melone klärt auf.
Unsere Expertinnen für Elternfragen sind in den Herbstferien. Daher publizieren wir heute eine Frage, die besonders viel zu reden gab – und erstmals am 5. November 2021 publiziert wurde.
Ich bin mir total bewusst, dass Kinder sich ab und zu durch ihren Alltag schummeln. Und manchmal gehören dazu auch Lügen, wie: Ich habe die Zähne geputzt, die Schokolade nicht aus dem Schrank genommen etc. Aber in den vergangenen Wochen habe ich bei unserem Sechsjährigen das Gefühl, dass er sich mehr und mehr in solche Lügengebilde und -geschichten verstrickt. Spreche ich ihn darauf an, reagiert er meist nur wütend und lässt mich stehen. Wie soll ich vorgehen? Leserfrage von Manuela aus Zürich
Liebe Manuela, herzlichen Dank für Ihre Frage. Wir alle können uns wahrscheinlich noch lebhaft an eigene, ähnliche Situationen aus unserer Kindheit erinnern. Und daran, wie wir uns beim Schummeln gefühlt haben. An das Gefühl, ertappt wordem zu sein, und mit etwas konfrontiert zu werden, von dem wir wissen, dass wir es nicht hätten tun sollen. Daran, dass wir nicht die Wahrheit gesagt haben – und zu ahnen, dass unsere Eltern das genau wussten.
Für die Schummeleien Ihres Sechsjährigen haben Sie zu Recht Verständnis – in diesem Alter ist das nichts Aussergewöhnliches. Warum das so ist, möchte ich anhand verschiedener Entwicklungsaspekte verdeutlichen.
Verhaltenskontrolle will gelernt sein
Damit ein Kind eine «gluschtige» Schokolade nicht einfach aus dem Schrank nimmt, braucht es die Fähigkeit, sich selbst bzw. sein Verhalten regulieren und kontrollieren zu können. Babys und Kleinkinder benötigen dafür noch die Unterstützung einer Bezugsperson als «Co-Regulator». Zwischen dem dritten und dem siebten Lebensjahr lernen die Kinder kontinuierlich, ihre Emotionen zu regulieren und das eigene Verhalten an äussere Gegebenheiten anzupassen.
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, Wünsche, Emotionen, Absichten, Überzeugungen und Ähnliches in sich selbst und anderen Menschen zu erkennen. Diese sogenannte «Theory of Mind» entwickelt sich mit ungefähr drei bis fünf Jahren und ist die Grundlage von sozialem Verhalten. Diese Fähigkeit lässt Kinder, die innere von der äusseren Welt abgrenzen und ermöglicht dadurch auch das Erzählen von Unwahrheiten. Das ist spannend und gilt es in verschiedensten Situationen auszuprobieren. Im Alter von ungefähr sechs Jahren entdecken Kinder, dass sie ein «so tun als ob» befähigt, zu täuschen und dies vielleicht sogar geschickt einsetzen können, um etwas zu erreichen. Jedoch können sie erst später, mit sieben bis acht Jahren, Schlussfolgerungen in Bezug auf die Unwahrheiten anstellen.
Zum Zeitpunkt der Einschulung verfügen Kinder über unterschiedliche Entwicklungsvoraussetzungen in Bezug auf Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstregulation, schreibt die Naturwissenschaftlerin Antje von Suchodoletz in ihrer Dissertation. Temperament, Umwelt und die jeweils konkreten Situationen spielen eine grosse Rolle.
Kindern im Alter Ihres Sohnes geht es also nicht darum, jemandem zu belügen, zu schaden oder zu verletzen. Meist steht die Angst vor negativen Konsequenzen wie Bestrafung oder Liebesverlust im Zentrum – oder aber auch, das Gefühl sich besser zu fühlen, wegen eines schlechten Gewissens.
Kindliche Entwicklung und gesellschaftliche Normen
Die Theorien rund um das Thema sind komplex und für Eltern entsprechend schwer einzuordnen. Sehr anschaulich wird das Thema auch im Podcast «Familienbande» besprochen – allerdings ist das erwähnte Kind etwas jünger und die sogenannte «magische Phase» spielt noch eine Rolle.
Das Verhalten Ihres Sohnes erscheint mir durchaus altersspezifisch, auch die Zunahme und die Verstrickungen der Unwahrheiten lassen sich damit erklären. Sie verdeutlichen einen wichtigen Entwicklungsschritt Ihres Sohnes: Er probiert sich aus und testet wohl auch Grenzen, um herauszufinden, wie weit er gehen kann. Als Mutter sind Sie herausgefordert, diese Entwicklung einerseits zu gewähren und anderseits gesellschaftlichen Normen und Werthaltungen mit ihrer Erziehung zu vermitteln.
Von Scham und Schuld
Im Alltag können Sie die Selbstregulation Ihres Sohnes unterstützen, indem Sie Situationen hervorheben, in denen er nicht einem Impuls nachgibt, sondern diesen überwindet. Zum Beispiel, wenn er viel zu müde ist zum Zähneputzen, es aber trotzdem macht. Das Erkennen seiner Leistung motiviert dazu, diese zu wiederholen. Besprechen Sie mit ihm seine Erfolgsbeispiele und Herausforderungen. Erzählen Sie ihm auch von eigenen Situationen, in denen Sie es zum Beispiel geschafft haben, einem «Glusch» nicht nachzugeben. So kann er von Ihnen lernen.
Dass Ihr Sohn wütend wird, wenn Sie ihn auf sein Flunkern ansprechen, ist verständlich. Schliesslich wird er «blossgestellt» – deswegen ist es auch wichtig, auf welche Art Sie ihn ansprechen. Es entstehen Schamgefühle in Zusammenhang mit empfundener Schuld. «Es ist das Gefühl von Angst und Schmerz, das man empfindet, wenn man sich in irgendeiner Art von Schwäche, von Versagen oder Beschmutzung den Blicken eines anderen (oder dem ‹inneren› Auge des eigenen Gewissens) preisgegeben sieht und die Antwort in Form von Missachtung, Entwertung oder Hohn erwartet oder fühlt», sagte der Zürcher Psychiater Léon Wurmser und verdeutlicht damit die Dimension der Gefühlslage. Eine Konfrontation bewirkt zudem nicht, dass Kinder in Zukunft weniger flunkern, sondern führt sogar zum Gegenteil.
Bedingungslose Liebe statt Moralpredigt
Auch Moralpredigten oder Bestrafungen erscheinen aufgrund des Entwicklungsstandes inadäquat. Stattdessen können Sie Ihrem Sohn sinngemäss sagen: «Mmh, das sehe ich anders. Wir werden ein anderes Mal darüber sprechen, jetzt sind wir alle etwas zu aufgeregt.» So können Sie in einem geeigneten Moment auf die Angelegenheit zurückkommen und sich überlegen, wie Sie das Gespräch (pädagogisch) aufgleisen. Es kann etwa hilfreich sein, den Wert der Wahrheit zu fokussieren und zu betonen, wie wichtig es ist, ehrlich miteinander zu sein.
Sie können Verständnis dafür zeigen, dass Zähneputzen manchmal wirklich mühsam und die Schokolade im Küchenschrank sehr verlockend ist. Und Sie verstehen, dass er das nicht immer gut kann, ihm aber dabei helfen, es zu lernen. Fragen Sie auch nach, wozu er geflunkert hat und welche Bedürfnisse damit verbunden sind. Sie können ihm davon erzählen, was es mit Ihnen macht, wenn er schummelt und wie froh Sie sind, wenn er ehrlich sein kann.
Für Sie ist es selbstverständlich: Sie lieben Ihren Sohn auch, wenn er schwindelt. Manche Kinder sind sich dessen in solchen Situationen jedoch nicht mehr so sicher, insbesondere wenn sie sich schuldig fühlen und sich schämen. Deshalb brauchen sie in solchen Momenten ganz besonders das Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute!
Liebe Leserinnen und Leser, Freitag ist Fragetag! Jede Woche beantwortet eine Expertin oder ein Experte im Mamablog eine Elternfrage zu Themen wie Erziehung, Gesundheit oder Medienkonsum. Ihre Fragen nehmen wir gerne unter blogs@tamedia.ch entgegen.
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