Leitartikel zur GleichstellungspolitikWas Familien wirklich wollen – und warum sie es oft nicht bekommen
Theoretisch haben wir in der Schweiz die Wahl zwischen unzähligen Lebensentwürfen. In der Praxis sieht die Sache etwas anders aus. Es ist an der Zeit, dies zu ändern.
Was tun Sie eigentlich an diesem Auffahrtswochenende – und warum?
Nehmen wir an, Sie gehen mit der Schwiegermutter brunchen, später eine Runde joggen und beantworten zwischendurch noch ein paar liegen gebliebene Geschäftsmails.
Dann denken Sie kurz darüber nach: Wollen Sie das – wirklich? Gut möglich, dass dem so ist.
Vielleicht wissen Sie aber auch einfach, dass Ihr Partner oder Ihre Partnerin erwartet, dass Sie am Brunch teilnehmen. Möglicherweise haben Sie mit Schrecken festgestellt, dass die Badisaison vor der Tür steht. Und Sie wissen mit hoher Sicherheit, dass es eine schlechte Falle macht, wenn der Chef erst am Montag eine Antwort erhält.
Das einfache Beispiel verdeutlicht, wie soziale und andere Zwänge unseren Alltag prägen können. Ungleich komplizierter wird es, wenn es nicht nur um die Pläne vom Wochenende geht, sondern um die Organisation sämtlicher Lebensbereiche.
Weder Frauen noch Männer beschliessen im luftleeren Raum, wie hochprozentig sie arbeiten.
Die Schweiz hat jüngst aufgrund einer Studie emotional darüber diskutiert, was Frauen – respektive Männer – wirklich wollen. Entspricht es der weiblichen Natur, beim Nachwuchs bleiben zu wollen? Oder würden die meisten Menschen Karriere machen, wenn es die Rahmenbedingungen nur zuliessen?
Eine einfache Antwort gibt es nicht. Was in der Debatte aber zu kurz kommt, ist die Feststellung: Weder Frauen noch Männer beschliessen im luftleeren Raum, wie hochprozentig und auf welcher Stufe der Karriereleiter sie arbeiten wollen. Politische, wirtschaftliche, soziale und private Leitplanken verengen den Entscheidungskorridor – insbesondere, wenn Kinder ins Spiel kommen.
Ein paar Fragen, die sich werdende Mütter oder Väter möglicherweise stellen:
Bin ich bereit, monatlich Tausende von Franken für einen Kita-Platz auszugeben? Und wenn nein: Welche Nachteile resultieren, wenn ich es nicht tue?
Sind die Pläne und Optionen meines Partners oder meiner Partnerin mit den meinen vereinbar? Wenn nein: Wer steckt zurück?
Ist es mir wichtig, dass die ganze Familie gemeinsam zu Abend essen kann? Wenn ja: Ist das mit meinem Jobprofil und Arbeitsweg vereinbar?
Lässt sich mit unseren Wunschpensen ein vernünftiger Lebensstil finanzieren? Wenn nein: Müssen wir unsere Wunschpensen oder unseren Lebensstil überdenken?
Ist es mir unangenehm, wenn die Leute darüber reden, wie viel oder wie wenig ich arbeite? Falls ja: Warum eigentlich?
Es sollte im Interesse einer freien Gesellschaft sein, ein Umfeld zu schaffen, in dem nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch vielfältige Antworten möglich sind. Tatsache ist aber: Das Spektrum der realistischen Antworten ist in der Schweiz relativ eng – enger als anderswo.
Wenn die Regelarbeitszeit 8,5 Stunden pro Tag beträgt und Überstunden gern gesehen sind, ist es schwieriger, sich zum gemeinsamen Familienznacht zu treffen, als wenn eher 7 Stunden die Norm sind.
Wenn ein Kinderbetreuungsplatz das Familienbudget mit einem vierstelligen Betrag belastet, hat das einen grösseren Einfluss, als wenn es ein paar Hundert Franken sind.
Wenn sich das Ideal der Hausfrau in einem Land über Generationen gehalten hat, formt dies die Strukturen und das Denken anders als in Staaten, in denen die Erwerbsarbeit traditionell egalitärer verteilt ist.
Wer sich anders entscheidet, zahlt unter Umständen einen hohen Preis.
Natürlich ist es mit dem nötigen Willen und Mut möglich, aus den Leitplanken auszubrechen. Der Punkt ist jedoch: Es ist am rationalsten, dies nicht zu tun. Die Widerstände sind für eine Frau am kleinsten, wenn sie sich einen Job sucht, der auch in Teilzeit funktioniert und einigermassen geregelte Arbeitszeiten bietet. Und für einen Mann, wenn er einen Beruf auswählt, mit dem er der Ernährerrolle gerecht werden kann.
Wer sich für ein anderes Modell entscheidet, zahlt unter Umständen einen Preis. Indem die Zeit mit den Kindern knapp ist. Indem die Verwandtschaft die Nase rümpft. Indem das Familienbudget leidet.
Dass nur die wenigsten Frauen mit Kleinkindern Vollzeit arbeiten wollen, hat aber auch andere Gründe. Der Wunsch nach einer guten Work-Life-Balance ist längst nicht mehr nur ein Spleen der Generation Y, sondern geniesst in vielen Altersgruppen eine hohe Priorität.
Paare haben in der Tendenz weniger Kinder als früher und machen den Schritt der Familiengründung bewusster. Mit der Folge, dass Eltern hohe Ansprüche an sich haben und im Leben ihrer Kinder präsent sein wollen.
Zu verlangen, dass das politische und gesellschaftliche System all diese Facetten berücksichtigt, mag vermessen sein. Wichtig ist jedoch, dass uns bewusst ist, dass Kinder nie reine Privatsache sind. Dass es Leitplanken gibt, in deren Rahmen wir unsere Betreuungsmodelle auswählen – und dass wir die Macht haben, sie zu verschieben. Sei es, in dem wir eine Arbeitskultur einfordern, in der die Präsenzzeit nicht die harte Währung ist. Oder indem wir uns politisch dafür einsetzen, dass auch Teilzeitarbeitende eine Altersvorsorge haben, die diesen Namen verdient.
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