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Externe Betreuung in der Schweiz
Armutsbetroffene Kinder bleiben den Kitas fern

Kinder von schlecht verdienenden Müttern ohne Hochschulabschluss besuchen nur halb so oft eine Kita wie Kinder von Hochschulabsolventinnen.
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Der Vater arbeitet Vollzeit, die Mutter Teilzeit. Sie putzt und kocht, er bezahlt die Steuern und repariert den verstopften Abfluss. Das ist immer noch das dominierende Familienmodell in der Schweiz – laut Bundesamt für Statistik trifft dies auf über 70 Prozent aller Paare mit Kindern zu.

Wie viel eine Mutter arbeitet, hängt oft davon ab, ob sie für den Nachwuchs einen bezahlbaren Betreuungsplatz findet. Rund ein Drittel aller Familien in der Schweiz schickt Kinder in eine Kita.

Ob ein Kind eine Betreuungsstätte besucht, hängt allerdings massgeblich vom sozialen Milieu ab, in das es hineingeboren wird. Gemäss einer Anfang Woche erschienenen Publikation der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF) bleiben Kinder aus Tieflohnfamilien oder mit Migrationshintergrund den Kitas fern – obwohl gerade sie am stärksten davon profitieren würden.

Den sozialen Problemen zu Hause entkommen

Kinder von Müttern mit Lehrabschluss und mit geringem Einkommen besuchen nur halb so oft eine Kita wie Kinder von Müttern mit Hochschulabschluss. Auch sei die Wahrscheinlichkeit, in einer Kita betreut zu werden, für ein Kind mit türkischer oder balkanischer Staatsangehörigkeit nur halb so gross wie die eines Schweizer Kindes.

Die älteste im Bericht zitierte Studie für die Schweiz ist zehn Jahre alt. An den Ergebnissen habe sich kaum etwas geändert, wie die jüngsten Daten des Bundesamts für Statistik nahelegten. Das sagt Giuliano Bonoli, Professor für Sozialpolitik an der Universität Lausanne. Bonoli hat die Publikation im Auftrag der EKFF zusammen mit der Neuenburger Stadträtin Nicole Baur (Grüne) verfasst.

Würden Kinder aus einkommensschwächeren und bildungsferneren Familien eine Kita besuchen, könnten sie in mehrfacher Hinsicht profitieren: Ausländische Kinder könnten ihre Sprachkenntnisse verbessern und von pädagogisch durchdachten Spielen lernen.

Annika Butters vom Marie-Meierhofer-Institut für das Kind (MMI) nennt weitere Vorteile: «In einer guten Kita können Kinder den sozialen Problemen zu Hause tagsüber entkommen.» Kinder und auch ihre Eltern würden früh die lokalen Gepflogenheiten kennen lernen. «Zu wissen, was ein Znüni und ein Zvieri ist, hilft auch den Eltern bei der Einschulung ihres Kindes», sagt Butters. Das gelte aber nur, wenn die Qualität der Kita gewährleistet sei.

Mehr Plätze zu tieferen Kosten gefordert

Warum schicken genau diese Eltern ihren Nachwuchs weniger in Kitas? Gemäss Baur und Bonoli arbeiten sie weniger oder im Schichtbetrieb. Die Arbeitszeiten decken sich nicht mit den Kita-Öffnungszeiten. Diese orientieren sich an Bürozeiten. Zudem seien die Kita-Plätze zu teuer – auch wenn die Kosten proportional zum elterlichen Einkommen ausfielen. Und drittens gebe es besonders in ländlichen Regionen zu wenige subventionierte Plätze.

Die Lösung sehen die Studienautoren in einer deutlichen Erhöhung der Kita-Plätze bei gleichzeitig tieferen Kosten für die Eltern.

Andrea Lanfranchi, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, publizierte vor 20 Jahren ähnliche Forschungsergebnisse wie das EKFF. «Der Bund muss mehr Verantwortung übernehmen, denn auf viele Kantone ist kein Verlass», sagt er heute.

Auch Annika Butters vom MMI kritisiert fehlende Koordination zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden. «Momentan behandeln wir das Thema der frühkindlichen Bildung wie ein Projekt.» Die Politik muss die Bedeutung für das Kind und die Gesellschaft einsehen: «Was in den ersten vier Jahren der Kindheit passiert, prägt das ganze Leben.»

Neben mehr Kita-Plätzen müssten vor allem Investitionen in die Qualität getätigt werden. Nur so könnten benachteiligte Kinder profitieren. Lanfranchi fordert deshalb mehr qualifiziertes Personal und regelmässige Aufsichtsbesuche. Auch die interkulturelle Kompetenz der Betreuungspersonen müsse geschult werden, um die Zusammenarbeit der Kita-Leiterinnen mit den Eltern zu verbessern.

Butters präzisiert: In der Schweiz könne eine Praktikantin mit einer ausgebildeten Betreuerin zusammen acht Säuglinge betreuen. «Das ist viel zu viel. Es brauche auf gesetzlicher Ebene strikte Vorgaben zum Qualitätsmanagement.» Betreuungspersonen brauchten auch Zeit, um Kinderbeobachtungen auszuwerten und für das Planen und Vorbereiten. «Mit vier Säuglingen auf dem Arm funktioniert das nicht», sagt Butters.

Privatsache oder Staatsaufgabe?

Heute seien die Kitas vom Mittelstand geprägt, sagt SP-Nationalrätin Min Li Marti. «Gutverdienende leisten sich eine Nanny. Schlechtverdienende greifen eher auf Verwandte zurück, im schlimmsten Fall sind die Kinder kaum betreut.» Auch sei bei vielen Familien die Kita fälschlicherweise noch mit Vorurteilen verbunden. Viele würden gar Mitleid mit Kindern haben, die in die Kita müssten, sagt Marti.

Mitte Juni hat sie im Nationalrat eine Motion eingereicht, die den Bundesrat auffordert, gesetzliche Grundlagen zu schaffen, damit die Kosten für die externe Kinderbetreuung die Haushaltsbudgets nicht mit mehr als 10 Prozent belasten. Ähnliche Vorstösse scheiterten zuvor oft im Ständerat und an den bürgerlichen Stimmen. «In der Schweiz wird frühkindliche Bildung als Privatsache wahrgenommen. Das ist eine verpasste Chance», sagt Marti.

Für SVP-Nationalrätin Verena Herzog hingegen wird das Thema zu stark politisiert. Kinderbetreuung sei nicht Staatsaufgabe, sagt sie: «Wenn Bedarf da ist, muss vor Ort in den Gemeinden und Städten investiert werden.» Auch könnten Arbeitgeber mehr in die Verantwortung genommen werden, um Krippenplätze zu schaffen. Zudem müssten Eltern aus ärmeren Familien richtigerweise schon heute weniger für ihren Krippenplatz bezahlen. Gewisse ausländische Familien würden ihre Kinder selbst dann nicht in die Kitas schicken, wenn diese gratis wären, sagt Herzog. Zwingen könne man niemanden.

Demnächst wird im Parlament entschieden, wie die Bedingungen für die externe Kinderbetreuung verbessert werden können. Der Ständerat stimmt in der kommenden Herbstsession ab, ob die Anschubfinanzierung, welche neu eröffnete Einrichtungen in den ersten Jahren unterstützt, in eine stetige Unterstützung überführt werden soll. Gefördert werden soll die externe Kinderbetreuung auch mit einer Erhöhung des Steuerabzugs. Nach dem Nationalrat sprach sich Anfang Juli auch die Wirtschaftskommission des Ständerats für höhere Abzüge aus – von heute 10’100 auf 25’000 Franken.