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Arbeitsbedingungen für Ärztin
Im Schweizer Spital stiess sie an Grenzen – Auswandern brachte die Erlösung

Eine Rückkehr in die Schweiz kann sie sich nicht mehr vorstellen: Ursina Battaglia vor dem Kinderspital Stockholm.
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Dieser Text erschien erstmals am 26. April 2023.

Ursina  Battaglia wollte eigentlich nur ein Jahr in Schweden bleiben, höchstens zwei. Die Bündner Kinderärztin zog 2015 mit ihrer Familie nach Stockholm – und ist seither nicht wieder in die Schweiz zurückgekehrt. «Wir haben wirklich keinen Grund dazu», sagt sie. Seit siebeneinhalb Jahren arbeitet sie nun auf der grössten Kinder-Notfallstation des Landes. «Die Arbeitsbedingungen sind grossartig. Es passt einfach alles für mich. Für uns.»

Einst war Ursina Battaglia Oberärztin auf dem Notfall des Kinderspitals in Zürich – und liebte ihren Job, wie sie sagt. Aber er erschöpfte sie auch. Da waren die vielen Überstunden, die sie kaum kompensieren konnte. Die häufigen Dienste in der Nacht und am Wochenende. Und wenn die kleinen Patienten dann endlich alle behandelt waren, musste sie auch noch Berichte schreiben. 

Nach der Geburt ihrer ersten Tochter Paula reduzierte Ursina Battaglia auf 60 Prozent. Ab dann war die Kinderärztin nicht mehr an allen Sitzungen dabei, was ihr bald das Gefühl gab, kein vollwertiges Teammitglied zu sein. «Ich hatte den Teilzeitstempel», wie sie sagt. Doch gleichzeitig arbeitete Battaglia immer noch sehr viel. Jedenfalls nur leicht weniger als heute in Schweden – wo sie ein 100-Prozent-Pensum hat.

«Ich arbeite auf dem Papier viel mehr als früher und bin trotzdem viel entspannter», sagt Battaglia und lacht. «Wir alle am Spital arbeiten Vollzeit. Die meisten Schwedinnen und Schweden machen das – auch wenn sie Kinder haben.» Sie lacht erneut und fragt: «Das ist in der Schweiz fast undenkbar, gerade für Frauen, nicht wahr?»

«Immense Unterschiede sind traurig»

Ursina Battaglia hat sich bei der Journalistin gemeldet, als diese Anfang Jahr in dieser Zeitung über Schweizer Ärztinnen und Ärzte schrieb, die aus ihrem Beruf ausstiegen. Weil sie nicht mehr konnten oder wollten. Oder beides. Sie gaben ihren Beruf auf, weil sie im Klinikalltag permanent unter Druck waren und Dinge erledigen mussten, für die sie noch nicht ausgebildet waren. Weil sie viel mehr Zeit am Computer als mit den Patientinnen verbrachten. Überstunden anhäuften – und schliesslich ausbrannten. Dabei würden die Aussteigerinnen und Aussteiger im Beruf dringend gebraucht. 

«Mit Bestürzung habe ich Ihren Artikel über die Situation der Ärzte in der Schweiz gelesen», schrieb Ursina Battaglia nach der Publikation aus Schweden. Sie habe selbst zehn Jahre am Kinderspital in Zürich gearbeitet, zuerst als Assistenzärztin, dann als Oberärztin. Seit ihrem Umzug nach Stockholm sei sie am grössten Universitätsspital des Landes tätig – und könne sich eine Rückkehr in die Schweiz nicht mehr vorstellen. «Die immensen Unterschiede zwischen den Arbeitsbedingungen für Ärztinnen sind traurig», sagt Battaglia ein paar Wochen später in einem Videogespräch. Die 45-Jährige lebt mit ihrem Mann und den mittlerweile drei Kindern in Stockholm in der Nähe des Meeres, sie hat an dem Tag Spätdienst und deshalb Zeit zum Reden. Ihr Jüngster ist mittlerweile fünf Jahre alt – er ist in Schweden zur Welt gekommen.

«Es ist sehr anders, hier Kinderärztin zu sein – mal abgesehen von den Krankheitsbildern, die natürlich dieselben sind wie in der Schweiz», sagt sie. «Das Interessante: Ich fühle mich heute als Ärztin viel kompetenter – und habe erst noch viel Zeit neben der Arbeit.» Sie sagt auch: «Es klingt schlimm, ist aber wahr: In der Schweiz hätten wir Fionn nicht bekommen. Es wäre bei unseren zwei Töchtern geblieben.» 

Ursina Battaglia mit ihrem Mann Dumeni und den Kindern Paula (10), Alma (8) und Fionn (5) in ihrem geliebten Schweden.

Überstunden fallen kaum je an

Wenn Ursina Battaglia erklärt, was alles anders ist als Ärztin in Schweden, muss sie weit ausholen. Denn es sei, sagt sie, wirklich ziemlich viel. Und einiges hängt nicht unbedingt mit dem Spitalwesen, sondern in erster Linie mit der schwedischen Gesellschaft, den schwedischen Werten, dem schwedischen System zusammen. 

Angefangen bei der Medizin. Die gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit für Ärztinnen und Ärzte liegt in der Schweiz bei 50 Wochenstunden. Doch viele arbeiten 55, 60 oder noch mehr Stunden – und das regelmässig und ohne Möglichkeit auf zeitliche oder finanzielle Kompensation. Bereits in den Dienstplänen wird die maximal zulässige Arbeitszeit gerne überschritten, und gerade Assistenzärzte werden mitunter angehalten, tatsächlich geleistete Stunden nicht zu erfassen. Das wäre laut Ursina Battaglia in Stockholm undenkbar. Hat sie Frühdienst, ist dieser laut Plan um 16.30 Uhr zu Ende, doch die letzten eineinhalb Stunden, die für administrative Belange reserviert seien, könne sie nach eigenem Gutdünken auch zu Hause erledigen. Alle können das – und machen es auch. Überstunden fallen kaum je an.

«Normalerweise fange ich um 7.30 Uhr an und verlasse das Spital um 15.30, spätestens 16 Uhr, um die Kinder abzuholen. Wenn es denn mal vorkommt, dass ich länger bleiben muss, wird sehr grosszügig kompensiert.» Einsätze im Spätdienst (höchstens einmal pro Woche) und am Wochenende (ein Tag pro Monat) sowie sogenannte Nachtwochen (sechsmal pro Jahr) würden sogar «deutlich mehr kompensiert als in der Schweiz». So komme sie auf rund zwölf Wochen Ferien pro Jahr – regulär hat Battaglia sechs Wochen. 

Alle machen pünktlich Feierabend – auch die Chefin

Noch immer beeindruckt die Schweizerin, was passiert, wenn sich eine Schicht auf der Notfallstation zu Ende neigt: Es gehen alle – auch die Chefin – pünktlich nach Hause. Oder wenn sie Kinder haben: in die Krippe. Das Arbeitsleben richtet sich nach der Familie – und nicht umgekehrt. Ursina Battaglia formuliert es so: «Ich hatte in der Schweiz nicht das Gefühl, total am Anschlag zu sein – es war einfach ein Spagat.» Spital und Kinder, Kinder und Spital – «die Tage waren lang, und ich war immer die Teilzeiterin. Das kennen die Männer in der Schweiz weniger.» 

«Eine Familie mit drei Kindern und ein anspruchsvoller Job sind in Schweden ohne Probleme kombinierbar»: Die Battaglias vor ihrem Haus in Stockholm.

In Schweden ist auch ihr Ehemann, der für Coca-Cola arbeitet, früher zu Hause. In seinen ersten Monaten in der Firma sei er einmal bis 19 Uhr geblieben, um eine Arbeit fertig zu machen – und nicht mehr aus dem Gebäude gekommen, weil bereits alles verschlossen gewesen sei, erzählt Battaglia. «Es kommt hier schlicht niemandem in den Sinn, so lange im Büro zu bleiben. Wenn der normale Arbeitstag zu Ende ist, geht man nach Hause. Ist noch etwas zu tun, macht man das, wenn die Kinder im Bett sind.» 

Die Bürokratie ist ein anderer Grund, warum Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz aus ihrem Beruf aussteigen. Viele von ihnen betonten im Gespräch mit dieser Redaktion, wie belastend es für sie sei, nach langen Arbeitstagen noch mehrere Stunden mit dem Schreiben von Berichten zu verbringen. Auch Ursina Battaglia hängte während ihrer Zeit als Assistenzärztin in Zürich nach zwölf Patienten des Öfteren noch zwei Stunden Büroarbeit an. Heute diktiert sie ihre Berichte, und zwar rund um die Uhr, auch nachts und am Wochenende. «So bin ich viel effizienter. Ich kann Berichte sogar priorisieren: Geht es etwa um eine stationäre Aufnahme, ziehen unsere Sekretärinnen die entsprechenden Berichte vor.» Auch die Hierarchien seien in Schweden viel flacher. Dasselbe mit der Pflege: «Sie ist viel integrierter als in der Schweiz. Ärzteschaft und Pflege arbeiten eng zusammen, wir sind ein Team – das finde ich sehr cool.»

«Durch und durch familienfreundlich»

Was Battaglia beschreibt und auch selbst mehrfach sagt: «Eine Familie mit drei Kindern und ein anspruchsvoller Job sind in Schweden ohne Probleme kombinierbar.» Die Einstellung der Politik und der gesamten Gesellschaft sei «durch und durch familienfreundlich». Die kostenlose Kinderbetreuung wird durch die Steuern bezahlt und ist so für alle zugänglich. 

Nach der Geburt eines Kindes erhalten die Familien Elternurlaub – zusammen sind es 480 Tage, wovon jeweils 90 Tage jedem Elternteil einzeln vorbehalten sind. Beziehen kann man die Tage, bis das Kind 12 Jahre alt ist. «Das hat zur Folge, dass Väter im Alltag der Kinder viel präsenter sind», sagt Ursina Battaglia. «Das sehe ich auch bei uns im Notfall: Es kommen tagsüber sehr viel mehr Väter als in der Schweiz.» Viele beziehen die Elterntage zudem für Ferien. Das schwedische Urlaubsgesetz sieht vor, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sommer vier zusammenhängende Ferienwochen nehmen dürfen. 

Alles perfekt also? Für Ursina Battaglia schon – mal abgesehen davon, dass sie ihre Freunde und ihre Familie in der Schweiz vermisst. Und das Team am Kinderspital in Zürich, wo sie sehr gerne arbeitete. «Aber sonst? Meine Work-Life-Balance könnte nicht besser sein.» 

Ursina Battaglia vermisst ihre Freunde und ihre Familie in der Schweiz. Eine Rückkehr kann sie sich trotzdem nicht vorstellen. 

«Patientensicherheit nicht garantiert»

Kinderärztinnen wie Ursina Battaglia in Schweden geht es gut – weitaus schlechtere Arbeitsbedingungen haben hingegen die Pflegenden. Genau wie in der Schweiz ist der Mangel an kompetenten Fachkräften gross, was dazu führt, dass diejenigen, die bleiben, immer mehr leisten müssen – bei zu tiefen Löhnen. Was zu noch mehr Kündigungen führt. Und vor allem: zur Gefährdung von Patienten. Anfang Jahr veröffentlichte die schwedische Aufsichtsbehörde für das Gesundheits- und Sozialwesen (IVO) den ersten Teil einer nationalen Inspektion des Gesundheitswesens, bei der 27 Spitäler in allen 21 Regionen des Landes überprüft worden waren. Die Behörde stellte Mängel in allen untersuchten Institutionen fest, zum Teil sogar schwerwiegende. 

Berichtet wird von 24-Stunden-Wartezeiten, nicht rechtzeitig oder gar nicht verabreichten Medikamenten, medizinischer Überwachung, die nicht bedarfsgerecht erfolge. Die Hälfte der untersuchten Spitäler sei, heisst es im Bericht, jede Woche gezwungen, Menschen aus der Notfallversorgung nach Hause zu schicken, die eigentlich hätten aufgenommen werden müssen. Aufgrund des Pflegenotstands gebe es insgesamt zu wenig Betten – und die Patientensicherheit könne nicht garantiert werden. 

Ursina Battaglia kennt den Untersuchungsbericht – auch ihr eigenes Kinderspital in Stockholm kommt darin vor. «Beanstandet wurden zum einen die langen Wartezeiten bei uns auf dem Notfall», sagt die Schweizerin. «Zum anderen die zu geringe Anzahl Betten auf den Abteilungen – was dazu führt, dass wir weniger Patienten als gewünscht stationär aufnehmen können und sie stattdessen auf dem Notfall weiter behandeln. Das birgt gesundheitliche Risiken.» 

Aus dem Notfall entlassen würden die Kinder nur dann, wenn man es wirklich verantworten könne, sagt Battaglia. Dies sei im Vergleich zur Schweiz häufiger der Fall. «Ich habe noch nie ein Kind nach Hause geschickt, bei dem ich ein schlechtes Gefühl hatte. Doch man traut den Eltern mehr zu. Wenn es nicht geht, kommen sie eben zurück.» Battaglia erzählt von ihrer Schwester, deren Kind in der Schweiz kürzlich für drei Tage hospitalisiert worden sei – «für etwas, das wirklich sehr gut auch zu Hause hätte auskuriert werden können». 

«Fachlich extrem kompetent»

Für eine professionelle Behandlung und Betreuung von Kindern ausserhalb des Spitals sorgen in Schweden vor allem Pflegefachfrauen in spezialisierten Kindergesundheitszentren. Sie kümmern sich um Entwicklungskontrollen und Impfungen. «Sie sind fachlich extrem kompetent», sagt Battaglia. Für Dinge wie Erbrechen oder Fieber gehe man zum Allgemeinmediziner. Eine eigene Kinderärztin habe in Schweden niemand, diese seien Spezialisten und kümmerten sich um Fälle, die weitere – kinderspezifische – Abklärungen bräuchten. Dasselbe vor und nach der Geburt: Die Schwedinnen würden von Hebammen betreut – im Gegensatz zur Schweiz, wo Gynäkologinnen im Bereich der Schwangerschaftsvorsorge eine zentrale Rolle einnehmen. «Die ganzen Kontrollen beim Frauenarzt – da könnte man in der Schweiz viel Geld sparen», sagt Battaglia. 

Wenn Ursina Battaglia nicht arbeitet, verbringt sie viel Zeit zu Hause. Zum Haus der Familie gehört ein Garten, sie joggt gerne das Meer entlang, im Herbst sammelt sie Pilze. Am allerliebsten aber verbringt sie Zeit mit ihrem Mann und den Kindern. «In der Schweiz war es so: Ich hatte zwei Kinder, einen Teilzeitjob und oft ein schlechtes Gewissen. Hier in Schweden habe ich drei Kinder, die ich oft sehe, einen Vollzeitjob, in dem ich mich kompetent fühle – und insgesamt ein sehr erfülltes Leben.»