Krieg in der UkraineEin Vorstoss, der Russland Probleme machen könnte
Ukrainische Soldaten haben den Fluss Dnjepr überquert, das zeigen Geodaten russischer Militärblogger. Das ist noch nicht der ersehnte Grossangriff – und doch eine schlechte Nachricht für Russland.
Der ukrainischen Armee ist möglicherweise bei der Stadt Cherson ein Vorstoss über den Fluss Dnjepr gelungen. Das berichtete am Wochenende das Institute for the Study of War in Washington D.C. unter Berufung auf russische Militärblogger. Diese hatten teilweise geolokalisierte Videos veröffentlicht, in denen die Landung von Booten am östlichen Flussufer und Gefechte zu sehen sind, teilweise nur wenige Hundert Meter von der nächsten Stadt Oleschki entfernt.
Obwohl sie auf der Seite Russlands stehen, sind die Berichte dieser Blogger dem eigenen Militär gegenüber sehr kritisch. In der Vergangenheit waren ihre Analysen oft zutreffend, und nun haben gleich mehrere Kanäle von der Präsenz ukrainischer Truppen am Ostufer berichtet. Der von Russland eingesetzte Verwalter der besetzten Gebiete bei Cherson widersprach diesen Berichten und teilte mit, das russische Militär habe nach wie vor die vollständige Kontrolle über das Gebiet. Ein Sprecher der ukrainischen Armee wollte die angebliche Einnahme des Ostufers dagegen weder bestätigen noch dementieren.
Obwohl die genaue Lage derzeit noch unklar ist, sind solche Vorstösse nicht unwahrscheinlich. Bereits im vergangenen Jahr lieferten die USA an die ukrainische Armee 58 gepanzerte Patrouillenboote, die besonders für solche Landeoperationen geeignet sind, wie sie von den Bloggern beschrieben werden. Obwohl sich die Truppen beider Seiten zuletzt an der Front im Donbass konzentriert hatten, haben die Kämpfe bei Cherson, seitdem im November die Stadt von der ukrainischen Armee zurückerobert wurde, nie nachgelassen: Russische und ukrainische Truppen ringen seit Monaten um die Kontrolle über die Inseln im Mündungsdelta des Dnjepr, und Cherson ist regelmässig das Ziel russischer Artillerieangriffe.
Wie gross die Präsenz der ukrainischen Armee am Ostufer genau ist und welche Ziele dort verfolgt werden, lässt sich derzeit nicht sagen. Allein dass ukrainischen Truppen aber anscheinend die Landung gelungen ist, spricht schon dafür, dass die russische Armee ihre Präsenz in der Region stark reduziert hat. Womöglich in Erwartung der lange angekündigten ukrainischen Gegenoffensive an anderen Frontabschnitten und weil sie den an dieser Stelle mehrere Hundert Meter breiten Dnjepr für eine ausreichende natürliche Verteidigung gehalten hat.
Keine ukrainische Grossoffensive
Tatsächlich ist eine grosse ukrainische Offensive mit Hunderten Fahrzeugen und Tausenden Soldaten in dieser Region eher nicht zu erwarten. Die Antoniwkabrücke ist, soweit bekannt, noch immer nicht passierbar, nachdem sie im November von russischen Truppen auf dem Rückzug teilweise gesprengt worden war. Obwohl die ukrainische Armee wahrscheinlich in der Lage ist, eine Behelfsbrücke zu errichten, wäre die Überquerung des Dnjepr ein grosses Risiko. Die russische Armee ist bei ähnlichen Manövern von der ukrainischen Artillerie schwer getroffen worden, und es ist kaum vorstellbar, dass Kiew die mühsam vom Westen eingeworbenen Kampf- und Schützenpanzer so zu einem leichten Ziel machen würde.
Trotzdem stellt ein solcher ukrainischer Vorstoss für die russischen Besatzer eine Bedrohung dar. Die russischen Verteidigungslinien sind an dieser Stelle, soweit bekannt, wesentlich schwächer als an anderen Orten der Front. Sollte es der ukrainischen Armee gelingen, am Ostufer des Dnjepr Fuss zu fassen, hätte die russische Armee gleich mehrere Probleme: Sie müsste Truppen aus dem Donbass und der Region Saporischschja abziehen, wo sie aber jeden Tag mit einer ukrainischen Gegenoffensive rechnen muss; die Verteidiger von Melitopol und der südlichen Front müssten mit Angriffen in ihrem Rücken rechnen; grosse Teile der besetzten Krim wären in Reichweite der ukrainischen Artillerie und der Himars-Raketenwerfer.
Die russische Armee scheint jedenfalls ihre Bemühungen bereits wieder intensiviert zu haben. So wurden laut ukrainischem Generalstab erneut Angriffe mit Drohnen grösstenteils abgewehrt. Auch sollen Zivilisten aus den von Russland besetzten Gebieten der Oblast Cherson evakuiert worden sein. Möglicherweise ein Hinweis darauf, dass die russischen Besatzer mit schweren Kämpfen in der Region rechnen.
In New York ist unterdessen der russische Aussenminister Sergei Lawrow eingetroffen. Er soll am Montag und Dienstag Sitzungen des UNO-Sicherheitsrats zur Lage im Nahen Osten leiten. Auch ein Gespräch zwischen Lawrow und UNO-Generalsekretär António Guterres zur Verlängerung des Getreideabkommens ist geplant. Russland hat in diesem Monat turnusgemäss den Vorsitz im UNO-Sicherheitsrat, und schon in einer der ersten Sitzungen hat es für einen Eklat gesorgt, als die mit einem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gesuchte Maria Lwowa-Belowa für einen Vortrag per Video zugeschaltet wurde.
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