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Meinung

Mamablog: Debatte um Cancel Culture
Was darf man denn heute überhaupt noch sagen?

Wenn Kinder geschlechtergerechte Sprache beherrschen, sollten wir es ihnen gleichtun können. Oder?
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«Frauen sollte man keine Komplimente mehr zu ihrem Kleid machen, Menschen, die offensichtlich nicht aussehen wie Urschweizer, darf man nicht nach ihren Wurzeln fragen, und über die Bäuche von Schwangeren sollte man keine lustigen Bemerkungen fallen lassen, weil übergriffig und verletzend. Was darf man denn heute überhaupt noch sagen?»

So ähnlich wurde kürzlich eine Aussage in den Kommentaren dieser Rubrik formuliert. Eine Frage übrigens, die in meinem Alltag nicht nur online, sondern auch im analogen Leben auffallend oft aufkreuzt. Beim Aperolspritzen unter Freundinnen, unter Grillschwaden mit Nachbarn oder an verschwitzten Badinachmittagen mit Quartiermamas. Ja, was ist heute noch erlaubt zu sagen? Oder zurückgefragt: Was möchten viele Menschen weiterhin sagen können, ohne dass sie mit negativen Reaktionen rechnen müssen? Sind wir womöglich unfreier geworden als je zuvor? Empfindlicher? Oder verletzender? Herzlich willkommen in der Debatte über die Cancel Culture.

Begrenzte Freiheit

Mit der Freiheit ist es so eine Sache. Denn, anders als es das Wort vielleicht vermuten lässt, ist sie nie vollkommen frei, sondern hat ihre Grenzen. Wo aber liegen diese?

Nun, Mister Immanuel Kant fand einst eine überzeugende Antwort darauf: «Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt». Die Grenzen sind dementsprechend fluid und abhängig von der Person, mit der wir gerade interagieren. Da schlag ich spontan ein. Denn auch ich ziehe die Grenzen je nach meinem Gegenüber anders. Wenn also Grosstante Rosmarie am Familienfest den Schokokuss partout nicht beim politisch korrekten Namen nennen will, geht es mir so ziemlich am Allerwertesten vorbei. Insbesondere darum, weil die Achtzigjährige meine Argumente weder akustisch noch sonst wie verstehen würde. Würde sich allerdings Cousin Stefan den Dubler unangemessen bestellen, wäre ihm mein «Echt jetzt?!» sicher.

Doch es gibt auch bei mir Momente klarer Grenzziehung. Auf ein «Schiri bisch eigentlich schwul?» in Fussballstadien reagiere ich umgehend und gereizt, noch bevor die Trillerpfeife des Schiedsrichters wieder vor seiner Brust baumelt, mit einem «Gahts no?!». Ganz unabhängig davon, ob sie von einem zwölfjährigen Dreikäsehoch oder einem bierbäuchigen Möchtegernsportkommentator herausposaunt wurde. Sorry, «schwul» ist und war noch nie ein Schimpfwort, und solch abwertende Sprache trägt nur zur Förderung von Stereotypen und zur Unterdrückung von Menschen bei.

Wir sind lernfähig

«Hey Ladys!», begrüsste eine Bekannte kürzlich eine Runde von Jugendlichen, die bei ihrer Tochter zu Besuch waren. Doch anstelle eines Grusses erntete sie gerunzelte Stirnfalten und empörte Blicke, die sie nicht richtig einzuordnen vermochte. Erst als ihre Tochter ihr abends unmissverständlich klar machte, dass eine solche Begrüssung wie «Hey, Ladys!» Menschen im Raum ausschliessen könnte, die sich nicht als Mädchen identifizieren – in ihrem Fall ein Klassengspändli, das sich keinem Geschlecht zugehörig fühlt – war meine Bekannte überrascht, aber zugleich dankbar für diese wertvolle Lektion.

Dass Sprache eine mächtige Form der Inklusion oder Exklusion sein kann und dass es wichtig ist, sensibel auf die Bedürfnisse von Menschen einzugehen, erfordert übrigens keinen grossen Aufwand. Nur Respekt. Und Übung. Selbst unser neunjähriges Nesthäkchen benutzt geschlechtergerechte Sprache mühelos und weist seinen zehn Jahre älteren Bruder nicht selten darauf hin, warum er bei «Ärzten» die Frauen nicht auch miteinbeziehen möchte. Sprache ist wandelbar – und auch wir können uns weiterentwickeln. Wir werden dadurch weder umprogrammiert noch ist unsere Meinungsfreiheit in Gefahr. Anstatt, dass Erwachsene also weiterhin Meinungsfreiheit als Ausrede missbrauchen – und gewisse Parteien Cancel Culture als Instrument nutzen, um ihre Agenda der Spaltung voranzutreiben – würde es uns gut zu Gesicht stehen, von der jüngeren Generation zu lernen und unsere veralteten Denkmuster zu überwinden.

Wie erleben Sie den Diskurs über die Cancel Culture, liebe Leserinnen und Leser?