Leitartikel zum Schweizer SprachgebrauchEs geht um politische Macht – führen wir die Genderdebatte mit Anstand
Gendergerechtes Reden und Schreiben ist in der Schweiz nicht mehrheitsfähig, das zeigt unsere Umfrage. Trotzdem wird es immer breiter verwendet. Darüber sollten wir reden – statt das Feld der SVP zu überlassen.
Warum ist die Debatte um einen Gender-Tag an der Oberstufe Stäfa am Zürichsee derart eskaliert? Warum konnte SVP-Nationalrat Andreas Glarner einen so starken Shitstorm lostreten, der in der Absage des Anlasses mündete?
Vorausgeschickt: Bei emotionalen Themen wie dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist der Grat zur Eskalation schmal. Wenn Aufwiegler wie Glarner die Debatte pervertieren, können Menschen zu Schaden kommen. Glarner und Konsorten gehören von der eigenen Partei und der Wählerschaft gestoppt, Extremisten wie er vergiften das gesellschaftliche Klima.
Und doch lohnt es sich, auch abseits von Glarner und grundsätzlich über die Gründe nachzudenken, warum das Genderthema so stark provoziert. Antworten finden sich unter anderem in unserer neuen, repräsentativen Umfrage zu Sprache, Geschlecht und Diskussionskultur in der Schweiz.
Entzündet hatte sich die Empörung im Fall Stäfa nämlich nicht nur am Inhalt der Veranstaltung (bei nüchterner Betrachtung: profaner Aufklärungsunterricht), sondern auch an der Sprache in der Einladung. Allein der Begriff «Gender» führt heute zu diskursiven Eruptionen. Und auch die «geschlechtergerechte» Schreibweise, wie sie im Fachjargon heisst, löst Emotionen aus. Gemeint sind damit beispielsweise Gendersterne, Binnen-I oder Doppelpunkte.
In der Umfrage zeigt sich, woher die Vehemenz bei den Gegnern dieser sprachlichen Neuerungen kommt. Drei Viertel der Befragten achten beim Schreiben und Sprechen nicht auf eine gendergerechte Sprache. Zwei Drittel der Bevölkerung finden die Debatte nicht wichtig. Eine Mehrheit der Männer und fast die Hälfte der Frauen benutzen die ausschliesslich männliche Form immer oder oft. Gendersterne und Doppelpunkte hingegen sind unbeliebt. Das verdeutlicht: Die gendergerechte Sprache ist in der Schweiz (noch?) nicht mehrheitsfähig.
Viele sprachliche Neuerungen sind ohne breiten gesellschaftlichen Diskurs schleichend entstanden.
Trotzdem verfassen heute viele Firmen, Amtsstellen oder Bildungsinstitutionen ihre Korrespondenz mit Gendersternen. Und manche Medien verwenden in jedem Satz angestrengt zwei Geschlechtsformen. Oder gewisse Aktivisten gehen sogar so weit, die weibliche Form verschwinden zu lassen und von «gebärenden» oder «menstruierenden Personen» zu sprechen.
In vergleichsweise kurzer Zeit hat sich der Sprachgebrauch im öffentlichen Kontext stark verändert. Doch viele dieser Neuerungen blieben ausserhalb der medialen Feuilletons unreflektiert – sie sind ohne breiten gesellschaftlichen Diskurs schleichend entstanden, auch weil Aktivistinnen und Aktivisten eine starke Stimme hatten und gehört wurden. Dabei würde ein hochgradig alltagsrelevanter Prozess wie der sprachliche Austausch eine ernsthafte Aushandlung verdienen.
Die SVP hat erkannt, wie viel Konfliktpotenzial in den unverhandelten sprachlichen Veränderungen steckt.
Die SVP macht sich nun dieses Versäumnis mit ihrem Kampf gegen «Gender-Terror und Woke-Wahnsinn» zunutze. Als geschickte Seismografin gesellschaftlicher Stimmungen hat sie erkannt, wie viel Konfliktpotenzial in den bislang unverhandelten sprachlichen Veränderungen steckt und wie viel Unverständnis darüber in breiten Kreisen abgerufen werden kann.
Programmchefin Esther Friedli hat das Thema als wilden Mix kulturkämpferischer, teilweise aus den USA importierter Parolen ins neue Parteiprogramm gehievt. Sie weiss: Damit kann sie bis weit ausserhalb des eigenen Lagers punkten. Die SVP leistet diesen Widerstand stellvertretend für all jene, die sich ärgern, aber sich nicht trauen, etwas zu sagen, weil es vermeintlich dem Zeitgeist widerspricht.
Es ist falsch, die Diskussion der SVP zu überlassen. Denn es geht der Partei um viel mehr als um ein paar Gendersterne. Es geht ihr um Macht und kulturelle Dominanz. Die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse – die Gleichberechtigung der Frauen, die Akzeptanz nonbinärer Geschlechter – widerspiegeln sich heute in der Sprache. Frauen und transsexuelle Menschen sind dadurch sichtbarer geworden. Das stellt bisherige Machtverhältnisse infrage – und bringt das rechte Ideal der konservativen Familie ins Wanken, in dem die Rollen der Geschlechter klar zugeteilt sind. Sprachdebatten sind insofern zutiefst politische Debatten, das räumt auch die SVP ein.
Dass sich die Sprache entwickelt, dass das Männliche nicht mehr als Norm gilt, ist grundsätzlich richtig. In der konkreten Umsetzung dieses Wandels gibt es allerdings vielfältige Optionen. Offensichtlich fühlt sich eine Mehrheit von zu stark verändernden Varianten nicht angesprochen, wie unsere Umfrage bestätigt. Dem gilt es Rechnung zu tragen. Die Deutungshoheit sollte weder bei (linken) Aktivisten noch bei einer (rechten) Partei liegen. Sondern in der Mitte der Gesellschaft. Führen wir also diese Diskussion – aber bitte mit Stil, Anstand und ohne ideologische Scheuklappen.
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