Sechs Fragen zu Italiens PolitkrimiWarum Mario Draghi vielleicht doch weitermacht
In Rom läuft heute das Finale um Premier Mario Draghi. Springt er über seine Prinzipien? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Manöver bis zuallerletzt: Italiens Politik lebt von einer dunklen Spiellust. Gerade wenn alle zuschauen, offenbart sich diese Lust besonders prägnant. Diesmal, an diesem entscheidenden Tag in der sommerlichen Regierungskrise, schaut die halbe Welt zu. Mit einiger Verwunderung, man kann sich ja durchaus fragen: Warum leistet sich Rom eine Regierungskrise in solch schwierigen Zeiten – Krieg in Europa, Inflation, Pandemie? Ist das wirklich nötig? Und weshalb nimmt die italienische Politik in Kauf, ihren Superstar an der Spitze der Regierung zu verlieren, diesen Mario Draghi, auf den sie sogar im Ausland neidisch sind?
Auch in Italien fragen sie sich das. Premier Draghi wird heute im Parlament eine Rede halten und dann die Vertrauensfrage stellen. Zuerst im Senat, dann im Abgeordnetenhaus. Allerdings reicht es ihm nicht, sie einfach zu gewinnen – das wird er ohnehin: Er will sie so gewinnen wie zu Beginn seiner Amtszeit vor 522 Tagen. Es ist eben kompliziert.
Wie kam es zur Regierungskrise?
Man muss etwas ausholen. Mario Draghi wurde im Februar 2021 Chef einer Regierung der nationalen Einheit: Für die nationale Impfkampagne und den Wiederaufbauplan für die Zeit nach der Pandemie brauchte es eine starke Führung. Der frühere Zentralbanker ist parteilos. Er sollte als «tecnico» mit Parteien, die sich normalerweise untereinander nicht leiden können, arbeiten und Reformen umsetzen: In Draghis Kabinett sassen nun die rechte Lega, die Sozialdemokraten, Silvio Berlusconis Forza Italia und die Protestpartei Cinque Stelle. Nur die Postfaschisten wollten nicht mitmachen. Das ging lange gut, weil Draghi mit seiner Aura und seinem Renommee alle Zwiste überstrahlte. Vergangene Woche verweigerten die Fünf Sterne dem Premier im Senat ihr Vertrauen. Draghi erhielt zwar eine breite Mehrheit bei der Abstimmung über sein Hilfspaket in der Krise. Doch er fand, ohne die Stimmen der Cinque Stelle sei alles nichts.
Warum haben die Cinque Stelle mit Draghi gebrochen?
Das haben sie in Wahrheit gar nicht: Ihre Senatoren verliessen nur die Aula, als abgestimmt wurde. Die Italiener nennen das ein «Nicht-Misstrauen», ein Begriff aus dem Spielzeugkasten ihrer Politik. Die Cinque Stelle wollten nur noch halb dabei sein – ein bisschen drinnen, ein bisschen draussen. Doch Draghi fürchtete, so zur Geisel zu werden, zumal auch die Lega ständig stichelte. «Super Mario» als lahme Ente? Die Cinque Stelle argumentierten mit mangelhafter Sozialpolitik in der Krise, mit fehlendem Respekt für ihre Anliegen. Auch den Bau einer Müllverbrennungsanlage in Rom führten sie an. Im Grunde aber wollte sich die Partei des früheren Premiers Giuseppe Conte einfach wieder mehr Sichtbarkeit verschaffen vor den Wahlen von 2023. Die Cinque Stelle sind seit ihrem Wahlsieg 2018 dramatisch geschrumpft, von fast 33 Prozent auf 11 Prozent. Der moderate, regierungswillige Teil hat sich abgespalten. Nun suchten sie einen Befreiungsschlag. Draghi mag für viele eine Ausnahmefigur sein: Im orthodoxen Flügel der Sterne galt er früher immer als Inbegriff des gehassten Establishments.
Wie hoch stehen die Chancen, dass Draghi sich umstimmen lässt und weitermacht?
Vordergründig nicht sehr gut, aber das muss nichts heissen: Jede Minute kann die Wende bringen. Als Draghi vergangene Woche seinen Rücktritt einreichte, den der Staatspräsident zurückweisen sollte, erklärte er sich in einem Brief. Darin stand, dass der Pakt des Vertrauens zerbrochen sei, die Koalition der nationalen Einheit gebe es nicht mehr, ohne Cinque Stelle regiere er nicht. Ein italienischer Politiker würde nie so ultimativ formulieren. Ein Wort aber fehlte im Abschiedsbrief: «irrevocabile», unwiderruflich. Der Rücktritt ist also verhandelbar. Unterdessen hat der Premier viel Zuneigung erfahren. Eine Mehrheit der Italiener will, dass er bleibt und das Land durch diese Zeit führt. Appelle kommen auch aus Brüssel, Paris, Berlin, Washington. Offenbar bewegt ihn dieser Zuspruch. Die Frage ist nur, ob Draghi sich auch mit den Stimmen eines Teils der Cinque Stelle zufriedengeben würde – oder am Ende gar auf sie verzichtet. Seine Rede wird es zeigen. Sind darin auch Offerten an die Rebellen enthalten, etwas Konkretes zum Grundeinkommen etwa, dann kann es sein, dass Conte und die Seinen kippen. Irgendwann kommt schliesslich immer der Moment: Zeig mir deine Karten!
Was würde passieren, wenn Draghi endgültig zurückträte?
Theoretisch wäre es dann möglich, dass Staatspräsident Sergio Mattarella einer anderen Persönlichkeit den Auftrag erteilt, um im Parlament nach einer Mehrheit zu suchen, und die würde dann, im positiven Fall, mit einer eingeschränkten Agenda bis zum ordentlichen Ende der Legislaturperiode regieren. Wichtig sind vor allem der Haushalt für das nächste Jahr und die Umsetzung der mit Brüssel ausgemachten Reformen für die 220 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds. Wahrscheinlicher aber ist, dass Mattarella nach einem Rücktritt Draghis und trotz der Fährnisse dieser Zeit das Parlament auflöst und Neuwahlen ansetzt. Die würden dann frühestens Ende September, eher Anfang Oktober stattfinden. In ihrer gesamten republikanischen Geschichte haben die Italiener noch nie im Herbst ein neues Parlament gewählt.
Wer wäre Favorit bei Neuwahlen?
Alle Umfragen zeigen, dass das Rechtslager die Wahlen gewinnen würde – wobei: Dieses Lager ist alles andere als geeint. Als stärkste Kraft gelten die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni mit etwa 21 Prozent der Wahlabsichten. Sie profitieren davon, dass sie die einzige Opposition im Land sind. Aller Unmut über die Regierung kommt ihnen zugute. Was die Lega verliert, gewinnen die Brüder Italiens dazu. Auch deshalb wollen Lega und Forza Italia nicht unbedingt vorzeitige Neuwahlen. Glaubt man den Demoskopen, liegen die Sozialdemokraten etwa gleichauf mit den Postfaschisten. Bisher verbindet den Partito Democratico eine mehr oder weniger feste Wahlallianz mit den Cinque Stelle. Doch ob das Bündnis das Sommerdrama überlebt, ist fraglich. Unterdessen wird die politische Mitte mit einer Myriade kleiner Parteien neu bestellt. Sollten sie sich zusammentun, könnten sie zwischen 10 und 15 Prozent der Stimmen gewinnen. Sie wären dann das klassische Zünglein an der Waage der Macht.
Was wird aus den Fünf Sternen?
Sie werden wohl ganz ein- und auseinanderbrechen. Oder um es mit einer aufgelegten Metapher zu sagen: Bleiben wird nur Sternenstaub. Conte versuchte, die einst originelle, ideologisch bunte, systemkritische Bewegung des Komikers Beppe Grillo zu einer normalen Partei zu formen – für die Zukunft. Doch die Cinque Stelle sind in den vergangenen viereinhalb Jahren selbst System geworden, für alle sichtbar: Sesselkleber, politische Trickspieler, Brecher ihrer eigenen, angeblich unumstösslichen Tabus. Sie wollten sich früher mit gar niemandem alliieren für die Macht, dann alliierten sie sich mit allen: mit der extremen Rechten, der Linken, mit dem Technokraten Draghi. Wo sie Städte regierten, in Rom und Turin zum Beispiel, war es eine Katastrophe. Und nun die unnötigste Krise seit Menschengedenken, nicht einmal gut gespielt: Es ist wohl aus.
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