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Warum ist Weiblichkeit weniger wert?

Fleissiger Vollzeitangestellter oder moderner Teilzeitpapi: Männer werden sowieso gefeiert.

Antonia Baum ist eine junge Schriftstellerin aus Deutschland. Kürzlich ist sie Mutter geworden und verarbeitet ihre Eindrücke darüber in ihrem Buch «Still leben». Schon zu Beginn der Lektüre stolpere ich über folgende Passage: Zum Leben einer Frau gehöre es, auszuhalten, zu ertragen und sich zurückzustellen, zu dienen, zu verstehen, dass man klein ist und Teil einer Abfolge von Generationen.

«Man könnte es auch positiv formulieren und von Demut und Einsicht sprechen», schreibt Antonia Baum. «Tatsächlich ist eine Gesellschaft ohne die aufgezählten Eigenschaften und Verhaltensweisen undenkbar. Aber es ist ungerecht, dass Frauen dafür zuständig sind und wie gering sie geschätzt werden für all das Weiche, Pflegende und Ausgleichende. Für das, was unsichtbar ist, aber existenziell.»

Frauen sind «selber schuld»

Diese Geringschätzung beobachte ich ebenfalls in unserer Gesellschaft – wohl vor allem, seit ich Mutter bin. Die Geringschätzung fängt dort an, wo sich Frauen rechtfertigen müssen, dass sie beispielsweise keine Kinder haben. Geht weiter, indem sich Frauen dafür rechtfertigen müssen, dass sie Kinder haben. Dass sie ein Kind haben. Zwei. Oder drei. Weshalb sie trotz der Kinder weiterarbeiten. Vollzeit. Teilzeit. Oder eben nicht. Weshalb sie weniger verdienen als Männer. Dann eben offensichtlich den falschen Beruf ausüben. Oder den falschen Mann geheiratet haben. Alles in allem sind Frauen «selber schuld», weil sie es ja selber und freiwillig so gewählt haben und nun, bitte schön, den Mund halten sollen, damit man sich wieder der Tagesordnung – also dem Wesentlichen – widmen kann.

Umgekehrt können sich Männer praktisch alles erlauben. Arbeiten beispielsweise Väter nach wie vor Vollzeit, ist das «normal»; für den Arbeitgeber sogar erstrebenswert. Reduzieren sie ihr Pensum auf 80 Prozent, werden sie als «moderne Väter», gar als Helden gefeiert, die ihren Partnerinnen tatkräftig unter die Arme greifen. Führt man sich den amerikanischen Präsidenten vor Augen, dann dürfen Männer Frauen begrapschen, missbrauchen und öffentlich ihre Geringschätzung über das weibliche Geschlecht kundtun – und werden dennoch (oder deswegen?) gewählt. Eine Frau darf von einem solch unflätigen Benehmen nicht einmal träumen.

Weshalb aber ist das so? Warum steht in unserer modernen Welt das Männliche über dem Weiblichen?

Die Hierarchie der Geschlechter

Fündig werde ich bei Yuval Noah Harari, einem israelischen Historiker, der es mit seinen Büchern zu weltweitem Ruhm gebracht hat. In «Eine kurze Geschichte der Menschheit» schreibt er schnörkellos darüber, dass es in allen bekannten Gesellschaften eine Hierarchie der Geschlechter gibt: «In jeder Gesellschaft gibt es Männer und Frauen, und in jeder, aber auch jeder Gesellschaft werden Männer gegenüber Frauen bevorzugt.»

Laut Harari haben Menschen spätestens seit der landwirtschaftlichen Revolution Männern einen höheren Stellenwert beigemessen als Frauen. «Egal, wie sie ‹Mann› und ‹Frau› im Einzelnen definieren – es war immer besser, ein Mann zu sein.» Die Geburt der Kinder war schon immer Aufgabe der Frau, da Männer nun einmal keine Gebärmutter haben, schreibt Harari. «Aber um diesen harten biologischen Kern herum hat jede Gesellschaft zahlreiche Schichten von kulturellen Vorstellungen und Normen gelegt, die nichts mit der Biologie zu tun haben. Fast alle Eigenschaften, die Gesellschaften Männern und Frauen zuschreiben, sind angeblich natürlich, aber in Wirklichkeit entbehren sie meist jeder biologischen Grundlage.»

So galt etwa im demokratischen Athen vor Tausenden von Jahren ein Mensch mit einer Gebärmutter nicht als juristische Person. «Keiner der politischen Führer, Philosophen, Redner und Künstler Athens hatte eine Gebärmutter.»

Warum wir umdenken sollten

Heute können Frauen wählen und studieren, ohne dass ihre Gebärmutter sie daran hindern würde. Allerdings sind sie in der Politik und in der Wirtschaft nach wie vor untervertreten – doch immerhin gibt es kein Gesetz, das es Frauen verbietet, Richterin oder Ministerpräsidentin zu werden.

Hararis Ausführungen dürften ein Hinweis darauf sein, weshalb sich Frauen in männlich geprägten Gesellschaften für jeden Schritt rechtfertigen müssen. Und deshalb empfiehlt es sich, über die Organisation unserer Gesellschaft nachzudenken. Es geht nicht an, dass sich heute Mütter dafür rechtfertigen müssen, dass sie sich weiterhin allein um ihre Kinder kümmern, obwohl sie sich diese zeitraubende, oft mühselige Arbeit gerne mit den Vätern teilen würden. Trotzdem sind es die Mütter, die später mit der Altersarmut konfrontiert werden, weil sie bei den Pensionskassen kein Rentenguthaben ansparen konnten.

Wäre es nicht Zeit, umzudenken?

Dieser Artikel wurde erstmals am 17. September 2018 publiziert und am 31. Juli 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.