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Repression in der Türkei
Warum die Justiz einen Erdbebenforscher drangsaliert

Weltweit anerkannter Geologe: 1988 erhielt Celal Sengör die Ehrendoktorwürde der Universität Neuenburg.
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Celal Sengör riskiert eine einjährige Haftstrafe, weil er seine wissenschaftlich fundierte Meinung geäussert hat. Der Erdbebenforscher ist kürzlich im türkischen Fernsehsender Habertürk aufgetreten und hat den Propheten Abraham als märchenhafte Figur bezeichnet.

Sengör ist nicht irgendwer. Er ist ein weltweit anerkannter Geologe, seit seinem Studium in den USA Ende der 1970er-Jahre hat der inzwischen 67-jährige emeritierte Professor in Oxford, am Collège de France und anderen namhaften westlichen Universitäten gelehrt. 1988 erhielt der Türke die Ehrendoktorwürde der Universität Neuenburg. Celal Sengör ist Mitglied der amerikanischen und russischen Akademie der Wissenschaften. Jahrelang war er an der Technischen Universität in Istanbul tätig.

Rüge und Geldstrafe für TV-Sender

In der Fernsehsendung, die ihm jetzt zum Verhängnis wurde, bestritt Celal Sengör, dass es Abraham überhaupt gegeben hat. Der Prophet spielt in allen monotheistischen Religionen – zum Beispiel im Islam, Judentum und Christentum – eine wichtige Rolle. Auch die Existenz von Moses, der von Muslimen als Gottesgesandter verehrt wird, stellte der Professor in Abrede. Sengör sprach über die Ausgrabungen von Harran, einer antiken Stadt, die nahe der syrischen Grenze liegt. Dort soll Abraham gelebt haben. Über Harran gelangte Abraham laut biblischer Überlieferung nach Palästina.

Die türkische Justiz, die mittlerweile wie die iranische Religionspolizei agiert, nahm Sengör nach der Diskussionssendung ins Visier. Der Fernsehsender Habertürk erhielt eine Rüge und eine Geldstrafe von der Aufsichtsbehörde, und die Staatsanwaltschaft lud Sengör vor – wegen öffentlicher Beleidigung religiöser Werte.

«Was mich interessiert, ist, was die Wissenschaft uns heute als Wahrheit präsentiert. Sie zu verteidigen ist sowohl mein Beruf als auch meine Existenzberechtigung.»

Celal Sengör, Erdbebenforscher

Um einer Festnahme zu entgehen, erschien Sengör letzte Woche im Justizpalast von Istanbul, anscheinend unbeeindruckt von den Drohungen der Justiz. Über seinen Anwalt liess er mitteilen, es sei ihm egal, an wen und was die Menschen glaubten. «Was mich interessiert, ist, was die Wissenschaft uns heute als Wahrheit präsentiert. Sie zu verteidigen ist sowohl mein Beruf als auch meine Existenzberechtigung.» Die Staatsmacht könne alles tun und machen, was sie wolle, aber sie dürfe die Wissenschaftler nicht versklaven.

Will konservative Wählerschichten mobilisieren: Recep Tayyip Erdogan.

Celal Sengör steht seit Jahren auf Kriegsfuss mit der Regierung. Er kritisierte auch die Pläne der Regierung, die Evolutionstheorie von Charles Darwin aus den Lehrplänen zu streichen. «Für einen zivilisierten, gebildeten Menschen ist das undenkbar», meinte der Forscher 2017.

Sengörs Anwalt erinnerte nun daran, dass sein Mandant in einem Buch den Mythos der Sintflut analysiert habe. Das Fazit des Geologen: Es gebe dafür weder historische Quellen noch Belege. An die Justiz appellierte Sengör, sie solle nicht den gleichen Fehler machen wie einst die katholische Kirche, die Galileo Galilei vor ein Inquisitionsgericht zerrte, weil dieser die These von Nikolaus Kopernikus bestätigte, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt. Nun wird mit Spannung erwartet, ob die türkische Justiz Anklage gegen Celal Sengör erhebt. Überraschend wäre das kaum.

Türkische Madonna vor Gericht

Kürzlich wurde in der Türkei die bekannte Popsängerin Gülsen festgenommen und danach für ein paar Tage unter Hausarrest gestellt. Sie wurde angeklagt, nachdem sie bei einem Konzert im April einem Mitglied ihrer Band mit dem Spitznamen Imam zugerufen hatte, er sei deshalb so pervers, weil er die Imam-Hatip-Religionsschule besucht habe. Staatschef Recep Tayyip Erdogan und andere Politiker der Regierungspartei AKP waren Schüler einer solchen Bildungsinstitution, die konservative Werte vermittelt.

Türkische Madonna: Popsängerin Gülsen. 

Gülsen sagte, sie habe einen schlechten Witz gemacht, und entschuldigte sich dafür. Das Mea culpa brachte der türkischen Madonna jedoch nichts. Ihr drohen wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung bis zu drei Jahre Haft. Gülsen gilt als unpolitische Musikerin. Zuletzt hat sie aber den Zorn der religiösen Hardliner auf sich gezogen, weil sie bei ihren Auftritten die Regenbogenfahne schwenkt, um ihre Solidarität mit der LGBTQ+-Community zu demonstrieren. Ihre knappen Outfits und sexy Videos versetzten viele AKP-Anhänger in Rage.

Tödliche Gewalt an Frauen

Die Einnahmen aus dem Verkauf eines ihres Alben hat Gülsen der Frauenrechtsorganisation «We Will Stop Femicide» überwiesen. Die Plattform protestiert gegen die oftmals tödliche Gewalt an Frauen in der Türkei. Nach Angaben des Innenministeriums wurden in den ersten sieben Monaten des laufenden Jahres 158 türkische Frauen ermordet. Im vergangenen Jahr wurden gemäss der Plattform «We Will Stop Femicide» 280 Frauen von Männern umgebracht, 217 starben unter ungeklärten Umständen. Die türkische Justiz bezeichnet die Arbeit der Frauenrechtlerinnen als unmoralisch und droht mit einem Verbot von «We Will Stop Femicide».

Vor den Wahlen im nächsten Jahr geht die türkische Justiz vermehrt gegen Aktivisten und Kulturschaffende vor, um konservative Wählerschichten zu mobilisieren. Ermittelt wird inzwischen auch gegen den Streaming-Dienst Spotify wegen einer Playlist mit dem Titel: «Lieder, die Erdogan beim Saufen hört».