Türkisches SkandalurteilSymbolfigur für demokratischere Türkei
Der Erdogan-Kritiker und Kulturmäzen Osman Kavala ist zu lebenslanger Haft verurteilt worden – wegen eines angeblichen Umsturzversuchs.
Bei erschwerter lebenslanger Haft gibt es in der Türkei kaum eine Chance, sie endet frühestens nach 30 Jahren oder mit dem Tod. Eine Strafe für Massenmörder? Nein, für einen Kulturmäzen. Osman Kavalas «Verbrechen» besteht darin, dass er sich eine demokratischere Türkei wünscht.
Für Präsident Recep Tayyip Erdogan ist der 64-Jährige ein «Terrorist». Dessen Waffe: eine Kulturstiftung, genannt Anadolu Kültür, die der Unternehmer 2002 gründete. Mit ihr hat er seither Ausstellungen in Istanbul zur Erinnerung an die Vertreibung der Griechen, armenisch-türkische Jugendbegegnungen, ein kurdisches Kulturzentrum und viele andere künstlerische Initiativen unterstützt.
Kavala war schon im Gefängnis, da formulierte er noch einmal, was ihn motiviert: «Die Hauptquelle für meinen Optimismus sind junge Leute, Künstler und viele denkende Menschen», die an eine «gemeinsame Vernunft glauben». Erdogan stützt seine Macht auf eine Polarisierung der Gesellschaft, auf scharfe Kanten zwischen Freund und Feind. Da wird einer wie Kavala, ein unermüdlicher Versöhner und Mahner, der fordert, gesellschaftliche Gräben zu überwinden, zu einer leuchtenden und damit gefährlichen Symbolfigur für eine andere Türkei.
Kavala eignete sich perfekt als Sündenbock
Als er im Oktober 2017 festgenommen wurde, mussten die staatsnahen Fernsehsender ihrem Publikum erst erklären, wer dieser Mann ist, denn Kavalas Stiftung erreichte nie Massenwirkung. Aber der wohlhabende Istanbuler, der sein Vermögen für Kunst und Kultur hergab und mit internationalen Partnern wie dem Goethe-Institut kooperierte, eignete sich in dem Gespinst aus Verschwörungstheorien und Misstrauen, das die Türkei seit Jahren einhüllt, perfekt als Sündenbock.
Kavala hatte sich auch gegen ein Präsidialsystem mit absoluter Macht ausgesprochen, wie es Erdogan für sich schuf. Er war im Gegensatz zu anderen Reichen im Land nicht mit Staatsaufträgen zu locken, er hatte sich längst aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen und war hauptberuflich Philanthrop.
Kavalas Familie stammt ursprünglich aus dem heutigen Griechenland, sie wurde unter anderem im Tabakhandel und mit Bergwerken reich. Nach dem Tod des Vaters übernahm 1982 Osman den Konzern, der in der Türkei auch für das Militär produzierte. Inzwischen ist er erklärter Pazifist.
Einer von drei Richtern sah keine Beweise für eine Schuld Kavalas – wie schon der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Der Prozess gegen ihn begann im Juni 2019 wegen angeblicher Finanzierung der Proteste zur Rettung des Istanbuler Gezi-Parks, aus denen 2013 für einige Wochen eine regierungskritische Massenbewegung wurde, die erste und einzige gegen Erdogans inzwischen fast 20-jährige Herrschaft.
Im Februar 2020 wurde Kavala von dieser Anklage freigesprochen und noch am selben Tag unter dem Vorwurf, er sei am Putschversuch 2016 beteiligt gewesen, erneut verhaftet. Das jetzige Urteil wegen eines angeblichen «Umsturzversuchs» wollten am Montag nicht alle drei Richter des Istanbuler Strafgerichts unterzeichnen: Einer sah keine Beweise für eine Schuld Kavalas. Wie zuvor der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der seit Ende 2019 dessen Freilassung verlangt.
Erdogan hat sich eine «Einmischung» des EGMR verbeten. Der Türkei droht deshalb nun ein langwieriges Verfahren, an dessen Ende sogar der Rauswurf aus dem Europarat stehen kann. (Lesen Sie zum Thema die Analyse: «Die türkische Justiz ist zum politischen Racheinstrument verkommen».)
«Verurteilt uns alle!», meinte ein Kommentator
Gross gewachsen, mit grauem Bart und Kraushaar, stach Kavala einst bei jeder Vernissage genauso aus der Menge heraus wie bei einer Demo. Bei den vielen Auftritten vor Gericht sah man, dass dem schlanken Mann der dunkle Anzug zu weit geworden war. Seine Frau, die Wirtschaftsprofessorin Ayse Bugra, hatte nach einer der letzten Verhandlungen wütend und verzweifelt gefragt: «Von welcher Schuld sprechen sie?»
Kavala hatte immer wieder vor einer «Erosion der Rechtsstaatlichkeit» gewarnt. Nun ist er Opfer dieser Erosion geworden. Der Kommentator eines Oppositionsmediums schrieb am Dienstag voller Bitterkeit: «Verurteilt uns alle!»
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