Schweigende MehrheitWie die Nichtwähler die Wahlen beeinflussen
Auch diesmal wird voraussichtlich über die Hälfte der Wahlberechtigten der Urne fernbleiben. Analysen der letzten Wahlen zeigen, welche Parteien bei einer Wahlpflicht am meisten profitiert hätten.
Flyer, Fake-Videos, provokative Sujets auf Wahlplakaten: Nichts lassen die Parteien unversucht, um beim Endspurt im Wahlkampf noch möglichst viele Sympathisanten an die Urne zu locken. Aller Voraussicht nach wird sich aber auch diesmal nicht einmal die Hälfte der Schweizer Wahlberechtigten mobilisieren lassen. So traurig die Erkenntnis ist, so spannend ist die Frage, wie das Resultat herauskommen würde, wenn auch die schweigende Mehrheit wählen gehen würde.
Vorweg die auf den ersten Blick erstaunlich unspektakuläre Antwort von Georg Lutz, Professor für Politologie an der Uni Lausanne: «Anders als viele vermuten, würde eine Wahlbeteiligung von 100 Prozent bei eidgenössischen Wahlen zu keiner fundamentalen Änderung im Parteiensystem führen.»
Diesen Schluss zieht der Politologe aus Nachwahlbefragungen des Instituts Fors in Lausanne. Anders als bei üblichen Wahlumfragen berücksichtigt Fors nicht nur Wähler, sondern auch Nichtwähler. Sie werden gefragt, welche Partei sie bevorzugt hätten, wenn sie an die Urne gegangen wären.
So unspektakulär der generelle Befund ausfällt, so bemerkenswert hätten die Verschiebungen bei den letzten Wahlgängen bei einigen Parteien sein können, wenn alle Stimmberechtigten einen Wahlzettel eingelegt hätten. Zur vereinfachten Darstellung hat die SonntagsZeitung die jeweiligen Wahlresultate mit den Umfrageresultaten der Nichtwähler verrechnet. Daraus ergibt sich, welche Anteile die Parteien bei einer Stimmbeteiligung von 100 Prozent erreicht hätten.
Grüne wären gleich stark wie die SP
Der bemerkenswerte Befund bei den Wahlen 2019: Hätten damals sämtliche Nichtwähler in der Schweiz den Wahlzettel ihrer bevorzugten Partei eingelegt, wären die Grünen gleich stark geworden wie die SP. Beide Parteien hätten bei einer Wahlbeteiligung von 100 Prozent je 14,7 Prozent Wähleranteile erreicht.
Mit anderen Worten: Die Grünen, die ihren Anteil bei diesen Wahlen fast verdoppelt hatten, hätten dank der Nichtwähler nochmals überproportional zugelegt. Die SP hätte hingegen gut 2 Prozentpunkte verloren, weil die Nichtwähler stärkere Präferenzen für die Grünen als für die Genossen hatten.
Ausser den Grünen hätten bei den Wahlen 2019 auch die FDP und die Grünliberalen profitiert, wenn die Nichtwähler an die Urne gegangen wären. Beide hätten rund einen halben Prozentpunkt besser abgeschnitten.
Die SVP hätte 30-Prozent-Marke geknackt
Bei den Wahlen 2015 war es anders: Damals hätten nicht die Grünen, sondern die rechtsbürgerlichen Parteien FDP und SVP besonders profitiert. Die SVP hatte in diesem Jahr ohnehin schon ihr absolutes Rekordergebnis von 29,4 Prozent eingefahren. Auch die FDP konnte zulegen. Wäre die Stimmbeteiligung 100 Prozent gewesen, hätten sowohl die FDP wie die SVP dank der Nichtwähler je noch fast 2 Prozentpunkte stärker werden können. Die SVP hätte damit sogar die 30-Prozent-Marke deutlich geknackt.
Am schlechtesten schneidet bei den Nichtwählern Die Mitte ab. Bei den letzten Wahlen 2019 hätte sie knapp 2 Prozentpunkte weniger erreicht, wenn alle zur Urne gegangen wären. Noch stärker war der Effekt bei den Wahlen 2015.
Die SVP und die Krux mit der Mobilisierung
Wie stark die Daheimgebliebenen über Sieg und Niederlage einer Partei entscheiden, zeigt sich am eindrücklichsten bei der SVP. Den historischen Wahlsieg von 2015 führen Politologen darauf zurück, dass die Partei dank der damaligen Flüchtlingswelle besonders viele Sympathisanten mobilisieren konnte.
Vier Jahre später wars dann genau umgekehrt. Die SVP verlor 3,8 Prozentpunkte. Die Politologen des Instituts Fors schreiben dazu: «Die SVP litt darunter, dass ihre Kernthemen Migration und Asyl bei den Wahlen 2019 praktisch aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwanden.» Die SVP habe in jenem Jahr «von allen grossen Parteien denn auch am meisten Mühe gehabt, ihre Basis zur Wahlteilnahme zu bewegen».
Der typische Nichtwähler ist geschieden
Die Befragungen des Instituts Fors zeigen zudem weitere interessante Befunde: So sind zum Beispiel Verheiratete die viel eifrigeren Wähler als Geschiedene und Alleinstehende. Bei den letzten Wahlen haben bloss 40 Prozent der Geschiedenen und 38 Prozent der Alleinstehenden einen Stimmzettel eingelegt, dafür 50 Prozent der Verheirateten. Wenig überraschend haben Nichtwähler zudem überdurchschnittlich oft eine schlechte Schulbildung und ein tiefes Einkommen.
Welche Rolle die Nichtwähler bei den diesjährigen Wahlen spielen, wird erst nach den Nachwahlbefragungen feststehen. Der Rückblick zeigt: Es sind nicht immer die gleichen Parteien, die am meisten profitieren könnten.
Ein Muster lässt sich allerdings deutlich erkennen: Meist hätten ausgerechnet jene Parteien profitiert, die ohnehin schon zu den Siegern gehörten.
Mehr zu den eidgenössischen Wahlen?
Sie wollen mehr News, Einschätzungen, Porträts und Analysen lesen? Entdecken Sie hier alles zu den Wahlen und den Kandidierenden: zur Übersicht
Fehler gefunden?Jetzt melden.