Bad Boy Nick KyrgiosVom Centre Court Wimbledons direkt in die Psychiatrie
Der Australier enthüllt in der zweiten Staffel von «Break Point», dass er Suizidgedanken hatte. Die Netflix-Serie bietet viel Drama aus Wimbledon und New York.
Ob man Nick Kyrgios mag oder nicht, eines ist klar: Dieser Mann ist die perfekte Besetzung für eine Reality-TV-Sportserie, weil er alle Tiefen und viele Höhen auslotet. Weil er bereit ist, sein Inneres nach aussen zu kehren. Weil er polarisiert wie in der Tennisszene wohl höchstens noch Novak Djokovic. Und weil er in ganz verschiedene Rollen schlüpfen kann: Einmal ist er das bemitleidenswerte Opfer, dann der liebevolle Partner für seine Freundin Costeen Hatzi, manchmal ist er zuvorkommend und witzig, er kann aber auch der Bad Boy sein, der alle beleidigt und provoziert. Ja der sogar seine Freundin tätlich angreift (nicht Hatzi, eine frühere).
Schon in der ersten Staffel von «Break Point», der Netflix-Serie über den Tenniszirkus, war der 28-jährige Australier ein grosses Thema gewesen. Die zweite mit den Folgen sechs bis zehn, die nun erschienen ist, zeigt Kyrgios in Wimbledon, so etwas wie die Geburtsstätte des Tennis und ein Hort von Sitte und Ordnung. Für Kyrgios ist Wimbledon eine Hassliebe. Zum einen ist er fasziniert von der legendären Anlage, zum anderen will er sich nicht in ein Schema pressen lassen. Er sagt: «Ich werde mich diesen Regeln nicht beugen. Ich weiss, ich bin nicht wirklich akzeptiert. Wenn ich Wimbledon gewinne, ist das ein Mittelfinger für alle. Ich will allen den Mund stopfen.»
«Mein ganzer Arm war übersät von Schnitten. Um sie zu verdecken, trug ich eine Armstulpe.»
In Wimbledon erlebte Kyrgios, wie er nun in «Break Point» enthüllt, auch seine schwärzesten Stunden. «2019 war hier der Tiefpunkt meiner Karriere. Der Druck, der auf mir lastete, all die Erwartungen, damit konnte ich nicht umgehen. Ich hasste es, was für ein Mensch ich war. Ich trank, nahm Drogen, ich zerstörte meine Beziehungen, stiess meine Liebsten von mir weg. Mein ganzer Arm war übersät von Schnitten. Um sie zu verdecken, trug ich eine Armstulpe. Ich überlegte mir zu jener Zeit ernsthaft, Selbstmord zu begehen.» Sein Manager Daniel Horsfall erzählt schluchzend: «Er sagte immer wieder, er wolle nicht mehr hier sein.»
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Im All England Club ging 2014 der Stern von Kyrgios auf. Da war er gerade mal 19. Er schlug Rafael Nadal in einem packenden Achtelfinal in vier Sätzen. Fünf Jahre später trafen die beiden an gleicher Stätte wieder aufeinander, in Runde 2. Kyrgios hatte sich die Nacht zuvor im beliebten Pub Dog & Fox um die Ohren geschlagen und zwang den Spanier immerhin über vier Sätze. Doch diesmal verlor er. Am nächsten Morgen sei sein Vater neben ihm am Bett gesessen und habe hemmungslos geweint, erzählt Kyrgios. «Das war für mich ein Weckruf. Ich sagte: Ich kann so nicht weiterfahren. So landete ich in einer Psychiatrie in London, um meine Probleme zu ergründen.»
Vom Centre Court Wimbledons direkt in die Psychiatrie – ein ungewöhnlicher Weg. Offenbar half es. Kyrgios fuhr mit seiner Karriere fort und erlebte 2022 sein bisher bestes Jahr auf der Tour. Auch dank Wimbledon, wo er sich bis in den Final spielte. Auf seinem Weg zu sportlicher Glorie lieferte er sich mit Stefanos Tsitsipas ein Duell, in dem die Sitten zerfielen. Er provozierte den Griechen, bis dieser einen Ball ins Publikum schoss und Glück hatte, dass dieser niemanden traf, zwischen den Köpfen eines älteren Pärchens in der Wand einschlug.
«Ich blühe auf im Chaos», sagt Kyrgios in «Break Point», schelmisch lächelnd. «Ich liebe es, wenn sich mein Gegner mehr auf mich fokussiert als auf sein Tennis. Alles, was ich tat, funktionierte. Ich werde sicher nicht sagen: wunderschön gespielt! So läuft es nicht bei mir.» Tsitsipas verlor völlig die Nerven und bereute das nachher bitter. «Es wurde zu viel für mich. Es war total unreif, wie ich damit umging. So wurde das Ganze leider zu einer albernen Zirkusshow.»
«Es ist eine Seifenoper geworden. Es geht ihnen nicht darum, tiefer in den Sport einzutauchen.»
Im Endspiel gegen Novak Djokovic schaffte es Kyrgios dann nicht mehr, seinen Gegner aus der Reserve zu locken. Der Serbe, der schon ganz andere mentale Aufgaben bewältigt hat, siegte in vier Sätzen und lobte den Australier danach überschwänglich. Die zwei, beide auf ihre Weise Aussenseiter, haben sich seit der Einreisesaga von Djokovic am Australian Open 2022 gefunden. Zwischen Tsitsipas und Kyrgios scheint eine Versöhnung indes kaum denkbar. Zu unterschiedlich sind sie.
Auch der Grieche willigte ein, bei «Break Point» mitzumachen. Was er im Nachhinein bereut. So sagte er nun gegenüber Eurosport: «Ich bin kein grosser Fan der ganzen Produktion. Sie hätten es deutlich besser machen können. Es ist eine Seifenoper geworden. Es geht ihnen nicht darum, tiefer in den Sport einzutauchen und die Widrigkeiten, die Entbehrungen, die Probleme oder den Schmerz zu zeigen. Natürlich gibt es Passagen, in denen das ein bisschen gezeigt wird. Aber diese Dinge hätten viel mehr in den Mittelpunkt gerückt werden sollen.»
Wer zusagt, sich von der Netflix-Crew hinter die Kulissen begleiten zu lassen, kann danach nicht bestimmen, wie das Material verwendet wird. «Sie wollen Drama, sie lieben Drama, also zeigen sie Drama», sagt Tsitsipas. «Wir haben ihnen die Erlaubnis gegeben, sie haben die volle Kontrolle. Und wir werden aus unseren Fehlern lernen, denke ich.»
Die zweite Staffel von «Break Point» bietet aber durchaus spannende Einblicke in die Tenniswelt und bildet die Atmosphäre in Wimbledon und in New York gut ab. Die Macher hatten Glück mit der Auswahl ihrer Charaktere. Der Clash von Kyrgios und Tsitsipas ist grosses Kino. Der charismatische Frances Tiafoe, der die US-Tellerwäscherkarriere verkörpert, stürzt am US Open Rafael Nadal. Die Australierin Ajla Tomljanovic beendet in New York die Karriere der grossen Serena Williams. Dominatorin Iga Swiatek, die permanent mit ihrer Psychologin Daria Abramowicz reist, offenbart, womit sie am meisten zu kämpfen hat.
Ein Aspekt dieses Lebens zwischen Glamour und Absturz wird jedenfalls schön herausgearbeitet: Die Gefahren lauern überall, und nur, wer seine Mitte findet, geht nicht unter.
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