Gastbeitrag zur SicherheitslageWir müssen jetzt in unsere Verteidigung investieren
Das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz hat sich wesentlich und nachhaltig verschlechtert. Ein Gastbeitrag von Bundespräsidentin Viola Amherd.
Die letzten Jahre waren geprägt von Krisen, internationalen Spannungen und bewaffneten Konflikten. Gegenseitige Abhängigkeiten durch Handel, Technologie, Energie und Daten sollten Staaten einander näherbringen. Anstatt dass sie Frieden und die Stabilität stärken, werden diese Abhängigkeiten vermehrt als Waffen eingesetzt. Militärische Gewalt breitet sich aus.
Die Welt ist in einer Phase des Umbruchs. Neue, ambitionierte Akteure fordern eine grössere Rolle bei der Gestaltung von globalen Regeln. Der Wettbewerb zwischen globalen Schwergewichten nimmt zu und wird in indirekten oder direkten Konflikten ausgetragen. Internationale Institutionen wie die UNO sind polarisiert, geschwächt oder sogar blockiert. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat diese Tendenzen beschleunigt. Es handelt sich um den folgenschwersten Umbruch in der sicherheitspolitischen Ordnung Europas seit Jahrzehnten. Die Ungewissheit, wohin das führen wird und ob und wie lange sich die Ukraine erfolgreich wehren kann, destabilisiert den Kontinent.
Die Folgen spürt auch die Schweiz, unabhängig von der geografischen Distanz zu Kriegshandlungen. Das Spektrum reicht von Desinformation zur Beeinflussung demokratischer Entscheidungsprozesse über Cyberangriffe und Wirtschaftsspionage bis hin zu gewalttätigem Extremismus und Terrorismus. Die Konflikte haben auch Folgen für den Handel und die Landesversorgung mit Gütern und Energie. Unsere Gesellschaft ist offen, liberal und zunehmend digitalisiert, unsere kritischen Infrastrukturen sind mit dem Ausland vernetzt. Das alles bietet Angriffsflächen für die hybride Konfliktführung, die verdeckt operiert, militärische und nichtmilitärische Mittel nutzt und die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischt.
Aber es geht auch um Grundsätzliches. In der Ukraine werden unsere Werte verteidigt: das Völkerrecht, das Recht jedes Staats auf territoriale Integrität, Selbstbestimmung und die freie Gestaltung seiner Beziehungen zu internationalen Organisationen – ohne Unterwerfung oder Einflusszonen. Und es geht um unsere eigene Sicherheit, denn wenn Aggression belohnt wird, stehen Stabilität und Sicherheit des ganzen europäischen Kontinents auf dem Spiel.
Die Schweiz setzt sich für die Stärkung der internationalen Stabilität und des Friedens ein. Das Engagement im UNO-Sicherheitsrat, die Organisation einer hochrangigen Konferenz für einen umfassenden, dauerhaften und gerechten Frieden in der Ukraine, die Beiträge für den Wiederaufbau der Ukraine und zu militärischer Friedensförderung werden international anerkannt.
Der Bundesrat will die internationale Zusammenarbeit mit der Nato, der EU und bilateral unter Einhaltung der neutralitätsrechtlichen Pflichten intensivieren. Diese Absicht setzen wir konsequent um. Aber wir müssen auch mehr investieren. Die Schweiz darf nicht zu einer Schwachstelle in Europa werden, die von den Beiträgen anderer profitiert oder für Angriffe auf kritische Infrastrukturen missbraucht wird.
Wir sind erwacht, aber wir müssen auch aufstehen und handeln.
Die Notwendigkeit, mehr in Sicherheit und Verteidigung zu investieren, haben unsere Partner erkannt und mit der Umsetzung begonnen, etwa mit der Stärkung der Reaktionsfähigkeit und Truppenpräsenz im östlichen Nato-Gebiet sowie der europäischen Verteidigung und Rüstungsindustrie. Das Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) für Verteidigung erreicht 2024 voraussichtlich die Hälfte der Nato-Mitglieder.
Auch der Bundesrat will die Verteidigungsfähigkeit stärken, und das Parlament sprach sich für die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf ein Prozent des BIP aus. Der Zeitplan dafür ist umstritten.
Die internationale Nachfrage nach Rüstungsgütern nimmt zu und führt zu längeren Lieferfristen. Dies trifft auch die Schweiz, denn die meisten Systeme und Munitionen beschaffen wir im Ausland. International harmonisierte Beschaffungen sind vorteilhaft. Das bringt Skaleneffekte und Effizienz, aber ändert nichts daran, dass die Nachfrage das Angebot auf absehbare Zeit übersteigt.
Das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz hat sich wesentlich und nachhaltig verschlechtert. Wir sind erwacht, aber wir müssen auch aufstehen und handeln. Wir können es uns nicht leisten, unsere Verteidigung zu vernachlässigen oder anderen zur Last zu fallen. Es braucht nun Prioritätensetzung und ein rasches, entschlossenes und verantwortungsvolles Handeln. Auf dem Spiel steht die Sicherheit der Schweiz und Europas – und somit unsere Zukunft.
Viola Amherd ist seit 2019 Vorsteherin des Verteidigungsdepartements. Dieses Jahr präsidiert sie den Bundesrat.
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