Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Fall von 2012
Der Vierfachmörder von Annecy besass Schusstechnik eines Schweizer Sonderkommandos

Fahrzeuge der französischen Gendarmerie fahren auf der Strasse ’Combe d’Ire’ im französischen Alpendorf Chevaline, wo am 6. September 2012 vier Menschen erschossen aufgefunden wurden. Ein vierjähriges Mädchen überlebte das tödliche Attentat, bei dem ihr Vater, ihre Mutter und ihre Grossmutter starben und ihre ältere Schwester schwer verletzt wurde.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk
In Kürze:
  • Die Ermittlungen zum Vierfachmord in Annecy von 2012 bleiben rätselhaft.
  • Ein Experte vermutet, dass der Täter Technik nutzte, die in der Schweiz gelehrt wird.
  • Der Täter verwendete eine alte Luger-Pistole der Schweizer Armee als Waffe.
  • Der Fall wurde an ein Spezialteam für ungelöste Verbrechen übergeben.

Mehr als zehn Jahre nach dem Vierfachmord in den französischen Alpen nahe der Schweizer Grenze stehen die Ermittler weiterhin vor Rätseln, haben aber ein genaueres Täterprofil erstellt.

Dabei rückt die Schweiz in den Fokus: Waffe und Schusstechnik sprächen dafür, dass der Täter aus der Eidgenossenschaft stamme, schreibt die Zeitung «Le Parisien» unter Berufung auf einen vertraulichen Polizeibericht.

Dazu die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wer kommt als Täter infrage?

Die Polizei tappt noch immer im Dunkeln. Allerdings hält sie nur eine beschränkte Zahl von Personen für fähig, eine solch kaltblütige Tat auszuführen, wie sie am 5. September 2012 in Chevaline bei Annecy begangen wurde: Der Täter hatte drei Mitglieder einer Familie (ein Elternpaar und eine Grossmutter) in ihrem Auto erschossen. Ein zufällig anwesender Velofahrer wurde ebenfalls niedergestreckt. Ein Mädchen wurde angeschossen und mit dem Kolben verletzt.

Der Tatort wurde laut «Le Parisien» im vergangenen Oktober auf einem Militärstützpunkt bei Paris rekonstruiert: Drei Schützen mit unterschiedlichem Ausbildungsstand wurden in die Situation auf dem Parkplatz versetzt, wobei man deren Zeit für die Schussabgabe mass.

Journalisten arbeiten an der Strasse Combe d’Ire im französischen Alpenort Chevaline, wo am 7. September 2012 vier Menschen erschossen wurden. Foto von Philippe Desmazes.

Die Schlussfolgerung: «Die Tat wurde von einer Person mit extremer Nervenstärke und aussergewöhnlicher Waffenkontrolle ausgeführt», so «Le Parisien». In weniger als 90 Sekunden hatte der Täter 21 Schüsse aus einer alten halbautomatischen Pistole abgegeben, die meisten davon trafen Personen. Dies deute nicht zwingend auf einen Scharfschützen hin, schreibt die Zeitung, wohl aber auf eine besondere Schusstechnik.

Was ist das Besondere an den Schüssen?

Einem Experten für Schusstechniken des französischen Heers, der von den Ermittlern beigezogen wurde, fiel die kurze Distanz auf: Alle Opfer erhielten Kopfschüsse aus nächster Nähe. Der Täter feuerte die Kugeln in weniger als 90 Sekunden und war dabei ständig in Bewegung.

Der Experte will hier die Technik des «tir fichant» erkannt haben, heisst es im vertraulichen Bericht – ein Vollstreckungsschuss, der in Frankreich nur gewissen Spezialeinheiten beigebracht wird.

Was hat der «tir fichant» mit der Schweiz zu tun?

Diese Technik wird auch in der Schweiz gelehrt. «Le Parisien» nennt die Dard-Einheit der Waadtländer Polizei als Beispiel.

Zudem hätten zwei private Unternehmen hierzulande Anfang der 2010er-Jahre Kurse dazu angeboten, darunter ein Modul mit dem Namen «Kurs Attentäter». Ausgewählte Armeeangehörige, aber auch Zivilisten konnten daran teilnehmen. «Das ist etwas, das man in der Schweiz lernt, nicht in Frankreich – es sei denn, der Typ gehörte einer Spezialeinheit an», wird der Experte von der Zeitung zitiert.

Nutzte der Täter eine Schweizer Waffe?

Ja, eine Luger P06/29, die in den 1930er- und 1940er-Jahren bei der Schweizer Armee in Gebrauch war. Tausende davon sind heute noch im Umlauf, vor allem als Sammlerobjekte.

Laut dem Schusstechnikexperten spricht die Waffenwahl des Täters gegen einen Auftragsmord, da die alte Pistole nicht sehr zuverlässig sei. Tatsächlich hatte der Täter wohl Probleme: Nach mehrmaligem Nachladen und 21 Schüssen habe die Luger vermutlich geklemmt, mutmassen die Ermittler. Möglicherweise habe der Täter deshalb eines der Kinder mit dem Kolben geschlagen, nachdem er es angeschossen habe. Das andere Kind überlebte unter dem Rock der Mutter.

Cameraleute fotografieren einen Polizeiwagen der französischen Gendarmerie auf der Strasse Combe d’Ire im französischen Alpenort Chevaline am 6. September 2012, wo vier Menschen erschossen wurden. Ein bisher nie dagewesener Vorfall.

Der zitierte Experte tendiert zum Profil eines Schweizers in den 50ern, der eine Ausbildung in der speziellen Schusstechnik erhalten habe und irgendwann wohl «durchgedreht» sei (französisch: «vrillé»). Die Familie und der Velofahrer wären demnach Zufallsopfer. Ein schlüssiges Motiv für die Tat konnte die Polizei bislang nicht erkennen.

Wie geht es weiter?

Der Fall liegt bei einem Spezialteam für ungelöste Verbrechen. Polizeiposten und Gendarmerien sollen verdächtige Waffenfunde melden, auch in der Schweiz werden Waffenkäufe überwacht.

Ein weiteres Verdachtsmoment betrifft einen Dänen, der zur Tatzeit im selben Campingplatz wie die Opferfamilie al-Hilli registriert war. Bereits ein Jahr zuvor campierte ein gleichnamiger Däne in der Nähe eines Tatorts bei Nancy im Nordosten Frankreichs. Dort war ein belgischer Tourist auf Durchreise auf einer Autobahnraststätte mit einem alten Schweizer Karabiner erschossen worden. Die Ermittler haben auch für diese Tat keine Erklärung; sie finden kein schlüssiges Motiv.

Da aber an beiden Tatorten – jenem bei Nancy und jenem bei Annecy – jeweils ein Däne gleichen Namens in der Nähe war, hat die französische Polizei die Überprüfung seiner Identität beantragt. Der Stand der Ermittlungen ist hier gemäss «Le Parisien» unklar.

Gibt es Hinweise auf einen Auftragsmord?

Hinweise darauf verliefen bislang im Sand. Dennoch gibt es für Damien Delseny, den mit dem Fall vertrauten Gerichtsreporter der Pariser Zeitung, «verstörende Faktoren» rund um den Familienvater Saad al-Hilli: Der Engländer mit irakischen Wurzeln arbeitete für ein britisches Unternehmen, das auf Satellitentechnologie spezialisiert ist, und er hatte einen Erbstreit mit seinem Bruder. Seine Frau war zuvor in den USA verheiratet gewesen, ihr Ex-Mann starb in Übersee am Tag des Massakers.

Und: Der erste Zeuge am Tatort in Chevaline war ein Ex-Soldat der britischen Royal Air Force; ein weiterer Engländer wurde Stunden nach der Tat spazierend im Gebiet angetroffen.

All dies nährt den Verdacht, dass das Massaker mit einer Geschäftsbeziehung oder einer Familienfehde zusammenhängen könnte. Die Polizei konnte bislang aber keine solche These erhärten.