Boris Johnson am AbgrundVerbissen kämpft er ums Überleben
Der britische Premierminister will unbeirrt weitermachen – trotz Angriffen aus den eigenen Reihen. Innerhalb von 24 Stunden kehren ihm mehr als 30 Mitglieder der Regierung den Rücken.
Aufgeben mochte Boris Johnson nicht. Das war noch nie seine Sache. Bei der Fragestunde des Premierministers am Mittwochmittag machte er das noch einmal klar. Der Job eines Regierungschefs, der wie er über «ein kolossales Mandat» verfüge, sei es, unbeirrt «weiterzumachen», rief er im Unterhaus aus. Er lasse «nicht locker», versicherte er.
Der Abgeordnete, dem er das zurief, sass freilich nicht auf den Oppositionsbänken, sondern in seinen eigenen Reihen. Der Tory-Hinterbänkler Tim Loughton hatte den Premierminister nämlich gefragt, ob er denn «überhaupt unter irgendwelchen Umständen zurücktreten» würde. Nur wenn es ihm unmöglich wäre, seine Politik noch umzusetzen, antwortete darauf Johnson: Ansonsten gehe es «weiter wie bisher».
Auf der Gegenseite, bei der Labour Party, begrüsste man den Tory-Premier an diesem Mittag zu «seiner vielleicht letzten Fragestunde». Nachdem am Vorabend schon zwei der wichtigsten Kabinettsmitglieder zurückgetreten waren, liefen auch am Mittwoch, diesmal zunächst auf den unteren Regierungsrängen, immer neue Rücktrittsbekundungen ein – selbst während der Fragestunde im Parlament.
Offenbar suchten diesmal «die sinkenden Schiffe vor der Ratte zu fliehen», amüsierte sich Oppositionsführer Sir Keir Starmer. Johnson hieb zurück, so gut es ging. Er warf Starmer Heuchelei vor, spottete über dessen Kehrtwende in Sachen Brexit und bezeichnete Labour als «Partei in der Tasche der Gewerkschaftsbarone». Sich selbst hielt er zugute, «einer halben Million Briten zu Jobs verholfen» zu haben in letzter Zeit. Aber all seine Attacken auf Starmer, all die gewohnte Rhetorik und Bombastik halfen Boris Johnson wenig. Gegen Angriffe aus den eigenen Reihen war er machtlos an diesem Tag. Eine Delegation aus mehreren Ministern wollte Johnson am Abend den Rücktritt nahelegen.
Rücktrittsforderungen aus den eigenen Reihen
Als der frühere Brexit-Minister David Davis den Vorwurf erhob, die Führungskrise in der Partei lähme die Arbeit der Regierung, meinte Johnson dazu nur, er verfolge weiter ein «energiegeladenes Programm» in der Regierungszentrale. Als der Tory-Hinterbänkler Gary Sambrook ihn unverblümt zum Rücktritt aufforderte, gab es bei der Opposition – was sonst absolut nicht üblich ist im House of Commons – spontanen Applaus.
Alex Shelbrook, ein anderer Tory-Abgeordneter, konnte wiederum nicht mehr mit anhören, wie sein Parteichef beteuerte, «einen Plan» zu haben. Er reagierte mit einem Schimpfwort und einer Halsabschneider-Geste, die die politische Gegenseite in Verzückung geraten liess.
Schliesslich meldete sich auch noch Sajid Javid zu Wort, der tags zuvor im Protest gegen Johnson seinen Rücktritt als Gesundheitsminister eingereicht hatte. Javid erklärte, die für ihn enorme Bedeutung von «Ehrlichkeit und Integrität» habe ihm die Weiterarbeit in der Regierung unmöglich gemacht.
Als die Fragestunde endete, berichteten die Medien, dass binnen 24 Stunden 21 Mitglieder der Regierung zurückgetreten seien. Wenige Stunden später waren es schon mehr als 30. Die Chefs der grossen Ressorts – die Innenministerin, die Aussenministerin, der Verteidigungsminister und zwei Dutzend andere Kabinettsmitglieder – hielten aber fürs Erste auf ihren Posten aus.
Bei einem Tässchen Tee wollte er Zweifel zerstreuen
Das mochte selbst für Boris Johnson überraschend gekommen sein. Denn als am Dienstagabend plötzlich Javid und Schatzkanzler Rishi Sunak ihren Rücktritt einreichten, hatte es kurzfristig so ausgesehen, als stünde die ganze Regierung unmittelbar vor dem Kollaps. Stattdessen zog sich das Ganze qualvoll hin. Nach und nach bekundeten immer mehr Tories, sie könnten Johnson nicht länger unterstützen – darunter auch Abgeordnete, die ihm zuletzt noch die Stange gehalten hatten.
Deutlich geworden war die kollektive Abkehr vom früheren Helden der Tories, als die Regierungszentrale versuchte, zaudernde Parlamentarier im «Tea Room» des Unterhauses zusammenzutrommeln, damit Johnson bei einem Tässchen Tee ihre Zweifel zerstreuen könne. Die per Mail Geladenen folgten der Einladung schlicht nicht. Kaum jemand war da.
In einer Blitzumfrage ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Yougov, dass 69 Prozent der britischen Wähler sich nun wirklich den Abgang Johnsons wünschten. Es war, als spielte sich vor aller Augen der Einsturz eines Kartenhauses in Zeitlupe, aber doch unaufhaltsam ab. Selbst die letzten Loyalisten schüttelten die Köpfe, als Johnson an diesem Tag noch einmal mit aller Macht versuchte, die Aufmerksamkeit seiner Partei auf «künftige Schlachten», auf Bemühungen um Wirtschaftsaufschwung und Massnahmen gegen die enorme Krise der steigenden Lebenshaltungskosten, zu lenken. Als er noch einmal seine Verdienste um Brexit und um die rekordfrühen Anti-Covid-Impfungen im vorletzten Winter beschwor.
Bittere Tatsache war, dass sein Minister und Sonderstratege Michael Gove sich an diesem Tag nirgendwo hatte blicken lassen. Gove, spekulierten Beobachter zu diesem Zeitpunkt, bereite womöglich den letzten «Push» in der Regierung vor. Gove war es immerhin gewesen, der beim ersten Anlauf Johnsons auf den Topposten, nach David Camerons Rücktritt im Sommer 2016, Johnsons Ambitionen vereitelt hatte. Und am Mittwochnachmittag hiess es denn auch, Gove sei «nicht glücklich» damit, dass Johnson auf seinem Posten bleibe. Das nahm sich wie ein weiterer Urteilsspruch aus.
In der Fraktion schien derweil alles in Bewegung gekommen zu sein, alles wild durcheinanderzulaufen. Manche der vielen Johnson-Gegner wollten möglichst schnell die parteiinternen Regeln geändert sehen, denen zufolge eigentlich bis nächsten Sommer kein Misstrauensantrag gegen Johnson mehr gestellt werden kann. Andere erklärten, es reiche völlig, wenn sich die Hälfte der Fraktion ohne grössere Formalitäten unverzüglich für die Absetzung des Premierministers ausspreche. Ungläubig verfolgten alle Beteiligten das Chaos um Johnson an diesem Tag in Westminster. «Unsere Partei ist total im Eimer», drückte es ein Abgeordneter aus.
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