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VAR-Tests: Ohne Fleiss kein Video-Beweis

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Die Situation scheint perfekt. Von links zieht der Stürmer der Basler Old Boys in den Strafraum des FC Solothurn. Sein Gegenspieler wählt die riskante Abwehr per Grätsche, es scheint eine Berührung am Fuss zu geben. «Jetzt fallen!», ruft es von der Tribüne. Aber der 15-Jährige ist zu wenig verdorben. Wo viele Profis den Abflug und den Elfmeter gesucht hätten, jagt er einfach weiter dem Ball nach. Chance vorbei.

Natürlich auch für die Old Boys. Aber das ist in dem Moment eher nebensächlich. Vor ­allem wäre so ein Sturz im Sechzehner beste Gelegenheit gewesen, endlich die ganze schöne Technik zu nutzen, die an diesem Wochenende in der Arena in Thun aufgebaut worden ist.

Sechs Kameras sind da, ein TV-Produktionsteam, Mitarbeiter einer Firma, die sich auf Kommunikationsverbindungen ohne Zeitverzögerung spezialisiert hat. Und vor allem: ein kleiner, grauer Bus mit wenig Platz und vielen Bildschirmen, dazu ein weiterer Screen, der am Spielfeldrand steht und wartet.

Ernsthafter Blick in den Monitor: Alain Bieri in der Review Area. Foto: Susanne Keller

Hier könnte der Schiedsrichter Szenen begutachten, die er in Echtzeit auf dem Feld möglicherweise falsch entschieden hat. Könnte. In den drei Stunden, in denen die Medien den Ausbildungstag besuchen, gibt es nicht eine strittige Situation.

Also gibt Schiedsrichter Alain Bieri den Laiendarsteller und presst die Finger ans Ohr. Das wäre das Zeichen, dass er mit dem Videoassistenten diskutiert. Danach schreitet er mit ernsthaftem Blick in die Review Area, wie der Ort heisst, wo der TV an der Seitenlinie steht. ­Hier blickt Bieri konzentriert auf ein Testbild. Die Fotografen sind ­zufrieden, sie haben ihr Bild.

Aber bringt dieser Anlass auch denen etwas, für die er durchgeführt wird? Über das Wochen­ende spielen U-16-Teams an zwei Tagen während zwanzig Stunden pausenlos Kurzmatches à zweimal zwanzig Minuten. Und das, damit an diesem Sonntag ganze sechs Schiedsrichter im Umgang mit dem neuen Videobeweis ausgebildet werden können.

Zehn Stunden Fussball und eine TV-Crew für die Ausbildung von sechs Schiedsrichtern.

Sandro Schärer ist einer von ihnen. Er sitzt in diesem grauen Bus hinter dem Stadion, der ab der kommenden Saison durch ein zentral eingerichtetes Videozentrum in Volketswil abgelöst wird. Vor sich hat er zwei Bildschirme. Auf dem oberen läuft das Spiel aus der Sicht der Haupttribüne. Unten werden ihm gleich vier verschiedene Perspektiven angeboten. Hier läuft das Spiel um drei Sekunden verzögert. Sieht er oben eine verdächtige Szene, kann er im Idealfall sogleich unten prüfen, ob eine vertiefte Untersuchung nötig ist.

Schauplatz auf Rädern: Der graue Bus hinter dem Stadion. Foto: Susanne Keller

Zu Beginn, gibt Schärer zu, da habe er schon mal versehentlich das Spiel unten geschaut anstatt oben: «Aber inzwischen geht das ganz natürlich.» Es sind ja auch schon zwei Drittel der Ausbildung durch. Theorie, Trockenübungen und an diesem Sonntag die letzten 18 von insgesamt 40 Kurzspielen von Junioren. Was noch fehlt, sind 40 Test- oder Nachwuchsspiele über 90 Minuten.

Die Teenager in Thun kicken weiter munter, aber nicht körperbetont oder gar gehässig. Viel Arbeit haben der Videoassistent (VAR) und der Assistent des ­Videoassistenten (AVAR) also nicht. Trotzdem ist beim Blick über ihre Schultern zu spüren, wie hektisch die Arbeit sein kann. Vor allem die Abläufe und die vielen englischen Begriffe müssen sich noch einschleifen.

Englische Verwirrung

Etwa, als Biel mit einem Steilpass über links angreift. Schärer ruft: «Check offside!» Ein «Check» aber bedeutet, dass der Videotechniker im Bus sofort die Wiederholung auf Schärers unterem Schirm zeigen müsste. Und das ist bei einem Offside nicht vorgesehen. Abseitspositionen werden nur überprüft, wenn ihnen ein Tor oder ein Elfmeter folgt.

Schärer hätte einen anderen Befehl geben müssen: «Possible offside.» Danach setzt der Techniker einen Marker. Fällt daraufhin ein Tor, kann er damit sofort an den entscheidenden Moment zurückspringen und die Bilder präsentieren. Endet der Angriff nach der umstrittenen Szene ohne Tor oder Elfmeter, sagt der VAR ­«reset» – und der Marker wird wieder entfernt.

So weit kommt es jetzt gar nicht mehr, weil der Assistent im Stadion die Fahne hebt und der Schiedsrichter abpfeift. Auch das nicht ganz nach Drehbuch. Mit dem Videoassistenten im ­Rücken sind die Spielleiter angewiesen, bei knappen Abseitsentscheidungen eher weiterlaufen zu lassen. Ein allfälliges Tor kann ja neuerdings aberkannt werden. Eine abgepfiffene Grosschance aber ist und bleibt unwiderruflich kaputt.

Noch zu wenig verdorben: Die 15-Jährigen lassen sich nicht so leicht fallen wie die Profis. Foto: Susanne Keller

Spiel um Spiel wird angepfiffen, die Schiedsrichter wechseln vom Feld in den Bus und zurück. Auf der Tribüne fluchen Spielermütter herzlich über Gegentore. Ihre Sprösslinge bleiben wohlgesittet. Noch haben sie von den Unsitten ihrer Vorbilder in den grossen Ligen nichts übernommen. Fast nichts. Als Biel trifft, rennt der Torschütze schnurstracks zur nächstbesten Kamera und brüllt seine Freude in die Linse. Seine Mitspieler folgen, danach kugeln sie sich vor Lachen. Ein Kamerajubel wie die Grossen – wann haben sie dazu wohl je wieder Gelegenheit?

Für die Teenies ist es ein grosser Spass. Für den Schweizerischen Fussballverband ist es ein immenser Aufwand. 1,5 Millionen Franken kostet es, die Schweizer Schiedsrichter und Stadien fit zu machen für den Videobeweis. Gleich viel wird die erste Saison mit Videobeweis kosten. Dann zahlt die Liga.